In Helmina von Chezy, der wanderlustigen Enkelin der Karschin, mit der ihn der schöngeistige Dresdner »Liederkreis« zusammenführte, fand Weber die Dichterin seiner »Euryanthe«. Er wählte unter verschiedenen ihm vorgelegten Stoffen die »Histoire de Gérard de Nevers et de la belle et vertueuse Euryante de Savoye, sa mie«, die schon Boccaccio für eine Novelle, und Shakespeare für »Cymbeline« benutzt hatten, und nahm an der Ausarbeitung des Textes selbst teil. Die vier Hauptgestalten desselben mochten ihn in erster Linie bestechen. In Adolar und Euryanthe fand er verwandte Züge mit dem weichen Max und der träumerischen, ahnungsvollen Agathe aus dem »Freischütz« wieder; das Dämonenpaar Lysiart und Eglantine blickte ihn mit den unheimlichen Augen seines Kaspar an. Leider nur war er nicht imstande, die, trotz seiner Bühnenpraxis, zu spät erkannten Mängel eines Stoffes abzustellen, welcher der dramatischen Behandlung ein für allemal widerstrebte, nachdem er, aus Rücksicht auf die moderne Bühne, seines eigentlichen Angelpunktes beraubt worden war. In der Originalfabel nämlich wird der scheinbare Beweis der Schuld Euryanthes dadurch begründet, daß ihre Hofmeisterin Lysiart Gelegenheit gibt, Euryanthe im Bade zu belauschen und eines Males, das sie in Gestalt eines Veilchens am Körper trägt, ansichtig zu werden. Die ungeschickte Umänderung dieses Motivs in das unverständlich bleibende Geheimnis vom Ring der Emma aber schloß, als Grundfehler des Ganzen, jede befriedigende Lösung der Aufgabe im dramatischen Sinn von vornherein aus. Darum drang Tieck, dessen Rat Weber nachsuchte, unter Hinweis auf »Cymbeline«, auf Beibehaltung der alten Fabel, ohne sich mit dem Tonsetzer einigen zu können. Nicht weniger als elf Male mußte, auf dessen Geheiß und nach unzähligen Verhandlungen, die Chezy den Text umgestalten. Er blieb ein unklares, die Schuld der Euryanthe und ihr unmotiviertes Schweigen im Dunkeln lassendes Machwerk, an das der Komponist seinen Melodiesegen verschwendete.

Neuerdings hat Hermann Stephani es unternommen, »die wesentlichen Teile der Vorgänge äußerlich fester und innerlich begründeter zu verknüpfen«, und seine Bearbeitung ist im Frühjahr 1911 auf dem Dessauer Hoftheater in Szene gegangen. Nach dem Urteil der Kritik erweist sich der dramatische Nerv des Ganzen auch in dieser Gestalt als zu schwach. Jedenfalls wird sie ihre Wirkung noch anderweit zu erproben haben.

Noch bevor Weber die Niederschrift der Musik begann, ging er, nachdem er die Dresdner mit seinem »Freischütz« bekannt gemacht und mit der Einrichtung regelmäßiger Abonnement-Konzerte beschenkt hatte, im Februar 1822 nach Wien, um durch eigene Anschauung das Terrain kennen zu lernen, auf dem seine Oper ins Leben treten sollte. Auf dem Wege dahin dirigierte er in Prag den »Freischütz« und fand in der dortigen Agathe Henriette Sontag, seine künftige Euryanthe. Auch an der blauen Donau herrschten die Italiener, Rossini obenan. Gleichwohl empfing man Weber, nach seinen eignen Worten, »überall wie ein Wundertier«, und als er zum Benefiz der jungen Wilhelmine Schröder – der nachmaligen Schröder-Devrient – den »Freischütz« persönlich leitete, kannte die Begeisterung keine Grenzen. »Mehr Enthusiasmus kann es nicht geben, und ich zittere vor der Zukunft, da es kaum möglich ist, höher zu steigen. Gott allein die Ehre«, verzeichnet er nach der Aufführung in sein Tagebuch, und gegen Freund Lichtenstein äußert er besorgt: »Der verdammte Freischütz wird seiner Schwester Euryanthe schweres Spiel machen.«

Als die Sommerzeit ihn, den Naturfreund, mit den Seinen wie gewöhnlich hinaus aufs Land nach dem ihm vorzugsweise lieben Hosterwitz bei Pillnitz führte, ward das neue Werk mit der As-dur-Arie Adolars am 17. Mai begonnen und darnach rüstig weiter gefördert. Auch die letzte und schwermütigste seiner vier Klaviersonaten, E-moll op. 70, wurde geschaffen und die »Preziosa« zum erstenmal auf die Dresdner Bühne gebracht.

