Unvergleichlich waren die Leistungen des Orchesters unter Führung seines Musterkapellmeisters Richter. Vermöge Tieferlegung und teilweiser Überdeckung des Orchesterpodiums durch eine mächtige Schallwand, wird im Bayreuther Theater eine instrumentale Klangschönheit erzielt, wie sie sich nirgend in gleicher Vollkommenheit wiederfindet, wie sie aber sicherlich allerwärts angestrebt werden würde, hinge der Orchesterbau nicht mit dem gesamten Theaterbau zusammen. [1] Nicht unwesentlich wirkt dabei ohne Zweifel die veränderte Anordnung mit, welche die Instrumente, statt wie gewohnt in kompakte Einzelgruppen, vielmehr in parallellaufenden Linien, und zwar je nach dem Grad ihrer Verwandtschaft und ihres Stärkemaßes, verteilt; so daß die zartklingenden Saiten- und Holzblasinstrumente auf der obersten, dem Publikum zunächst liegenden Stufe, das Blech und die Schlaginstrumente aber zu unterst, nämlich noch unterhalb der Bühne, aufgestellt sind. Die Klangwirkung der 116 Instrumente (allein 32 erste und zweite Geigen, 12 Violen, 12 Celli, 8 Kontrabässe, 8 Harfen usw., auch eigens nach Wagners Angabe konstruierte Kontrabaßtuben und Kontrafagotts, wie zur Verstärkung der Baßthemen sogar ein 16 füßiger Orgelbaß angewandt wurde) war eine ideale, wunderbar einheitliche. Frei und unbeeinträchtigt schwebten die Stimmen der Sänger auch über dem reichsten instrumentalen Untergrund.

Hatte sich das unsichtbare Orchester als eine überaus geniale Eingebung Wagners bewährt, so erwiesen sich auch andere Neuerungen, die er mit seinem Festspiel einführte, als nicht minder glücklich. Der amphitheatralische Aufbau des Zuschauerraums, der, den Begriff einer idealen Einheit verkörpernd, bis zu der ihn im Hintergrunde abschließenden Fürstengalerie hinansteigt und der gewohnten, das Auge zerstreuenden Abwechselung von Logen und Galerien entbehrt; die, an Stelle des üblichen Glockensignals, den Beginn des Spiels vorbereitende Fanfare, die ein Hauptmotiv des aufzuführenden Dramas markiert; die gleichzeitig eintretende Verfinsterung des Zuhörerraums, die alles Licht auf die Bühne konzentriert;, das Hinwegbleiben von Souffleurkasten und Rampenlampen; der sich nach rechts und links teilende, statt nach oben aufrollende Vorhang – alles das dient Wagner als Mittel, den Zuhörer zu isolieren, seine Aufmerksamkeit von allem Äußeren ab-, einzig auf das zu schauende Kunstwerk hinzulenken, das in dem geschlossenen Rahmen eines Bildes vor ihn hintritt. Nicht von ungefähr auch hat er sich eine kleine Landstadt von 19 000 Einwohnern zum Festort erwählt, statt seine Freunde nach einer unserer großen Städte zu berufen, die den Bedürfnissen einer so zahlreichen und glänzenden Versammlung ohne Zweifel Entsprechenderes dargeboten hätte. Allen anderen Zerstreuungen als denen, welche die Natur gewählt, entrückt, sollten seine Festgenossen eine ganz nur seinem Kunstwerk angehörende Gemeinde bilden. Ihm selber war ja der Kunstgenuß gleichsam ein religiöser Akt, und nach seinem eigenen Zeugnis hat er, im Gegensatz zu unserem Dichter, »das Leben immer heiter, die Kunst dagegen immer sehr ernst genommen.« Erbaut und erhoben in Wahrheit durften sich alle fühlen, die Wagners Ladung nach Bayreuth folgten. Wer nicht die Empfindung, Einziges, in seiner Weise Höchstgeartetes erlebt und eine Bereicherung seines inneren Menschen erfahren zu haben, aus jener Festzeit mit sich hinausnahm in das Alltagsleben, hat mindestens nicht Wagner, sondern sich selber allein dafür verantwortlich zu machen. Der ungeheure, bei einem dergestalt auserlesenen Publikum doppelt schwerwiegende Erfolg stellte es hinlänglich außer Zweifel, daß des Meisters Absicht, sein Werk »zu wirklichem Gefühls- (nicht kritischem) Verständnis mitzuteilen«, sich verwirklicht hatte. Sein Ideal sah er erfüllt, indem er zugleich den höchsten Triumph seines Lebens feierte. Weiter gingen nun seine Wünsche dahin, die periodische, womöglich alljährliche Wiederkehr solcher Festspiele zu einer bleibenden Institution zu machen.

