Adam Liszts Hoffnung, seinen mittlerweile nach Weimar übergesiedelten Freund Hummel als Lehrer für seinen Sohn zu gewinnen, scheiterte an der seine Mittel übersteigenden Forderung desselben von einem Louisdor für die Stunde. So ward denn in Wien zunächst, und zwar unter Führung des Beethovenschülers Czerny im Klavierspiel, sowie Salieris in der Theorie, die Ausbildung des jungen Musikers betrieben. Seine aller systematischen Schulung entbehrende Technik ward nun in strenge Zucht genommen, indes er sich auch im Partiturlesen und -spielen bald eine erstaunliche Fertigkeit erwarb und im Komponieren so viel Geschick zeigte, daß ein von ihm geschriebenes Tantum ergo Salieris lebhaften Beifall errang. »Nie habe ich einen so eifrigen, genievollen und fleißigen Schüler gehabt«, rühmte ihm Czerny, der uneigennützige Lehrer nach, der keinen andern Lohn für seine Unterweisung begehrte, als die Freude, die ihm sein auserlesener Schüler machte. Genug, mit glänzendem Erfolge konnte sich der elfjährige Franz am 1. Dezember 1822 der musikliebenden Kaiserstadt in einem Konzert im landständischen Saale zuerst vorstellen. Ein zweites, am 13. April 1823 von ihm im Redoutensaal gegebenes Konzert, das Beethoven durch die Aufsehen erregende Ehre seiner Anwesenheit auszeichnete, trug ihm als höchsten Lohn einen Kuß des großen Tonmeisters ein, dem er schon zuvor zu seinem Stolze durch Schindler zugeführt worden war und zu dem er von je mit glühender Verehrung als zu seinem höchsten Ideal emporblickte. Beide Konzerte – in deren erstem er Hummels A-moll-, in deren zweitem er desselben Künstlers H-moll-Konzert spielte und sodann improvisierte – ergaben die Mittel, des Knaben künstlerische Ausrüstung in Paris zu vollenden.

Nicht nur einen Virtuosen, einen Komponisten dachte Adam Liszt der Welt in seinem Sohne zu erziehen. Diesem höchsten Ziele wollte er ihn auf dem Pariser Konservatorium entgegenführen. Allein die Tore der berühmten Anstalt verschlossen sich, einem streng festgehaltenen Gesetz zufolge, dem Ausländer. Vergeblich flehten Vater und Sohn – »das Reglement war unerbittlich, und ich untröstlich«, schreibt Franz. [1] »Alles schien mir verloren, selbst die Ehre, und ich glaubte an keine Hilfe mehr.« Glücklicherweise fand er in Paër, dem seiner Zeit angesehenen Opernkomponisten italienischer Schule, und dem Theoretiker Reicha, die beide nacheinander seine Kompositionslehrer wurden, tätige Förderer seiner Bestrebungen. Auch ohne Konservatorium machte er seinen Weg. Empfehlungen der ungarischen und österreichischen Aristokratie öffneten ihrem Schützling die Salons ihrer französischen Standesgenossen. Die Herzogin von Berry und der Herzog von Orleans, der nachmalige König Louis Philippe, nahmen ihn in ihre besondere Protektion. Im Umsehen war »le petit Litz«, wie man ihn nannte, der Held des Tages, der Liebling des Adels, der Künstler und Gelehrten, des ganzen gebildeten Paris. [2] Von Wichtigkeit wurde ihm namentlich die sich ihm alsbald erschließende Freundschaft Sebastian Erards, des Chefs der weltbekannten Pianofortefabrik, und seiner Familie. Hatte sich schon die Presse in Wien, wie auf der Durchreise in München und Stuttgart, für den »kleinen Herkules«, den »zweiten Mozart«, als den man ihn begrüßte, begeistert, so strömten auch die Pariser Blätter, nachdem man ihn am 7. März 1824 in einem Konzert in der Italienischen Oper zum ersten Mal öffentlich bewundert hatte, von Lobpreisungen des phänomenalen Talentes über, »das keinen Nebenbuhler mehr kenne«. Als dem »ersten Klavierspieler Europas« huldigte man dem »unvergleichlichen Kind«, dessen »bezaubernde Eleganz«, Geistesanmut, liebenswürdige Herzensgüte und eigentümlich schöne aristokratische Erscheinung den Eindruck seiner Kunst noch erhöhten und alle gefangen nahmen.