Ein Festspiel, das er im November zur Vermählung des Prinzen Johann, des späteren Königs, schrieb und das bei dessen goldner Hochzeit 1872 wieder hervorgesucht wurde, trug augenscheinlich dem immer zum Geben Bereiten, der während seiner neunjährigen Dresdner Dienstzeit dreizehn Kompositionen größeren Umfangs – Eintagsfliegen-Arbeiten, wie er sie nennt – für Hoffestlichkeiten ausführte, wenig Dank ein. Lakonisch verlautets im Tagebuch am 28. November: »Abends das Festspiel, ging so so, kaltes Publikum.«

Inzwischen erfüllten ihn die sich fort und fort mehrenden Erfolge des »Freischütz«, der binnen achtzehn Monaten die fünfzigste Aufführung in Berlin erlebte, mit wachsender Besorgnis für seine neue Oper. »Glaube mir«, schreibt er seinem Jugendfreund Susann, »ein hoher Beifall lastet wie eine große Schuldforderung auf der Seele des Künstlers, der es redlich meint, und er bezahlt sie nie, wie er wohl möchte. Was die Erfahrung zulegt, nimmt die dahinschwindende Jugendkraft wieder hinweg, und nur der Trost bleibt, daß alles unvollkommen ist, und man tat – was man tun konnte.« »Euryanthe«, sagt er an anderer Stelle, »ist ein einfach ernstes Werk, das nichts als Wahrheit des Ausdrucks, der Leidenschaft und der Charakterzeichnung sucht, und aller der mannigfachen Abwechslung und Anregungsmittel seines Vorgängers entbehrend.« Einen zweiten »Freischütz« aber konnte und wollte er nicht schreiben. Zu stolzerem Fluge begehrte sein Genius sich aufzuschwingen mit einer Tat, die nicht allein eine musikalische Meisterschöpfung sein, sondern zugleich »das Ganze seiner poetischen Bildung, seiner Bühnenpraxis, seines malerischen Geschmackes verlebendigen« und »das Gesamtgebiet der Oper erweitern und auf eine höhere Stufe heben« sollte. »Weber lebte den ›Freischütz‹, die ›Euryanthe‹ arbeitete er«, sagt sein Sohn. Mit anderen Worten: war der »Freischütz« das naive Ergebnis seines Fühlens, so stellt sich die »Euryanthe« als das spekulative Ergebnis seiner Bildung, eines durch Reflexion planvoll geleiteten künstlerischen Willens dar. War das ältere Werk eine Volksoper im besten Sinne, so bezeugte sich das neue vielmehr als eine Kunstoper und konnte von vornherein somit nicht auf die gleiche Allgemeinverständlichkeit zählen. Im »Freischütz« ist Weber spezifisch national: deutschen Wald, deutsche Sitte und deutsche schlichte Häuslichkeit, deutsche Liebe, selbst den deutschen Hang zum Wunderbaren, Dämonischen verherrlicht er hier. Anders in der heroischen Welt der »Euryanthe«, wo die Szene zum mittelalterlichen Königshofe wird, und alles auf das Lokalkolorit des Ritterlichen gestimmt ist. Eine idealere Romantik umgibt uns da im Vergleich zu der realen, zuweilen naturalistischen des »Freischütz«. Alles nimmt größere Dimensionen an, das Ganze gestaltet sich stil- und anspruchsvoller; die Leidenschaften und Konflikte geben sich vertiefter, der Ausdruck gewinnt an dramatischer Wahrheit, die Richtung auf das Charakteristische tritt in den Vordergrund. Die früher knappen, volksliedartigen Formen erweitern sich, die instrumentalen und vokalen Kräfte werden nach ihrem vollen Umfang zur Mitwirkung gezogen; mit realistischer Bestimmtheit folgt die Deklamation dem Text in seine Einzelheiten. Nach Webers Ansicht ist es ja »die erste und heiligste Pflicht des Gesanges, mit der möglichsten Treue wahr in der Deklamation zu sein«. Bot der »Freischütz«, seiner Herkunft aus dem Singspiel gemäß, in seiner Mischung von Dialog und Gesang noch eine Reihe lose verbundener musikalischer Bilder, so verzichtet die deutsche Oper in »Euryanthe« zum erstenmal auf die Zuhilfenahme des gesprochenen Wortes. »Euryanthe ist ein rein dramatischer Versuch, seine Wirkung nur von dem vereinigten Zusammenwirken aller Schwesterkünste hoffend, sicher wirkungslos, ihrer Hilfe beraubt«, schrieb Weber, als der Breslauer akademische Musikverein dieselbe in einem Konzert aufzuführen wünschte. Er spricht damit das Prinzip aus, aus dem das »Kunstwerk der Zukunft« erstand. Das Ideal des musikalischen Dramas, dessen volle Verwirklichung Carl Maria von Weber, zufolge der seinem Genius gesetzten Schranken, vergeblich anstrebte, wurde erst durch Richard Wagner verlebendigt.

