Nie hatte sich Wagner bisher mit Politik beschäftigt. Vom rein künstlerischen Standpunkte aus gelangte er zu der Überzeugung, daß eine Revolution notwendig, daß eine Reform der Kunst nicht ohne eine Reform der Gesellschaft möglich sei. »Die Menschheit muß sich, um wieder imstande zu sein, von den Quellen der Schönheit zu trinken, von dem drückenden Joche, unter dem sie seufzt, befreien und eine neue Seele bekommen. Der Mensch ist degeneriert; er muß sich also wieder regenerieren.« »Als Vorkämpfer der Natur, stellt Wagner sich einer raffinierten und verdorbenen Kultur entgegen«. [1]

Als die Revolution im Jahre 1848 wirklich ausbrach, hielt er sich anfangs von jeder Beteiligung an derselben fern. Er arbeitete einen umfassenden Plan zur Reorganisation des Theaters aus, [2] um, sobald die revolutionäre Frage an dieses Institut gelangen würde, gut gerüstet hervortreten zu können. »Es geschah dies jedoch in der Voraussetzung einer friedlichen Lösung der obschwebenden, mehr reformatorischen als revolutionären Fragen, und des ernstlichen Willens von Oben herab, die wirkliche Reform selbst zu bewerkstelligen.« Der Gang der politischen Ereignisse sollte ihn bald eines anderen belehren. Von Unwillen erfüllt über die Unklarheit der streitenden Parteien, trat er selbst in einer Flugschrift gegen die politisch formelle Auffassung der Revolution und für die Notwendigkeit auf, daß der rein menschliche Kern derselben deutlich ins Auge gefaßt werde. Bei einer Versammlung des »Vaterlandsvereins« las er, durch Röckel angefeuert, im Juni 1848 seinen Aufsatz vor. [3] An dem Erfolge dieses Schrittes inzwischen gewahrte er, daß den Politikern das Verständnis seines Standpunktes völlig abging, daß man an die Verwirklichung der Ideale des Künstlers nicht dachte. Enttäuscht kehrte er, »von einem wahren Hagel von Verwünschungen und Verspottungen getroffen«, in seine frühere Einsamkeit zurück. Doch eine neue Enttäuschung harrte seiner: die von der Intendanz schon erfolgte Annahme seines »Lohengrin« wurde plötzlich zurückgezogen, nachdem ihm die Konzertaufführung eines Teils des ersten Aktes der Oper im September eine Niederlage gebracht hatte.

Gleichgültig geworden gegen seine Dresdner Stellung, gab er sich nun ausschließlich wieder dichterischen Entwürfen hin, und wahrend die Welt um ihn in Gärung lag, kam er, sich in sich selbst versenkend, zum vollen Bewußtsein seiner künstlerischen Richtung. Zwei Stoffe bemächtigten sich gleichzeitig seiner Phantasie: »Siegfried«, der Drachentöter, und »Friedrich der Rotbart«.[4] Wie schon zur Zeit, als er seinen »Tannhäuser« schrieb, ihn der Gedanke beschäftigt hatte, Manfred, den Hohenstaufensohn, zum Helden einer beabsichtigten, aber wieder aufgegebenen Oper: »Die Sarazenin« [5] zu machen, so stellten sich ihm auch jetzt noch einmal und zum letzten Male Mythos und Geschichte gegenüber und drängten ihn zur Entscheidung, ob er ein musikalisches Drama oder ein rezitierendes Schauspiel schreiben solle. Seit seiner Rückkehr von Paris war das deutsche Altertum sein Lieblingsstudium gewesen. Sich in den heimatlichen Sagenquell vertiefend, fand er den »jugendlich schönen Menschen in der üppigsten Frische seiner Kraft, als den der Deutsche seinen Siegfried kennt. Gleichzeitig aber auch suchte ei diesen wahren Menschen in der Geschichte; traf jedoch hier nur Verhältnisse, die den Menschen bestimmen, anstatt von ihm bestimmt zu werden.« Friedrich der Rotbart erschien ihm allerdings als eine geschichtliche Wiedergeburt des altheidnischen Siegfried, und in den Tagen der Bewegung mußte es ihm dünken, als ob dieser Stoff dem Verständnis des Volkes näher liege als jener. Schon war der Plan zu einem Drama entworfen, das in fünf Akten Friedrich vom ronkalischen Reichstage bis zum Antritt seines Kreuzzuges darstellen sollte; doch wandte sich der Dichter unbefriedigt wieder von ihm ab. Von der Masse des geschichtlichen Stoffes erdrückt, glaubte er daraus nicht nur das Ungeeignete desselben für das Drama, sondern die Untauglichkeit der Geschichte für die Kunst überhaupt – als mit dem Reichtum äußerer Ereignisse den Menschen nicht zur Erscheinung kommen lassend – folgern zu müssen. Die Konsequenz dieser Ansicht führte ihn endlich weiter zu der Überzeugung, daß das gesprochene Schauspiel, das bisherige reine Literatur-Drama, als eine den Bedürfnissen der Zukunft ungenügende Form verschwinden, an seiner Stelle aber das »musikalische Drama« mit seinem universell menschlichen Gehalt erstehen werde.

