Wenn wir bei Betrachtung der Entwicklung verweilen, die sich auf dem Gebiet der Tonkunst im Verlauf der ersten Jahrzehnte des neunzehnten Jahrhunderts vollzogen hat, so begegnen wir auf der Grenzscheide der zwei großen Epochen, da, wo der in seiner höchsten Blüte ersterbende Klassizismus und die aufblühende Romantik sich berühren, dem Namen Carl Maria von Webers. Er steht in Wahrheit inmitten derselben; nach beiden Seiten hin hat er die Gaben seines Genius ausgestreut, und gleichwohl erscheint es als eine müßige Frage, nach welcher Richtung hin er sein Bestes und Unsterblichstes geleistet. Die Wurzeln seiner künstlerischen Individualität haften in der klassischen Zeit, die reifsten Blüten und Früchte derselben aber treiben hinüber in das junge Reich der Romantik, wo es in jenen Tagen gar frühlingslustig zu knospen und zu keimen begann. So bietet uns Weber das eigentümliche Bild einer Doppelerscheinung dar, wie sie gegensätzlicher kaum gedacht werden kann. Und darum, während er sich einerseits darauf beschränkte, alte gegebene Formen mehr äußerlich als innerlich auszubauen, andrerseits aber völlig neugestaltend wirkte, sehen wir sich an ihm die Konsequenz vollziehen, daß jene ersten seiner Werke mit geringen Ausnahmen als veraltet betrachtet werden, diesen anderen dagegen noch heute, nach fast hundert Jahren eine Jugendfrische innewohnt, deren Zauber nichts von seinen ersten Reizen verloren hat. Was Weber außerhalb der Bühne geleistet, liegt inmitten der Grenzen der Zeit, in der es geschaffen ward. Uns moderne Menschen zieht nur mehr ein historisches Interesse zu jenen Schöpfungen hin. Wir täuschen uns nicht über das altmodisch Gewordene einer Brillanz, die in ihrer Jugend verführerisch wirkte, und über die Vergänglichkeit dessen, dem die Tiefe des Gedankens nicht den Stempel des Ewigen aufdrückte.

Weber hat etwas von einer Mozart-Natur. Die Frische und Naivität der Empfindung, die Grazie des Ausdrucks, der Reichtum an Phantasie, die Melodienfülle gemahnen an jenen, auch wenn sich in die erste mehr Sentimentalität, in die zweite mehr Breite der Phrase mischt. Die Technik erscheint durch ihn entwickelter, die Harmonik um neue Klangwirkungen und vornehmlich um jene eigentümliche Figurierung und Ornamentik bereichert, die den Kompositionen Webers eine gewisse Familienähnlichkeit verleiht und die später so vielfältige Nachahmung gefunden hat. Über den Gedankeninhalt von Mozarts Schaffen freilich kommt Weber niemals hinaus, ja er bleibt meist wesentlich hinter demselben zurück, und noch viel weniger dürfen wir Beethovensche Gedanken- und Gefühlstiefe bei ihm suchen, dessen Muse sich mehr den Sonnen- als den Nachtseiten des inneren Lebens zuneigte. Dessenungeachtet bringt er eine eigenartige, von ihm allein beherrschte Welt zur Erscheinung, sobald sein Genius die Schwingen ausbreitet und sich großer dramatischer Formen bemächtigt. Hier tritt er uns mit dem ganzen Zauber seiner Natur, mit der ganzen Ursprünglichkeit und Liebesfülle seines Gemüts entgegen. Hier erschließt er uns das Geheimnis seines innersten Wesens, und da, wo er ganz er selber ist, gestaltet er aus sich heraus Neues, Großes, Selbständiges.

Weber war das Glück gegeben, groß zu werden in einer großen Zeit. Da unser Vaterland nach glorreicher Selbstbefreiung aus erniedrigender Fremdherrschaft seine nationale Auferstehung feierte, da ein Geistesfrühling ohne gleichen erblühte und Künste und Wissenschaften zu neuem Leben erwachten, fiel auch in Webers Seele der zündende Funke, da sang er mit heller Stimme seine Lieder für Freiheit und Vaterland und sang sich zuerst in das Herz seines Volkes hinein. Und ein deutsches Kunstbewußtsein weckte er wieder in diesem Herzen und machte ihm die deutsche Tonmuse wieder lieb, die eine fremde Kunst verdrängen wollte aus deutschen Landen.