Auch als Komponisten lernte Paris alsbald »le petit Litz« kennen. Fand doch sein Lehrer Paër, wie früher Salieri, seine schöpferischen Versuche so vielversprechend, daß er ihn unter anderm zur Vertonung einer Oper aufmunterte. Sie blieb, trotz schon begonnenen Skizzen eines »Sardanapal« und einer geplanten Zigeuneroper »Janko« aus den vierziger und fünfziger Jahren, die einzige seines Lebens. Das einaktige, auf einen Text von Théaulon geschriebene Werk »Don Sancho ou le château de l'amour« kam am 17. Oktober 1825 unter Leitung Rudolf Kreutzers in der Académie Royale de Musique zur Aufführung und wurde freundlich aufgenommen. Adolphe Nourrit, der berühmte Sänger der Hauptpartie, nahm den vierzehnjährigen Komponisten, so sehr er sich sträubte, auf seine Arme und zeigte ihn dem applaudierenden Publikum. Die Meinung der Kritik über den Wert dieses Jugendwerkes war geteilt. Nach drei Wiederholungen legte man die Partitur bei Seite. Sie galt, zufolge des 1873 im Opernhause ausgebrochenen Brandes für verloren, bis Jean Chantavoine in Paris nicht nur ihr Vorhandensein, sondern zugleich eine Analyse der Oper, sowie den Klavierauszug der Ouvertüre und einer Arie bekannt gab. [3] Sie zeigen ein durch verschiedene Vorbilder beeinflußtes Frühwerk, das viel Begabung, aber noch wenig Eigenart spüren läßt.

Noch ehe es zur Aufführung der Oper kam, hatte Franz, aufgefordert durch Erard, der zum Besuch der dortigen Filiale seiner Klavierfabrik 1824 nach London reiste, diesen mit seinem Vater über den Kanal begleitet. Mit nicht geringerer Begeisterung als von den Parisern, sah er sich von dem Londoner Publikum aufgenommen. Überaus huldvoll bezeigte sich ihm vor allen der musikalische König Georg IV. Genug, der englische Aufenthalt erwies sich als ein so lohnender, daß es in den nächsten Jahren zu Wiederholungen desselben kam. Auch die französischen Departements und die Schweiz wurden (1826–27) besucht und ergaben erneute Ruhmesernten.

Zwischendurch gab der Gefeierte sich mit Eifer kontrapunktischen Studien hin. Alle polyphonen Formen lernte er mit der gleichen Leichtigkeit beherrschen, mit der seine Finger den Tasten geboten. Er schrieb mancherlei. In seinen Briefen an Czerny berichtet sein Vater besonders von zwei Klavierkonzerten, einer vierhändigen Sonate, einem Trio und einem Quintett. »Seine Konzerte sind zu streng, und die Schwierigkeiten für den Spieler sind ungeheuer«, meint er. Sie blieben uns nicht erhalten. Veröffentlicht wurden nur einige minder umfängliche Klavierstücke. Ihnen folgten 1826, als op. 6 in französischer, als op. 1 in deutscher Ausgabe, »Etudes en douze Exercices»«, die den werdenden Meister zeigen. Ihren Charakter als Studien nirgends verleugnend, mit sicherer Formbeherrschung hingestellt, gibt sich doch jede einzelne stimmungsvoll und musikalisch anziehend. [4] Daß ihr Schöpfer selbst und mit Recht Wert auf sie legte, beweist, daß er sie zweimal, nämlich in den Jahren 1837 und 1852 neu bearbeitete, bis sie zu der endgültigen großartigen Ausgestaltung gelangten, in der sie nicht ihres gleichen haben.

Inmitten der Glanzerfolge seines Virtuosenlebens bemächtigte sich des jungen Genies ein tiefes Unbefriedigtsein. Er fühlte sich nicht dazu berufen, der leichten Unterhaltung des Publikums zu dienen. Die Ehren, die die Welt zu bieten vermag, dünkten ihm schal und eitel. Nach höheren Zielen verlangte ihn: sein Sinn stand nach der Kirche. Er gab sich der Lektüre geistlicher Schriften, insbesondere der »Nachfolge Christi« von Thomas a Kempis hin. »Laß mich in ein Seminar eintreten und Priester werden!« bat er den Vater. Doch: »Du gehörst der Kunst, nicht der Kirche!« lautete die väterliche Entscheidung. Und dabei blieb es. Das fromme Sehnen des Jünglings blieb ungestillt. Aber der bis dahin heitere Grundton seines Wesens nahm eine ernstere Färbung an. Zeiten melancholischer Weltflucht tauchten wieder und wieder bei ihm auf, für die der Vater, der seinem Herzen ferner stand als die Mutter, an der seine ganze Seele hing, geringes Verständnis zeigte. Selbst die Gesundheit von Franz litt, so daß nach Beendung einer dritten englischen Konzertreise der Gebrauch einer Badekur in Boulogne sur mer nötig wurde. Hier erkrankte der Vater plötzlich. Ein gastrisches Fieber raffte ihn binnen drei Tagen am 28. August 1827 hinweg. »Auf seinem Sterbebett sagte er mir«, schrieb Liszt fast fünfzig Jahre später der Fürstin Wittgenstein, »daß ich ein gutes Herz und Verstand besäße, aber er befürchte, daß die Frauen mein Leben beunruhigen und mich beherrschen würden. Diese Voraussage war eigentümlich, denn ich wußte mit sechzehn Jahren noch nicht, was ein Weib ist, und bat in meiner Naivetät meinen Beichtvater, mir das sechste und neunte Gebot zu erklären, da ich es vielleicht unbewußt übertreten zu haben fürchtete.«