Zu dem Ende trug er sich mit dem Plan, eine unter seiner Leitung stehende »Hochschule für musikalisch-dramatische Darstellungen« zu gründen, deren Aufgabe es sein sollte, ihm »nicht nur ein Personal für die Darstellung seiner dramatisch-musikalischen Werke auszubilden, sondern überhaupt Sänger, Musiker und Dirigenten zur richtigen Ausführung ähnlicher Werke wahrhaft deutschen Stils (also keineswegs nur ausschließlich der seinigen, sondern der Instrumental- und Opernwerke aller großen deutschen Meister) verständnisvoll zu befähigen.« Zu schwach jedoch war leider noch immer der Glaube an Wagner, zu spärlich flossen die Mittel des sich auf seine Aufforderung vom 15. September 1877 konstituierenden zweiten Bayreuther Patronatvereins, um die Ausführung dieses großartigen Projektes, eines in seiner Art völlig neuen Nationalinstitutes, das für unser gesamtes Bühnenwesen, ja für die ganze fernere Kunstentwicklung von größter Tragweite zu werden versprach, zu ermöglichen. Aus Mangel an Mitteln kam die Pflanzstätte eines neuen Kunststils nicht zustande. Erst am 10. November 1892 trat die vom Meister angestrebte Stilbildungsschule ins Leben. Der verdiente Julius Kniese ward und blieb bis zu seinem 1905 erfolgenden Tode ihr Leiter. Das Patronat hatte an Verwirklichung der Bayreuther Idee nach Kräften mitgewirkt, aber Bayreuth zu erhalten schien es nicht fähig. Blieb doch überdies von den Aufführungen des Sommers 1876 her noch ein beträchtliches geschäftliches Defizit zu tilgen, um dessentwillen der Meister, nachdem der Versuch, es durch ein großes, in London (März 1877) von ihm geleitetes Festival zu decken, mißglückt war, nicht allein die tätige Hilfe seines königlichen Freundes wiederum in Anspruch zu nehmen, sondern auch die »Nibelungen«, die er Bayreuth ausschließlich vorzubehalten gedachte, an andere Bühnen frei zu geben sich genötigt fand. München, Leipzig und Wien erlebten bereits 1878 und 79 das sensationelle, für unsre gewöhnlichen Theaterverhältnisse für nahezu unmöglich gehaltene Ereignis der Inszenierung der vollständigen Tetralogie. Nach ihrem kühnen Vorgange wagte sich eine Stadt nach der andern an die hohe Aufgabe heran und versuchte, das »Wunderwerk«, das nach Liszts Worten, »unsere ganze Kunstepoche überragt und beherrscht, wie der Montblanc die übrigen Gebirge«, zu bewältigen. Selbst außerhalb ihrer deutschen Heimat, in Rotterdam und New York, begann zunächst die »Walküre« ihren Siegeslauf; dann brachte der kühne Unternehmergeist Angelo Neumanns den vollständigen »Nibelungenring« wie zuvor (1881) nach der deutschen Reichshauptstadt, so auch nach London (1882). Der glänzende Erfolg dieser ersten Versuche forderte zu weiteren auf. Neumann erwarb Dekorationen und Kostüme von Bayreuth und gründete unter Mitwirkung hervorragender Künstler eine Wanderbühne, ein »Wagner-Theater«, um die Tetralogie weithin durch die zivilisierte Welt zu tragen. Das Unglaubliche geschieht. Wagners, laut seinen Worten, »so maßlos anforderungsvolles, vom Gewohnten so merklich abweichendes« Werk, das, zunächst nur dem engeren Kreis seiner Freunde und Gesinnungsgenossen gewidmet, aller Popularität zu widerstreben scheint, findet Anklang, Anerkennung und Begeisterung, wo man es hört. Nicht Deutschland nur, auch Belgien, Holland, die Schweiz, Italien, Österreich, Rußland, Amerika heißen es willkommen auf seinem Triumphzug, der in der Geschichte der Oper nicht seinesgleichen hat. Sogar in Frankreich bringt es die »Walküre« 1893, bringen es nachmals auch ihre Geschwister zu beispiellosen Erfolgen. Voll und ganz ergreift die Gegenwart von dem »Kunstwerk der Zukunft« Besitz.