Am 29. August 1823 war die neue Oper nach elfmonatiger Arbeit bis auf die Ouvertüre beendet. Um die letzten Vorbereitungen und ersten Aufführungen selbst zu leiten, reiste ihr Urheber Mitte September nach Wien. Leider erwies sich die Zeitlage dem ersten Erscheinen der »Euryanthe« in Wien in eben dem Maße ungünstig, als sie sich dem Erscheinen des »Freischütz« in Berlin einst günstig gezeigt hatte. Die welsche Tonmuse, die sich in Webers Leben allenthalben als eine neidische Macht geltend machte, hatte die Kaiserstadt gerade widerstandsloser denn je in ihre Fesseln genommen, und Rossinis schmeichelnde Melodien, unter Leitung des Maestro von einer Sängergesellschaft vorgetragen, wie sie in gleicher Vollendung wohl niemals wieder auf der Bühne zusammenwirkte, wiegten sie in holden Sinnenrausch.

Erst als die Italiener das Feld geräumt hatten, ging der deutsche Meister an sein Werk. Die Proben erregten die Begeisterung der Mitwirkenden. »So viel ist noch in keiner Oper geweint worden; sie küßten mir die Hände und waren alle außer sich«, berichtet er nach einer derselben in die Heimat. Und ein andermal meint er: »Es sind doch schöne Augenblicke, indem man sieht, daß man das menschliche Herz getroffen hat und ergreift ... Ich selbst habe oft Not, meine Rührung über das eigene Geschreibsel zu verbergen.« Nach der fünfstündigen Generalprobe äußerte er zwar sorglich: »Ich fürchte, aus meiner Euryanthe wird Ennuyante!« doch am 25. Oktober, dem Tag der Aufführung, schreibt er getrost an Caroline: »Ich bau auf Gott und meine Euryanth!«

Die Ouvertüre, seine bedeutendste und glänzendste, beendete er inzwischen. Sie war ursprünglich als ein durchgehender Allegro-Satz geplant. Die auf die Geistererscheinung bezügliche Episode wurde erst in der Absicht aufgenommen, sie, um die unklare Handlung damit zu verdeutlichen, von einem lebenden Bild begleiten zu lassen: Euryanthe kniet betend in der Gruft, am Sarge Emmas, deren Geist vorüberschwebt, während Eglantine das Ganze belauscht. Leider unterblieb dieser »pantomimische Prolog« (dem nach Rellstabs Vorschlag die nun versöhnende Erscheinung Emmas und Udos, der Träger des Ringgeheimnisses, am Schlusse der Oper entsprechen sollte) in Wien. Nur einige wenige Bühnen zogen später, wie Jähns berichtet, von dieser Anordnung Gewinn.

Die mit allgemeiner Spannung erwartete erste Aufführung ließ an Glanz des Erfolgs nichts zu wünschen übrig. Lebhafter Applaus begrüßte den dirigierenden Komponisten und wiederholte sich nach jedem Akt wie am Schluß. Der Jägerchor mußte dreimal wiederholt werden. Die siebzehnjährige Henriette Sontag feierte in der Titelrolle Triumphe; ebenso fand die Grünbaum als Eglantine lauteste Anerkennung. Doch das Entzücken der Wiener verglühte bald, nachdem der Meister die Stadt verlassen hatte. Trotz bedeutender Kürzungen, welche die ungewöhnliche Länge des Werkes nötig machte, verschwand dasselbe nach zwanzig Abenden vom Repertoire.

Die Urteile darüber gingen weit auseinander. Die »Ludlam«, ein Verein von Schriftstellern, Gelehrten und Künstlern, brachte dem Tonsetzer in einem nach Beendigung der ersten Vorstellung eigens veranstalteten Feste Huldigungen dar, die von der tiefen Wirkung seiner Schöpfung zeugten. Im ganzen traten bei dem später entstandenen Meinungskrieg die Gelehrten und Literaten mehr auf Webers, die Musiker von Fach mehr auf seiner Gegner Seite. Selbst ein Genie wie Franz Schubert verirrte sich zu dem Urteil, daß die »Euryanthe« »keine Musik, keine legitime Form und Durchführung enthalte, sondern lediglich auf den Effekt berechnet sei und weit hinter dem ›Freischütz‹ zurückstehe.« Noch schroffer lehnte Grillparzer, der nicht nur ein ganzer Dichter, sondern auch ein halber Musiker war, die »Euryanthe« ab. Er bezeichnet sie nach wiederholtem Hören einfach als »scheußlich«. Dagegen zeigte Beethoven warme Teilnahme an der Oper, deren erster Aufführung beizuwohnen ihn nur seine unglückliche Taubheit verhinderte, und als man ihm von ihrer enthusiastischen Aufnahme berichtete, rief er aus: »Das freut mich, das freut mich! So muß der Deutsche über den italienischen Singsang zu Recht kommen.« Einige Wochen zuvor hatte Weber den großen Meister, der sich seit dem »Freischütz« lebhaft für ihn interessierte, in Baden bei Wien besucht, wobei ihn Beethoven mit den Worten in die Arme schloß: »Da bist Du ja, Du Kerl, Du bist ein Teufelskerl! Grüß dich Gott!« »Wir brachten den Mittag miteinander zu, sehr fröhlich und vergnügt«, schreibt Weber tags darauf (6. Oktober) seiner Frau. »Dieser rauhe zurückstoßende Mensch machte mir ordentlich die Cour, bediente mich bei Tische mit einer Sorgfalt wie seine Dame. Kurz, dieser Tag wird mir immer höchst merkwürdig bleiben, sowie allen, die dabei waren. Es gewährte mir eine eigene Erhebung, mich von diesem großen Geiste mit solcher liebevollen Achtung überschüttet zu sehen.«

