Nachdem Richard Wagner im Herbst 1848 die Dichtung »Siegfrieds Tod« vollendet hatte, faßte er die Idee, »Jesus von Nazareth« zum Mittelpunkte eines Dramas zu machen; den menschlichen, nicht den symbolischen Christus, wie er sagte; aber darum nicht minder den Gottessohn und Erlöser. Die Idee des Stücks sprechen die vom Dichter Christus auf die Lippen gelegten Worte aus: »Ich erlöse euch von der Sünde, indem ich euch das ewige Gesetz des Geistes verkünde; dieses Gesetz aber ist die Liebe, und was ihr in der Liebe tut, kann nie sündig werden.« Wagner war ein gläubiger Christ. »Zu wissen, daß ein Erlöser einst dagewesen ist, bleibt das höchste Gut des Menschen. Der Weg zur Erlösung geht in den Tod und Christus hat uns das Vorbild gegeben, schön zu sterben, wozu nur ein schönes Leben gehört«, schrieb er nach Vollendung des »Parsifal.[1] Daß sein »Jesus von Nazareth« ein erhabenes, erschütterndes Drama geworden wäre, zeigt der dichterische Entwurf. [2] Doch er gab den Plan wieder auf, wie er überhaupt in jenen Tagen alles aufgab, was ihn mit Hoffnung erfüllt und so über die wahre Lage der Dinge um ihn her getäuscht hatte. Im Vorgefühl der unvermeidlichen Entscheidung, die auch ihn treffen mußte, sobald er seinem Wesen und seinen Gesinnungen treu blieb, floh er jetzt sein Zimmer und wanderte einsam hinaus ins Freie, »um sich im erwachenden Frühling zu sonnen und alle eigensüchtigen Wünsche von sich zu werfen, die ihn noch mit täuschenden Bildern an eine Welt Von Zuständen fesseln konnten, aus der all sein Verlangen mit Ungestüm ihn hinauftrieb.«

So traf ihn der Dresdner Aufstand im Mai 1849, den er mit vielen für den Beginn einer allgemeinen Erhebung in Deutschland hielt. Er beteiligte sich an demselben mit aufreizenden Reden und mußte, steckbrieflich verfolgt, gleich seinem Freund, dem großen Architekten Semper, die Flucht ergreifen. Mit Entschiedenheit kehrte er einer Welt den Rücken, der er seinem Wesen nach längst nicht mehr angehörte. Und er, der Geächtete und Verfolgte, »fühlte sich zum ersten Mal in seinem Leben durch und durch frei, als er der so scheinheilig um Kunst und Kultur besorgten Welt offen zurufen konnte, daß er sie aus tiefstem Grunde des Herzens verachte; er fühlte sich frei, heil und heiter, mochte er auch nicht wissen, wo er den nächsten Tag sich bergen sollte, um des Himmels Luft atmen zu dürfen.« »Ich kam mir wie der Vogel in der Luft vor, der nicht bestimmt sei in einem Sumpfe zu Grunde zu gehen«, heißt es in der Autobiographie. Aus allem Mißgeschick heraus aber entfaltet er sich nun zu voller Größe.

Sein ganzer Reichtum war die Partitur des »Lohengrin«. Sie schützte ihn, da er sie in Leipzig für einige hundert Taler verkaufte, wenigstens vor der ersten Not. Eine gütige Fügung der Vorsehung wollte es indessen, daß, gerade als er flüchtigen Fußes die Heimat verlassen mußte, seine Kunst die langersehnte Heimat im deutschen Vaterlande fand. Auf der Durchreise nach der Schweiz in Weimar verweilend, sah er Franz Liszt eine Probe seines »Tannhäuser« dirigieren und erkannte durch diese Leistung in ihm, der sich als sein treuester Freund bewahren sollte, »sein zweites Ich«. »Was ich fühlte, als ich diese Musik erfand, fühlte er, als er sie aufführte; was ich sagen wollte, als ich sie niederschrieb, sagte er, als er sie ertönen ließ«, bezeugt er selbst. So durfte er leichteren Herzens hinaus in die Fremde wandern – er wußte, daß seiner Kunst daheim ein großherziger Beschützer lebte. Und was ihm selber nicht gelungen, den energischen Bestrebungen Liszts war es vorbehalten: die deutsche, die musikalische Welt erschloß sich allmählich den Werken dieses urdeutschen Meisters, für die alsbald auch die beste und einflußreichste Musikzeitung damaliger Zeit, die von Robert Schumann gegründete und von Franz Brendel fortgeführte »Neue Zeitschrift für Musik« energisch Partei ergriff.