Mit dieser neugewonnenen Anschauung – die, Wagners eigenem Bekenntnis zufolge, unter dem Einfluß des Geistes der Musik in ihm entstand – kehrte er nun zu »Siegfried«, zur Sagenwelt zurück. »Und damit«, ruft er aus, »hatte ich eine neue, die entscheidendste Periode meiner künstlerischen und menschlichen Entwicklung angetreten, die Periode des bewußten künstlerischen Wollens auf einer vollkommen neuen, mit unbewußter Notwendigkeit von mir eingeschlagenen Bahn, auf der ich nun als Künstler und Mensch einer neuen Welt entgegenschreite.«

Erscheint auf diese Weise die Wahl des dichterischen Stoffes bei Wagner durch den Musiker in ihm beeinflußt, so wirkt hier wiederum auch der Dichter in ihm auf den musikalischen Ausdruck, und zwar, wie er selbst bezeugt, in einem zweifachen Moment: in der dramatisch-musikalischen Form überhaupt und in der Melodie insbesondere. Indem Wagner den Stoff allein zu dem die Form bestimmenden Faktor erhob, schritt er allmählich in der Gestaltung desselben bis zur Aufhebung der überlieferten Opernform fort. Einzig die gefühlsverständliche Darstellung dieses Stoffes erstrebend, sucht er denselben dramatisch zu gestalten, befreit ihn von den herkömmlichen Zieraten, gliedert ihn, statt wie bisher in einzelne Arien, Duette, Ensembles usw., nur in die natürlich sich ergebenden Abschnitte der Szenen und Akte, die er wiederum in engen Zusammenhang untereinander stellt, und unterwirft mit einem Wort die musikalisch-dramatische Form den allgemeinen dramatischen Gesetzen. Sein Bühnenwerk ist ein in sich geschlossener Organismus, ein Ganzes, im Gegensatz zu dem Vielteiligen der früheren Oper. Soll es sich doch über diese, wie über das rezitierende Drama dadurch erheben, daß es, nach Wagners eigenen Worten, die vorzüglichsten Tendenzen beider »einzig zum Ziele führt und in eine idealisch freie Einheit verbindet«. Die Einführung bestimmter, die verschiedenen Personen und Situationen charakterisierender thematischer Motive wurde bereits erwähnt, und zwar verbreiten sich dieselben nicht (wie früher im einzelnen Operngesangstücke) nur über eine Szene, sondern in eigentümlicher Verbindung und Verzweigung über das ganze Drama, »in innigster Beziehung zur dichterischen Absicht«, dabei zugleich eine formelle Einheit des Ganzen erzielend. Ähnliches hatte schon Carl Maria von Weber versucht, nicht aber eine derartig beziehungsvolle Ausdehnung dieses Verfahrens über das ganze Drama angewandt; wie er ja überhaupt an der gewohnten Gliederung der Oper durchaus festhielt, mochte er immer durch Einführung der sogenannten Szenenform – die, aus der geschlossenen Gestalt der Arie heraustretend, dem Rezitativ vermehrte Freiheit gestattet und auf dem Grenzgebiet zwischen Kantilene und Deklamation ihre Heimat hat – einen Schritt nach vorwärts getan haben, der Wagner zu immer weiteren Konsequenzen führte. Wagner erzählt, wie er auch zu dem erwähnten Motivenprinzip nicht durch Reflexion, sondern durch praktische Erfahrung gelangt sei, indem er in der Ballade der Senta im »fliegenden Holländer« unbewußt den thematischen Keim zur ganzen Musik der Oper niederlegte.

