In Weimar organisierte Liszt im Mai 1870 das Beethovenfest, bei welcher Gelegenheit er eine neu komponierte Beethoven-Kantate zu Gehör brachte, um im Dezember desselben Jahres auch die Beethoven-Säkularfeier in Pest zu leiten. Nur bei besonderen Anlässen gestattete er sich ja jetzt noch die öffentliche Ausübung seiner Kunst, sei es am Klavier oder mit dem Taktstock in der Hand. Seine Situation war eben mittlerweile eine andere geworden. Die Wege, die ihm sonst zur Aufführung seiner Werke offen gestanden hatten, verschloß ihm jetzt das priesterliche Kleid, das er trug. Man vernahm von seinen Lippen kein Wort der Klage; doch wird ihm dies Verzichten nicht leicht geworden sein. Bedurften doch gerade seine Kompositionen mehr als die anderer öfteren Gehörtwerdens, sollte sich ihnen das Verständnis des Publikums eröffnen. Es gehört zur Tragik in Liszts Leben, daß er, der in beispielloser Uneigennützigkeit zeitlebens für andere wirkte, der für die neuere Kunst und ihre Vertreter ebenso tatkräftig als erfolgreich eintrat, sein eignes Schaffen – »das am Ende unser Herzensblut sein muß« – nicht nur mit Kälte und Feindseligkeit aufgenommen, sondern sich schließlich sogar der Mittel beraubt sah, sie zur Geltung zu bringen. Mit der edlen Resignation einer von Grund aus hochgearteten Seele ließ er alle Schmähungen über sich und seine Werke ergehen; ja er riet selbst seinen Freunden ab, sich mit dem »Wagnis« ihrer Aufführung zu befassen. Aber so bescheiden er auch von seinem großen Lebens- und Tagewerk dachte – er glaubte und hoffte doch, daß seine Stunde einst kommen werde. Und sein Glaube hat ihn nicht getrogen. –