Die ganze Fülle der Liebestaten Liszts für Wagner ist erst durch den Briefwechsel beider, [3], eines der herrlichsten Bücher unserer Literatur, kund geworden. Was den Verbannten, vom klingenden Kunstleben Losgelösten viele Jahre lang allein trug und stützte, ihn mit unermüdlichem, zartestem Opfermut aus äußerer und innerer Bedrängnis rettete, ihm allerwege besonnenen Rat, unerschütterlichen Glauben, tiefinnerstes Verständnis entgegenbrachte und zu neuen Taten ermutigte, war die Freundschaft Liszts, von der Wagner selbst sagt: »Deine Freundschaft ist das wichtigste und bedeutsamste Ereignis meines Lebens.« »Wo hat je ein Künstler, ein Freund für den andern getan, was Du für mich tatest!! Wahrlich, wenn ich an der ganzen Welt verzweifeln möchte, hält mich ein einziger Blick auf Dich wieder hoch, hoch empor, erfüllt mich mit Glauben und Hoffnung. Ich begreife nicht, was ich seit vier Jahren ohne Dich geworden wäre: und was hast Du aus mir gemacht! Es ist hinreißend schön, Dir in diesem Zeitraume von mir aus zuzusehen!«

Wagner hatte sich inzwischen von Weimar und Eisenach aus, wo ihn die Großherzogin Maria Paulowna empfing, nach nur kurzem Aufenthalte in Zürich nach Paris, und da dieses seiner Stimmung wenig zusagte, wieder nach der Schweiz gewandt. In Zürich ließ er sich Anfang Juli 1849 nieder. Bald erwarb er sich in dem Staatsschreiber Sulzer, in Gottfried Keller, Georg Herwegh Freunde. Auch Semper, seinen Dresdner Gesinnungsgenossen, fand er hier wieder. Zu künstlerischer Produktion nicht aufgelegt, vertiefte er sich in philosophische Studien und Systematisierung der Kunsttheorie, und wie vor Jahren während seines ersten Pariser Aufenthaltes, griff er auch jetzt wieder zur Feder des Schriftstellers, um seinem Herzen Luft zu machen. Schon wenige Monate nachdem er ins Exil gegangen, veröffentlichte er eine kleine Schrift: »Die Kunst und die Revolution«, [4], darin er eine Parallele zieht zwischen dem Kunstleben der Griechen und unserm heutigen, und die moderne Kunst, im Zusammenhang mit dem ganzen politisch-sozialen Zustande der modernen Welt, als der Industrie verfallen und zum Handwerk herabgesunken bezeichnet. »Nur die große Menschheitsrevolution«, meint er, »deren Beginn die griechische Tragödie (die Blüte einer konservativen Kunst) einst zertrümmerte, kann auch dies Kunstwerk (das wirkliche Drama, dieses eine unteilbare, größte Kunstwerk des menschlichen Geistes) uns gewinnen; denn nur die Revolution kann aus ihrem tiefsten Grunde das von neuem und schöner, edler, allgemeiner gebären, was sie dem konservativen Geiste einer früheren Periode schöner, aber beschränkter Bildung entriß und verschlang.«