Er bezeichnet uns auch noch den Einfluß seines dichterischen Verfahrens auf die Bildung seiner Themen selbst, auf die Melodie. Er erzählt uns, daß er in seiner Jugend oft nachgedacht habe, wie er es wohl anzufangen hätte, um recht originelle Melodien zu erfinden. Je mehr sich aber sein musikalisches Gestalten auf den dichterischen Stoff bezog, schwand diese Sorge um die Besonderheit derselben. Es war ihm nun nicht mehr um Opernmelodien zu tun, sondern um den entsprechendsten Ausdruck für seinen darzustellenden Gegenstand. Die Melodie an sich sollte nirgends Aufmerksamkeit erregen, sondern nur die in ihr sich aussprechende Empfindung; sie ist bei Wagner nicht Zweck, sondern Mittel. Er läßt sie nicht um ihrer selbst willen, sondern allein aus der gefühlvoll vorgetragenen Rede, »als den in der Dichtung wurzelnden treuesten Ausdruck«, entstehen, und geht damit vollständig von dem üblichen Opernkompositionsverfahren ab. Doch entzog er sich dem Einflüsse dieses letzteren nur allmählich und zwar »ganz in dem Maße, als die im Sprachverse ausgedrückte Empfindung für ihren gesteigerten musikalischen Ausdruck ihn bestimmte«. Wagners Melodie steht in innigster Verwandtschaft mit der Sprache. Sie geht aus dieser hervor und verbindet sich unauflöslich mit ihr. Sie schmiegt sich ihr nach Sinn, Tonfall und Akzenten so selbstlos an, daß man gerade in bezug hierauf gesagt hat, Wagners Musikdrama sei im Grunde mehr ein erweitertes Melodrama, als eine Neugestaltung der Oper; nur daß er statt des gesprochenen Wortes das gesungene, durch bestimmte Töne präzisierte Wort setze. So wird sein Gesang, dem dramatischen Ausdruck zu Liebe, zur idealen Deklamation. Der alte Gegensatz zwischen Rezitativ und Kantilene – welches erstere bisher ausschließlich die Handlung begleitete, während die letztere innerhalb geschlossener Nummern dem Ausleben der Empfindung Raum gewährte – besteht bei ihm nicht mehr. Das musikalische Zuwenig des einen, wie das Zuviel der andern glich er aus. Die geschlossene Form der Arie ist ihm flüssig geworden. Der im alten Stile ausgestalteten Melodie entsagt er demgemäß. An ihrer Stelle gibt er uns die sogenannte »unendliche«. Sein Drama ist ein Strom ununterbrochener, unendlicher Melodie, die teils den Sängern, teils dem Orchester in den Mund gelegt wird. Als ein in sich geschlossenes Ganzes läßt sich seine Melodie, oder irgend ein Einzelstück nur in seltenen Fällen loslösen; hier flutet alles in Einem, und nur in seiner Beziehung zum Gesamtwerk beruht die Schönheit und Bedeutung jedes Einzelnen. Als notwendige Konsequenz seiner dramatischen Prinzipien auch dominiert in seinen nun folgenden Schöpfungen, mit Ausnahme der »Meistersinger« und des »Parsifal«, der Einzelgesang. Nur mit äußerster Enthaltsamkeit verwendet er, so wunderbar er im Orchester die Kunst des Polyphonikers übt, einen vokalen Vollklang; nur wo es sich streng in den Rahmen des Dramas fügt, wo die Situation es nicht allein erlaubt, sondern bedingt, vernehmen wir ein Ensemble, einen Chor. Gleichzeitig mit der melodischen Neubildung erstrebt Wagner eine harmonische charakteristische Belebung des dramatischen Ausdruckes und eine immer bezeichnendere Begleitung des Orchesters, dem er in symphonischer Weise die Ausarbeitung der musikalischen Motive, die kunstvolle Detailmalerei überträgt, die uns das Stimmungsleben der Dichtung bis ins Einzelnste veranschaulicht. Dazu endlich noch eine rhythmische Reform, indem er an Stelle des von ihm als unvollkommen erkannten modernen Reimverses die älteste deutsche dichterische Form: den Stabreim setzt.

»Wagner«, sagt Liszt, »fühlt, und mit Recht, daß er in der dramatischen Musik an dem Entwicklungsmomente angelangt ist, den Gluck und Weber vorbereiteten. Im Besitze unendlich mannigfaltigerer Mittel wie der erste, als denkender und kombinatorischer Kopf bedeutender wie der letzte, Poet und Musiker zugleich, verfügt er noch dazu über die ganze Masse von Hilfsquellen, vermöge welcher der große deklamatorische Stil in seiner höchsten Vollendung sich manifestieren kann. Aller Instrumentaleffekte, Stimmengruppierungen und Dekorationspracht usw. seiner Vorgänger hat er sich bemächtigt und alles dies auf tiefgehende Stoffe verwandt, deren Ausgiebigkeit er vollständig entwickelte. Wir glauben (Liszt schrieb dies vor 60 Jahren!), daß Wagners Werke das typische Monument des musikalischen Dramas unserer Epoche bleiben werden.«

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Anmerkungen:

  1. Vgl. H. Lichtenberger, »R. Wagner, der Dichter und Denker«, übersetzt von F. v. Oppeln-Bronikowski. Dresden u. Leipzig, Reißner. 1899.
  2. Entwurf zur Organisation eines deutschen Nationaltheaters. Sämtl. Schriften, Bd. II.
  3. Bd. XII. Aus der Revolutionszeit.
  4. Sämtl. Schriften XI.
  5. Sämtl. Schriften XI.
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