Führerlos, auf sich selbst gestellt im Leben wie in der Kunst, sah sich nun mit einem Male der sechzehnjährige Jüngling. Er besann sich nicht, alsogleich volle Mannespflichten auf sich zu nehmen. Voll inniger Liebe zu seiner Mutter, die – um sie der Unruhe seiner drei letzten Wanderjahre nicht auszusetzen – von Gatten und Sohn getrennt, bei Verwandten in Österreich gelebt hatte, entbot er sie sofort zu sich nach Paris, um durch Klavierunterricht daselbst ihre und seine Existenz zu begründen. Es fehlte dem gefeierten Virtuosen, trotz seiner Jugendlichkeit, nicht an Schülern und Schülerinnen; zumal aus aristokratischen Kreisen strömten sie ihm reichlich zu. Selten nur trat er zunächst am Klavier vor die Öffentlichkeit. Doch unternahm der Siebzehnjährige es unter anderem, Beethovens Es-dur-Konzert zu spielen: Zu jener Zeit (1828) ein unerhörtes Wagnis in Paris, wo man Beethoven kaum mehr als dem Namen nach kannte; wie denn Liszts Programme in der Tat als »schlecht gewählt« getadelt wurden, – weil er Beethoven und Weber darin aufgenommen hatte.

In stiller Zurückgezogenheit, wie in schweren inneren Kämpfen, in heißer Bildungsarbeit an sich selbst gingen ihm die nächsten Jahre dahin. Es drängte ihn, die Lücken seines Wissens auszufüllen, die seine nur aufs Musikalische gerichtete Schulung verschuldet hatte.

Charakteristisch äußert er sich hierüber im April 1854 gegen seinen Sohn Daniel: »Oft genug bedauere ich noch jetzt, nicht nach dem Tode meines Vaters wenigstens die unerläßlichen Unterrichtskurse durchgemacht zu haben. Doch fehlte es mir einerseits an einem autoritativen Berater; andrerseits war ich seit meinem zwölften Jahre genötigt, für meinen und meiner Eltern Unterhalt zu sorgen. Die erforderlichen spezifisch musikalischen Studien nahmen meine ganze Zeit in Anspruch bis zum sechzehnten Jahre, wo ich begann, im Klavierspiel, in Harmonie und Kontrapunkt Unterricht zu erteilen und mich sowohl in den Salons als öffentlich wohl oder übel als Virtuos hören zu lassen. Es gelang mir in der Tat ziemlich rasch, mir eine leidlich einträgliche Position und künstlerischen Ruf zu erwerben. Wertvoller wäre es freilich für mich gewesen, meinen Geist regelrecht auszubilden und mich durch positive Kenntnisse auf ein gleichmäßigeres Niveau mit den hervorragenden Männern zu bringen, mit denen in freundschaftlichen Verkehr zu treten, ich trotz meiner Jugend den Vorzug hatte. Dies alles veranlaßte mich, über die verschiedensten Materien nachzudenken, den Mangel systematischer Studien so gut ich konnte durch Lektüre auszugleichen, und mich vielleicht auch vor manchen meiner Fachgenossen auszuzeichnen, die auf nichts anderes als auf ihre Sechzehntelnoten und die gewöhnliche Abwickelung ihrer Philisterexistenz bedacht sind«. [5]