Bereits zu Beginn des nächsten Jahres (1850) ließ Wagner jener ersten Schrift eine umfangreichere: »Das Kunstwerk der Zukunft« [5] folgen, die er dem Philosophen Ludwig Feuerbach [6] widmete. An philosophische und kunsthistorisch-kritische Betrachtungen anknüpfend, gibt der Künstler hier das ihn erfüllende Ideal kund: »das Kunstwerk der Zukunft«, wie er es nennt; denn nicht von der Gegenwart, sondern von einer ferneren Zeit erst hofft er seine Gestaltung. Hier legt er seine eigentliche Theorie, sein künstlerisches Glaubensbekenntnis nieder. Wiederum von der Kunst des alten Griechenlands, von der einstmaligen Vereinigung der Künste im Drama ausgehend, begehrt er eine Wiedergeburt derselben, nur auf höherer Stufe und mit unendlich reicheren Mitteln. Die Einzelkünste – Und zwar ebensowohl die »reinmenschlichen« Kunstarten: Tanzkunst, Tonkunst und Dichtkunst, als die aus der »Nachbildung der Natur hervorgegangenen«: Architektur, Skulptur und Malerei – deren bisherige Entwicklung ihm nur als Durchgangsmoment erscheint, sollen ihr »egoistisches« Sonderleben dahingehen und sich gemeinsam zu höchster, vollkommenster Leistung verbinden. »Das höchste gemeinsame Kunstwerk ist das Drama: nach seiner möglichen Fülle kann es nur vorhanden sein, wenn in ihm jede Kunstart in ihrer höchsten Fülle vorhanden ist. Nur aus gleichem gemeinschaftlichen Drange aller drei Kunstarten kann aber ihre Erlösung in das wahre Kunstwerk, somit dies Kunstwerk selbst ermöglicht werden. Erst wenn der Trotz aller auf ihre Selbständigkeit sich bricht, um in der Liebe zu den andern aufzugehen; erst wenn jede sich selbst nur in der andern zu lieben vermag, erst wenn sie selbst als einzelne Künste aufhören, werden sie alle fähig, das vollendete Kunstwerk zu schaffen. Somit wird das Drama der Zukunft genau dann von selbst dastehen, wenn nicht Schauspiel, nicht Oper, nicht Pantomime mehr zu leben vermögen, wenn der Architekt, der Bildhauer und der Maler ihren höchsten und wahren Beruf darin erkennen, dem Gesamtkunstwerk zu dienen.«

Dies ungefähr der Gedankengang des in poetisch-philosophischem Stile geschriebenen Werkes. Er war zu neu, zu herausfordernd kühn, um nicht noch viel entschiedenerer Opposition zu begegnen, als sie schon Wagner, der kühne Dramatiker und rücksichtslose Harmoniker, hervorrief. Hatte man sich der vollen Erkenntnis seines Reformatorentums auf praktischem Gebiete bisher noch verschließen können – seinen Theorien gegenüber war dies nicht möglich. Mit unerbittlicher Klarheit sprachen seine literarischen Werke seine Ideen und Forderungen aus. In der Natur der Sache gleichwohl lag es, daß das große Publikum der rein ästhetischen Frage ferner blieb, als der praktisch musikalischen. Auf beschränkterem Terrain wurde demnach dieser Kampf ausgefochten. Ein dramatisches Kunstwerk unter Beteiligung aller Schwesterkünste zwar hatte schon Carl Maria von Weber erstrebt. Auch Goethe mochte etwas dem Ähnliches im Sinn haben, als er zu Eckermann sagte: »Da ist Poesie, da ist Malerei, da ist Gesang und Musik, da ist Schauspielkunst, wenn alle diese Reize von Jugend und Schönheit an einem einzigem Abende und zwar auf bedeutender Stufe zusammenwirken, es gibt dann ein Fest, das mit keinem andern zu vergleichen ist.« Und Herder redet von »einem aufzurichtenden Odeum, einem zusammenhängenden lyrischen Gebäude, in welchem mit Umwerfung der ganzen Bude des zerschnittenen und zerfetzten Opernklingklangs Musik, Poesie, Aktion und Dekoration Eins sind.« Das Ideal eines Gesamtkunstwerkes in ausgebildetster Form war indessen eine ureigene Schöpfung Wagnerschen Geistes.

Der vielfach verbreiteten Annahme gegenüber, als glaube er in seinen eigenen bis dahin veröffentlichten Opern dies »Kunstwerk der Zukunft« bereits erreicht zu haben, verwahrt er sich auf das entschiedenste in seinem umfangreichsten schriftstellerischen (1852 erschienenen und 1869 neu aufgelegten) Werke: »Oper und Drama«. [7] Hier arbeitet er auf ein noch bestimmteres Erfassen des durch die zuvorgenannte Schrift erlangten Resultates hin. Er behandelt im ersten Teil »die Oper und das Wesen der Musik«, im zweiten »das Schauspiel und das Wesen der dramatischen Dichtkunst«; im dritten »Dichtkunst und Tonkunst im Drama der Zukunft«. Diesem ernsten kunstwissenschaftlichen, seine Theorie am eingehendsten wiedergebenden Werke schickte er neben einigen kleineren Arbeiten seine »Drei Operndichtungen« (1851) voran, in deren Vorwort, als »Mitteilung an seine Freunde« er uns jene Eingangs erwähnten für sein Verständnis höchstbedeutsamen Aufzeichnungen über sein Leben schenkte, mit denen er »der Aufführung eines neuen Werkes eine Grundlage zu verschaffen« strebte.