Weiterhin um künstlerischer Zwecke willen nebenbei noch vielfach reisend, auch seine Tochter und Wagner häufig in Bayreuth aufsuchend, teilte er seinen Aufenthalt alljährlich zwischen Weimar, Rom und Budapest. Sein ihm am letzteren Orte 1875 übertragenes Amt als Präsident der ungarischen Landes-Musikakademie trat er im Februar 1876 offiziell an, nachdem er am 18. November 1873 dort sein fünfzigjähriges Künstlerjubiläum festlich begangen hatte. Wo immer er auch weilte, überall umdrängten ihn, der unbeschränkte Gastfreundschaft übte, Freunde und Verehrer, Scharen Kunstbeflissener, die von ihm zu lernen begehrten. Noch bis in seine allerletzte Lebenszeit widmete er mehrere Tage der Woche dem Unterricht, mit dem er seinen zahlreichen Schülern ausnahmslos ein Geschenk machte. Es ist wahr, nicht alle, die sich um dies großmütige Geschenk bewarben, erwiesen sich der Ehre gewachsen, Liszts Schüler zu sein. Aber er war zu grundgütig, um denen zu wehren, die sich an seinem Genie zu sonnen kamen, damit ein Widerschein seines Lichts ihr eignes kleines Ich vergolde. Er wäre nicht Liszt gewesen, hätte er anders gedacht und getan. Unablässig wirkte er zu Nutz und Frommen der Kunst und Künstler. Unzähligen bahnte er den Weg in die Öffentlichkeit, allen künstlerischen Bestrebungen zeigte er ein offnes Herz und offne Hände. Er war der Begründer des »Allgemeinen deutschen Musikvereins«, blieb auch bei dessen alljährlichen Tonkünstlerversammlungen stets der stärkste Magnet. Seine herrlichen Briefe, die den großen Künstler und Menschen aufs schönste widerspiegeln, bezeugen, wie er die Aufgaben und Angelegenheiten des Vereins auf der Seele trug. Das Bayreuther Unternehmen förderte er von Anbeginn bis in seine letzten Tage. Für wie viele humanitäre Zwecke aber setzte er von je seine Künstlerschaft ein! Der Wahlspruch seines Schutzheiligen Franz von Paula: »Caritas« war auch der seine, treulich hat er ihm nachgelebt. Seine Wohltätigkeit kannte keine Grenzen. Ohne für sich und sein Alter genügend gesorgt zu haben, gab er, wo es fremde Not zu lindern galt, mit voller Hand. Für sich selbst war er bedürfnislos und schlicht. »Ohne jeglichen Prunk, so einfach und sparsam als möglich« auch wollte er einst begraben sein. Aber er sah – eine seltene Ehrung hienieden! – sich doch schon bei Lebzeiten ein Denkmal gesetzt, das ihm der Kardinal Hohenlohe zu Schillingsfürst, dem Stammsitz seines Geschlechts in Bayern, im Juli 1884 errichtete. Nach seinem Tode war Ödenburg der erste Ort, der den großen Mann mit einem Monument feierte, das, eine von Tilgner modellierte Büste darstellend, am 3. September 1893 enthüllt wurde. In mächtigen Stein- und Erzgebilden verewigte nachmals Budapest Gestalt und Züge des größten ungarischen Tonmeisters am Haupteingang des königlichen Opernhauses, sowie über dem Portal der Landes-Musikakademie. Weimar stellte inmitten des klassischen Parks sein marmornes Standbild auf, das während einer imposanten mehrtägigen Feier am 31. Mai 1902 eingeweiht wurde. Weiter widmete in Stuttgart die Dankbarkeit seiner Schülerin Johanna Klinckerfuß-Schulz, in Preßburg die Pietät seines Freundes Johann Batka dem Vielgeliebten ein Denkmal. Auch in seinem Geburtsort Raiding plant man, ein solches in einer neu zu erbauenden Kirche zu errichten, die an Stelle der baufällig gewordenen treten soll, in der er als Kind gebetet. Angesichts des hundertsten Geburtstags des Meisters hat man ferner, wie erwähnt, die schlichte Wohnung, die ihn geboren werden sah, in ein Liszt-Museum umgewandelt, das allerlei historisch interessante Reliquien birgt. So ist man bemüht, die Erinnerung an eins der größten musikalischen Genies der Neuzeit lebendig zu erhalten.

Machte Liszt schon während seiner Virtuosenlaufbahn seinen Genius unvergleichlich mehr dem Vorteil anderer als seinem eigenen dienstbar – denn von den Millionen, die er erspielte, erübrigte er für sich selbst nur auf Mahnung seines Vetters eine bescheidene Summe, während er allein für den Ausbau des Kölner Doms, das Bonner Beethoven-Denkmal, dessen Kosten er zum vollen Drittteil deckte, die Hamburger Abgebrannten viele Tausende mit fürstlicher Freigebigkeit spendete – so war seit seiner Niederlassung in Weimar seine öffentliche künstlerische Tätigkeit ausschließlich dem Besten anderer, sei es künstlerischen oder mildtätigen Zwecken geweiht. Wie oft, noch bis in das Jahr 1882 hinein, erschien er, dank seiner unerschöpflichen Güte und Nächstenliebe, öffentlich an dem Instrument, das er wie kein anderer zu beseelen und zu beflügeln verstand! Und doch floß seit Ende 1847 weder durch Klavierspielen und Dirigieren, noch durch Unterrichten ein Heller in seine eigene Tasche. Dies alles, was andern reiche Kapitalien und Zinsen eintrug, kostete ihm selbst nur Opfer an Zeit und Geld.

Dem Wahlspruch seiner Jugend »Génie oblige« lebte der edle Menschenfreund nach bis in sein Alter, das, zufolge der wunderbaren Spannkraft seines Geistes und Körpers, lange nur einer verlängerten Jugend glich. Auch als es sich endlich gebieterischer geltend machte, änderte er nichts an seinen Lebensgewohnheiten, wollte er von Ruhe und Schonung nichts hören. Die Vorboten der tückischen Krankheit, die Beethoven hinweggerafft, tauchten drohend auf, sein Augenlicht begann sich zu trüben; doch mit dem Gleichmut einer großen, durch nichts zu beugenden Seele sah er seiner völligen Erblindung und einer bevorstehenden Staaroperation entgegen.