Weber lebte nicht nur in seiner Zeit, er lebte auch mit ihr im engsten Zusammenhange. Wie es die Zeit der Romantik war, so war auch er seiner innersten Natur nach Romantiker. Was die romantische Schule in der Poesie kennzeichnet: das Streben nach erweiterten Kunstzielen, nach engerer Verbindung zwischen Kunst und Leben, die Vorliebe für das Volkslied, der rege Anteil an fremdländischer Kunst und Kultur, das charakterisiert auch Weber. Selbst sein Leben gestaltet sich romantisch genug, wenn er als fahrender Spielmann und Sänger durch die Lande zieht, bevor die Bühne ihn fesselt und sich ihm die Erkenntnis seines eigentlichen Berufs als Dramatiker erschließt. Heißes Bühnenblut pulsiert schon als Erbeigentum in seinen Adern. Schafft er doch, durch und durch dramatisch veranlagt, selbst aus Lied und Instrumentalkomposition – »Reigen«, »Bettlerlied«, »Aufforderung zum Tanz«, »Konzertstück« beweisen es – gern ein Situationsbild, eine dramatische Szene. Was Wunder, wenn er auf dramatischem Gebiet sein Unsterblichstes gab? Was Carl Maria von Weber im Bereich des musikalischen Dramas vollbracht, bezeichnet nicht nur den Höhepunkt seiner künstlerischen Wirksamkeit, sondern den Inbegriff der Bedeutung, die sich an seinen Namen knüpft. Er trägt die Romantik in die Oper und wird so der Schöpfer der romantischen Oper. Aus Sage und Märchen wählt er sich seine Stoffe und belebt sie mit dem Zauber einer Musik, die der Natur selber abgelauscht scheint und in der sich Schönheit, Wahrheit und Reinheit zu unauflöslichem Einklang verbinden. Was wir musikalisches Lokalkolorit nennen, haben wir, von einem Versuche Glucks in »Paris und Helena« abgesehen, erst von Weber gelernt, der, einer der genialsten Koloristen seiner Kunst, die verschiedenen Völker und Zeiten zuerst in Tönen zu charakterisieren wußte. Mit der gleichen Plastik und Farbenlebendigkeit führt er uns im »Freischütz« deutsches Natur- und Volksleben, in »Preziosa« spanische Zigeunerromantik, in »Euryanthe« französisches Rittertum, in »Oberon« des Orientes Märchenwelt vor Augen. Nationalthemen, wie man sie längst mit Vorliebe verwendet, hat Weber zuerst eingeführt, und für die Wahl charakteristischer Tonmittel ist sein erfinderisches Genie vorbildlich geworden. Das neuere Opernorchester ist seine Schöpfung.

Bewußt reformatorisch griff er in die Entwicklung der deutschen Oper ein. In höherem Grade selbst als seinen Vorgängern, den größeren und universelleren Tongenien Mozart und Beethoven, ging ihm die Erkenntnis dessen auf, daß der Lebensnerv des musikalischen Dramas das Dramatische sei, daß die Träger des Dramas Charaktere sein, daß zwischen Wort und Ton ein innerster Zusammenhang stattfinden, daß sie ineinander aufgehen müssen zur Erzeugung eines wahrhaft dramatischen Kunstgebildes. Als Ideal schwebt ihm ein einheitlicher dramatischer Stil in der Oper vor. »Ein in sich abgeschlossenes Kunstwerk, wo alle Teile und Beiträge der verwandten und benutzten Künste ineinanderschmelzend verschwinden und auf gewisse Weise untergehend eine neue Welt bilden,« – dahin formuliert er seine Forderung an die Oper, »wie sie der Deutsche will«, und wie sie in ihren letzten Konsequenzen im musikalischen Drama Richard Wagners verwirklicht erscheint. Zu ihm, unserm größten musikalischen Dramatiker, desgleichen zu Marschner und Mendelssohn, selbst in gewisser Beziehung zu Meyerbeer führt der Weg über Weber, der vielen vorangeleuchtet und auf die moderne Entwicklung der Musik weittragenden Einfluß geübt hat. Und Eins noch fällt bei Schätzung Webers ins Gewicht: daß er der Erste gewesen, dem unser Volk das Geschenk einer wahrhaft nationalen Oper dankt. Die Bühnenwerke seiner großen Vorgänger Gluck, Mozart und Beethoven sind mehr klassisches Gemeingut, als spezifisch nationale Schöpfungen, weniger das Ergebnis eines besonderen, als vielmehr eines allgemeinen klassischen Kunstideals, an dessen Ausbildung unsern Nachbarn im Süden und Westen nicht minderer Anteil als uns selber gebührt. Die Gunst Frankreichs hat Glucks, der Einfluß Italiens Mozarts Meisterschaft gereift und in ihre Bahnen geleitet. Aber selbst des urdeutschen Beethoven herrlicher »Fidelio« spricht mehr in allgemein menschlicher als spezifisch deutscher Sprache zu uns. Die Region des Ideals ist seine Heimat, sein Wesen so hoch und tief geartet, daß, ob wir ihn auch als höchste Zier unsrer heimischen Gesangsbühne betrachten, der schlichte Sinn des Volks ihm gleichwohl in ehrerbietiger Ferne gegenüber steht und seine ganze Größe mehr ahnt, als zu begreifen imstande ist. Anders bei Weber. Sein Kunstwerk, mag er auch ab und zu ins bunte Traumreich der Phantasie entfliehen, haftet am Boden der Wirklichkeit. Er greift hinein ins volle Menschenleben. Der schlichten Alltagswelt entnimmt er seine Gestalten, nicht Idealgebilde, sondern leibhaftige Menschen, wie sie rings um ihn atmen, Kinder echt deutschen Gemüts und Geblüts. Das ists, was ihm die Liebe seines Volkes dauernd zum Preis gewann. Von allen Opernkomponisten steht keiner dem Volksherzen näher als der Sänger des »Freischütz«, der seine Weisen direkt aus der deutschen Volksseele schöpfte und die eigensten Laute seiner Nation sang.

Nichtsdestoweniger sind auch Carl Maria von Weber, gleich vielen seiner Kunstgenossen, die trüben Erfahrungen nicht erspart geblieben, von denen das Neuerstehende im Reiche der Kunst zumeist begleitet zu sein pflegt. Er gehörte nicht zu den bevorzugten Naturen, denen ein freundliches Geschick die Pfade ebnet zu gefahrloser Wanderung. Durch Berg und Tal, über Klippen und rauhes Gestein hat ihn der Weg seines Lebens geführt, und als er endlich nach mühevoller Pilgerschaft den Gipfel der Höhe erklommen, als sich seinen Augen der Blick in eine verheißungsreiche Zukunft auftat, da schlossen sie sich müde zum ewigen Schlummer, und die rastlos strebende Künstlerseele war am Ende alles irdischen Kampfes.

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