Sein Versuch, sich auf Anraten Liszts und anderer Freunde, im Februar 1850 durch einen möglichen Erfolg als Opernkomponist in Paris seine Existenz dauernd zu sichern, scheiterte leider an seiner physischen und psychischen Unfähigkeit, seinen Widerwillen gegen jede Berührung mit dem Pariser Opernwesen zu überwinden. Ein nervöses Leiden befiel ihn bei seiner Ankunft in der Seinestadt und zwang ihn, von jedem für sein Vorhaben nötigen Schritte abzusehen. Der für Paris geplante Entwurf: »Wieland der Schmied« blieb nun unausgeführt. Er bot ihn Liszt an. Über Bordeaux, wohin ihn Frau Jessie Laussot – die nachmalige Gattin des Kulturhistorikers Carl Hillebrand – eingeladen hatte, kehrte Wagner im Juli nach Zürich zurück. Hier ließ er sich seit 1850 mehrere Winter hindurch bereit finden, in den Orchesterkonzerten der »Musikalischen Gesellschaft« einzelne Werke, namentlich Beethovensche Symphonien, sowie im Theater verschiedene Opern zu leiten; auch veranstaltete er bisweilen eigene Konzerte. Die erläuternden Programme zu Beethovens »Eroica« und der »Eoriolan«-Ouvertüre, desgleichen zur »Tannhäuser«- und »Holländer«-Ouvertüre und dem »Lohengrin«-Vorspiel [8] schrieb er für derartige Zwecke. Auch die kleine Schrift »Ein Theater in Zürich« fällt in diese Zeit. Später (1854) nahm er sich auch eines Quartettvereins an, dem er unter anderem Beethovens Cis-moll-Quartett einstudierte.

Neuen Mut und frische Schaffensbegeisterung hatte inzwischen die Kunde in ihm erweckt, daß sein bisher lebendig begraben liegender »Lohengrin« zum ersten Mal unter Liszts Leitung in Szene gehen sollte. Am 28. August 1850, bei Gelegenheit des Herder- und Goethefestes in Weimar, fand die erste Aufführung des Werkes statt, das Liszt als »eine der merkwürdigsten Schöpfungen der Poesie und der Musik der Gegenwart« bezeichnet. War nun der Erfolg zuvörderst auch nicht der erwartete, so legte Liszt, »um dem Verständnisse aufzuhelfen, dem Publikum seine eigene Anschauung und Empfindung von dem Werke in einer Weise dar, die an überzeugender Beredtheit und hinreißender Wirksamkeit ihres gleichen noch nicht gehabt.« Offen und begeistert trat er, der Weltberühmte, anerkannt Geniale, für Wagner in die Schranken – und der Erfolg lohnte ihm. Seine glänzende Schrift [9] in Verbindung mit seinem praktischen Vorgehen in Weimar erregte allgemeines Aufsehen und brach Wagner Bahn. Sie gab gleichzeitig das Signal zur Eröffnung der literarischen Wagner-Bewegung, die bis zu Ende des neunzehnten Jahrhunderts nicht zur Ruhe kam.

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Anmerkungen:

  1. H. v. Wolzogen, »Erinnerungen an Wagner«. Leipzig, Reclam.
  2. Breitkopf & Härtel. 1887. Desgl. Sämtl. Schriften XI. Ebd. auch der Entwurf zu »Die Sieger«.
  3. 2 Bde, Leipzig, Breitkopf & Härtel. 1887. 3. Auflage als erweiterte Volksausgabe in 1 Bd. von E. Kloß herausgegeben 1910.
  4. Sämtl. Schriften. Bd. III.
  5. Sämtl. Schriften. Bd. III.
  6. Die Philosophie Feuerbachs trat für ihn später hinter der Schopenhauers zurück, die ihm 1854 durch Herwegh bekannt wurde. Siehe auch Wagners »Briefe an August Röckel«. Leipzig, Breitkopf & Härtel. 1894. 2. Aufl. 1903.
  7. Sämtl. Schriften. Bd. III und IV.
  8. Sämtl. Schriften. V. Spätere Erläuterungen zu Tristan-, Meistersinger-, Parsifal-Vorspielen Bd. XII
  9. Liszt, Ges. Schriften, Bd. III 2.
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