Nachdem er den größten Teil des Winters 1885 – 86, wie zumeist, in Rom, die letzten Monate desselben in Budapest zugebracht hatte, verweilte er im März einige Tage in Wien, wo er noch bei dem Komponisten Adalbert von Goldschmidt vor geladenem Kreise spielte, und trat sodann, wie er lächelnd sagte, »seine letzte Kunstreise« an. In Lüttich, Brüssel, Paris, London, wo man seine Graner Messe, die »Elisabeth« und andere seiner Werke zur Aufführung brachte, feierte man ihn mit königlichen Ehren. Die Größten drängten sich in seine Nähe. Alle ersinnlichen Auszeichnungen häufte man auf den Greis mit dem »Jupiterprofil« und dem wallenden Silberhaar, der sich schon als Jüngling die Welt eroberte. An Huldigungen von je gewöhnt, ertrug er ihre Überlast, die den Jüngsten zu Boden gedrückt hätte, leicht, als fühle er sie kaum. Doch verschob er eine Reise nach St. Petersburg, die zufolge einer Einladung des Großfürsten Konstantin auf seinem Programm stand, bis zum Herbst. Im Mai war er wieder in Weimar und schenkte der Tonkünstlerversammlung des »Allgemeinen deutschen Musikvereins« in Sondershausen zum letzten Male seine Gegenwart. Am 30. Juni verließ er sein »Ilm-Athen«, um die Hochzeit seiner Enkelin Daniela von Bülow in Bayreuth feiern zu helfen. Zu Beginn der Festspiele kehrte er sodann, nach einem Besuch bei dem ihm befreundeten Munkacsy in Kolpach im Luxemburgschen, dahin zurück; doch krank kam er wieder. Noch gehorchte der ermattete Körper seiner unerbittlichen Willenskraft: er wohnte der ersten Vorstellung des »Parsifal« und der des »Tristan«, trotz ärztlichen Widerspruchs, bei, wiewohl er sich, da seine Füße den Dienst versagten, zur letzteren die Treppe hinauftragen lassen mußte. Einer ausbrechenden Lungenentzündung aber vermochte auch sein felsenfester Wille nicht mehr Widerstand zu leisten, und in der letzten Stunde des 31. Juli 1886 stand dies große edle Herz für immer still.

Inmitten der widerspruchsvollen Klänge des Festjubels, der bei Anwesenheit des deutschen Kronprinzen die Festspielstadt durchdrang, hat man den hohen Meister am 3. August zu Grabe getragen. In der grünen Stille des Bayreuther Friedhofs ruht er nun, indes seine Werke erst recht zu leben beginnen.

Die Freundin aber, die er zur Universalerbin und Vollstreckerin seines letzten Willens bestimmt hatte, überlebte ihn nicht lange. Sieben Monate, nachdem ihre Lebenssonne mit Franz Liszt erloschen war, am 8. März 1887 ging auch die Fürstin Carolyne Wittgenstein in Rom dahin, von wannen keiner wiederkehrt.

 

Mehr denn fünfundzwanzig Jahre sind verflossen, seit sich das Grab über Franz Liszt geschlossen hat, und ein Jahrhundert vollendete sich über seiner Geburt. Feste feierten den Großen. Statt der Dornen, mit denen man einst den Pfad des Lebenden freigebig bestreute, windet ihm eine hellsehendere Nachwelt Kränze. Konzertsaal und Kirche hallen wieder von den Klängen, die seiner Seele Tiefen entströmten. Nicht in aller Herzen noch finden sie ein Echo, indes man den kühnen Verstandesgebilden Neuerer, denen er erst die Bahn frei gemacht hat, freudig zujubelt. Immerhin – es ist doch um vieles besser geworden. Man hat mindestens, vornehmlich durch Bekanntwerden seiner Briefe, den Weg zur menschlichen Größe Liszts gefunden. Möge auch die Zeit einer vollen Erkenntnis seiner künstlerischen Größe nicht mehr fern sein!

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