Mehr und mehr in den Geist desselben hineinwachsend, bereitete sie auch dem letzten großen Werke, das Wagner hienieden vollenden durfte, einen harmonischeren, dankbareren Empfang, als er seinen früheren Gaben gelohnt hatte. Als das größte Tongenie der Neuzeit, nachdem es in seinem Festspielhaus sechs Jahre lang still geblieben war, seine Freunde von nah und fern zum zweiten Male zu Bayreuth festlich um sich versammelte, als das Bühnenweihfestspiel »Parsifal« am 26. Juli 1882, von Levi geleitet, zum erstenmal vor uns lebendig ward, da fiel zum ersten Male in Wagners Leben der volle Erfolg einer seiner Bühnenschöpfungen mit der ersten Aufführung derselben zusammen. Was seit dem »Rienzi« – und auch bei diesem blieb der erste Erfolg auf Dresden beschränkt – keinem seiner Werke beschieden war, dessen durfte er sich wenigstens bei seinem letzten erfreuen: es wurde zugleich gehört und verstanden. Nicht ganz fehlte es auch diesmal an gegnerischen, an mißwollenden Stimmen, aber sie übertönte laut der helle Ruf der Begeisterung, der jetzt fast einmütig über Bayreuth in die Lande drang. Freilich, es war der letzte große Sieg seines Lebens, den der Meister mit diesem dem Stoff nach exzeptionellsten seiner Werke feierte.

Ein »Bühnenweihfestspiel« hat Wagner den »Parsifal« genannt, schon mit dieser Bezeichnung dessen Sonderstellung inmitten seiner eigenen und anderer Bühnentaten andeutend. Nicht eine Oper, auch nicht ein musikalisches Drama, sondern vielmehr ein christliches Mysterium, dessen weihevoller religiöser Charakter es über unsere Profanbühnen, über die Wochenrepertoire unserer Hof- und Stadttheater weit hinaushob, wollte er hier gestalten. Zum mystischen Gralsmythus, den er schon im »Lohengrin« behandelt, griff er, nachdem er im »Nibelungenring« die altgermanische heidnische Sage, den Untergang der heidnischen Götterwelt auf die Bühne geführt hatte, zurück; er wählte Parsifal, den Helden Wolfram von Eschenbachs und dessen französischen Vorgängers Chrétien de Troyes, zum Träger und Mittelpunkt seines letzten Tonvermächtnisses, das in seinem Grundgedanken: der Erlösung durch Mitleid, wie in einzelnen Zügen (namentlich des dritten Aktes), an eine frühere, wieder von ihm aufgegebene Idee: »Jesus von Nazareth«, anklingt und die große Reihe seiner Werke in erhabenster Weise abschließt. Predigen nach Wagners eigenen Worten [2] alle diese Werke vom »fliegenden Holländer« an »die Urwahrheit der Schuld und Erlösung der Menschheit durch die Liebe, die fluch tragende menschliche und die fluch sühnende göttliche Liebe«, so ist im »Parsifal« »das Leiden des Erlösers selbst die erlösende Macht, die Verkörperung gleichsam jenes Ideals, die den Liebesfluch von den Heiligen des Gralstempels nimmt, indem Parsifal zur Erkenntnis des Opferwunders Christi gelangt, im dämonischen Liebeswerben des ›Weibes‹ seine Reinheit durch diese Erkenntnis wahrt, den Todesspeer des Heilandes aus der Gewalt der heidnischen Weltmacht wieder gewinnt und im ›wissenden Mitleiden‹ damit die ewig offene Wunde aus der Liebesschuld des verführten Gralskönigs heilt. Der ›Parsifal‹ sollte anfänglich mit den Worten endigen:

Groß ist der Zauber des Begehrens,
größer ist die Kraft des Entsagens!

Mit so tiefernsten Worten dem Idealen durch die Kunst wieder zugewandt zu werden, scheint ein Hauptbedingnis mit zu sein, um unsere Volksseele ebenso den tiefernsten religiösen Empfindungen wiederum zu öffnen.«

Die Wiedergeburt der antiken klassischen Tragödie im Geist der modernen Kunst, Wagners Endziel und Ideal, für das er sein Lebenlang gekämpft und gerungen, war erreicht, ein neues Olympia hatte er seinem Volk in Bayreuth gegeben – und mit dieser Tat schied er von hinnen.

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Anmerkungen:

  1. Tieferlegung des Orchesters, auch mit beliebiger Stellbarkeit des Orchesterbodens, hat man seit Bayreuth an vielen Theatern eingeführt, wie auch die von Wagner zuerst angewandte Verfinsterung des Zuschauerraums während der Vorstellung – allerdings wohl mehr aus ökonomischen denn aus künstlerischen Gründen – allgemein nachgeahmt wird.
  2. Siehe seinen Artikel über die Grundgedanken seiner Werke »Schles. Volkszeitung« 1878, oder Tapperts Wagner-Broschüre. 1883.
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