Die damalige musikalische Presse läßt die widersprechendsten Auffassungen über die »Euryanthe« vernehmen. Die einen machen ihr Bizarrerie, Mangel an Einheit und Klarheit der Melodie usw. zum Vorwurf, wogegen andere in ihr den »Morgen der neuen dramatischen Musik«, ein Meisterwerk von erhabenerer Größe als selbst »Fidelio« begrüßen. Es blieb lange das Schicksal der vornehmsten Schöpfung Carl Maria von Webers, mehr von einzelnen als von der Allgemeinheit nach ihrem Werte gewürdigt zu werden, und ihm, der der Welt darin sein Bestes, sein »Herzblut« gegeben, hat dies Mißkennen seiner Gabe die schwersten Stunden seines Lebens, ja ein Stück dieses Lebens selber gekostet. Wäre ihm die Voraussicht vergönnt gewesen, daß die Nachwelt »Euryanthe« einst mit gerechterem Maße messen würde, er hätte sich wohl über der Mitwelt kargen Beifall getröstet!

Webers amtliche Obliegenheiten in Dresden hatten sich mittlerweile, zufolge einer ausgedehnten Urlaubsreise Morlacchis und einer längeren Krankheit Schuberts, derart vermehrt, daß man sich genötigt sah, ihm durch Anstellung Heinrich Marschners als Musikdirektor Erleichterung zu schaffen. Indessen verblieb ihm nach Schuberts Tode noch immer ein überfülltes Maß von Arbeitslast. Krankheit und vielfältige Kümmernisse über die Nichterfolge seines Lieblingskindes »Euryanthe« lähmten seinem Geiste die Schwingen, und der sonst nie Rastende hüllte sich fünfzehn Monate lang in Schweigen. Selbst die begeisterte Aufnahme der letztgenannten Oper in Dresden im März 1824, mit der Schröder-Devrient in der Titelrolle, sowie die Ehren, die man ihm als Dirigenten des musikalischen Teils des Klopstockfestes in Quedlinburg im Juli 1824 bereitete, vermochten nicht die Wolken über seinem Haupte zu lichten. »Ich hätte nicht geglaubt, daß ich einen solchen Ekel gegen alle Arbeit bekommen könnte; es kommt mir vor, als hätte ich nie was komponiert«, schreibt er im Sommer aus Marienbad. Zwar empfing er nach seiner Rückkehr von dort durch die fast gleichzeitig eintreffenden Anträge, für Paris und London Opern zu schreiben, neue Anregung zum Schaffen; doch erst der Beginn des Jahres 1825 zeigt nach langer Ruhezeit die ersten Früchte, die sein Genius ihm wieder gewährte. Das Pariser Anerbieten hatte er abgelehnt, den glänzenden Bedingungen des Impresario des Londoner Coventgarden-Theaters, Kemble, den Vorzug gebend. Die ihm freigelassene Wahl zwischen »Faust« und »Oberon« entschied er, da er Spohr mit ersterem Stoff beschäftigt wußte, für den letzteren, und am 30. Dezember 1824 war der erste Akt des Textbuches – eines bunten Flickwerkes des englischen Dichters Planché, das teils bei Wielands »Oberon«, teils bei Shakespeares »Sommernachtstraum« und »Sturm« auf Anleihe ausgeht – in seinen Händen. Am 23. Januar 1825 wurden, dem Tagebuch zufolge, die ersten Ideen zu »Oberon« gefaßt. Die Komposition ward nun, und zwar in englischer Sprache, die Weber zu diesem Behufe erst erlernen mußte, in Angriff genommen, und in schneller Aufeinanderfolge entstanden einige der bedeutendsten Nummern. Dann trat in der Arbeit eine halbjährige Pause ein.

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