In diese Zeit fiel ein erster Liebestraum des jungen Musikers, dem ein jähes Erwachen und Entsagenmüssen folgte. Seine siebzehnjährige geist- und anmutvolle Schülerin Caroline de Saint-Criq, die Tochter des Handelsministers Grafen de Saint-Criq, schenkte ihm ihr Herz, wie sie das seine besaß. Aber sie durfte ihm trotz der Fürbitte ihrer sterbenden Mutter nicht angehören. Darnach erkrankte sie schwer und begehrte nach ihrer Genesung den Schleier zu nehmen. Doch die Wahl des Vaters bestimmte ihr in dem bei Pau begüterten Monsieur d'Artigaux den ungeliebten Gatten. Ihre Ehe wurde ein Martyrium. Liszt vergaß sie nie, und auch sie bewahrte sein Andenken wie ein Heiligtum. Ein Wiederbegegnen war ihnen beiden nach fünfzehn Jahren, gelegentlich einer Konzertreise Liszts nach Südfrankreich und Spanien, beschieden. Es rief in ihm die ergreifende Klage seines Liedes: »Ich möchte hingehn wie das Abendrot« hervor. Seitdem blieben sie miteinander in Briefwechsel. In seinem Testament (1860) vermachte er ihr eins seiner Kleinode, als Ring gefaßt. Doch ging sie 1872, vierzehn Jahre vor ihm aus der Welt. [6]

Als beider Wege sich trennten, suchte Franz in der Religion allein Trost. »Ein Frauenbild keusch und rein, wie der Alabaster heiliger Gefäße, war die Hostie, die ich unter Tränen dem Gott der Christen darbot. Entsagung alles Irdischen war der einzige Hebel, das einzige Wort meines Lebens«, heißt es zehn Jahre später in einem seiner Briefe an George Sand. [7] Mit dem seiner Natur eignen mystischen Zug den Mysterien der römischen Kirche seit seiner Kindheit anhangend, verlangte es ihn, wie schon vor des Vaters Hingang, seine Kunst mit der Kirche zu vertauschen. Jedoch »die Liebe zu seiner Mutter, deren naive Frömmigkeit die Notwendigkeit seines Priesterberufs nicht anerkannte«, hielt ihn, laut seinen eigenen Worten, vom Eintritt in das Pariser Seminar zurück. Tiefe Apathie bemächtigte sich seiner. Nur noch mit Christian Urhan, dem als Viola d'amour-Spieler bekannten Violinisten, der seine religiösen Schwärmereien teilte, verkehrte er. An Gemüt und Körper krank, verbarg er sich vor der Welt, die (im »Etoile« 1828) bereits eine verfrühte Totenklage um ihn anstimmte.

Erst die Juli-Revolution mit ihren die Jugend Frankreichs allmächtig erfassenden Ideen und Träumen einer freieren, glücklicheren Weltgestaltung erweckte ihn zu neuer Tatkraft, und die in ihrem Gefolge auf künstlerischem Gebiet zum Durchbruch kommende romantische Bewegung sah ihn mit Hector Berlioz, Chopin, Victor Hugo, Alfred de Musset, George Sand, Delacroix u. a. in ihrer Mitte. Von ihr nahm er die Idee des Fortschritts der Kunst auf, die Überzeugung, daß in den bewegenden Gedanken der Zeit und der Nationen »der ewige Verjüngungsquell der Kunst zu finden, daß nur das Leben selbst ihr Leben sei.« Gleichzeitig erregten die sozialistischen Lehren Saint-Simons, die religiöse Weltanschauung des Abbé de Lamennais seine lebendigste Teilnahme.

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Anmerkungen:

  1. Ges. Schriften, Bd. II. »Über die Stellung der Künstler.«
  2. Eingehenderes hierüber, nämlich Briefe von Liszts Vater Adam an Czerny und einen Eisenstadter Freund aus den Jahren 1823–25, sowie die darauf antwortenden Briefe Czernys an Adam Liszt veröffentlichte d. Verf. unter dem Titel »Franz Liszt auf seinem ersten Weltflug« (»Neue Musikzeitung«, Jan. 1888, sowie in dem Buch »Klassisches und Romantisches aus der Tonwelt«, Breitkopf & Härtel 1892) und »Aus Liszts erster Jugend« (»Die Musik«, April 1906. Kapp hat es zum guten Teil in seiner Liszt-Biographie abgedruckt.
  3. »Die Musik« 1904, 2. Maiheft). Der Autor veröffentlichte 1910 auch eine Schrift: »Liszt« (Paris, Alcan), die musikalisch Wertvolles, biographisch aber leider viel Irriges enthält und die authentischen neuesten Quellen wohl zitiert, sie aber nicht genügend benützt. Vorausgegangen ist seinem Buch eine treffliche künstlerische Würdigung von M. D. Calvocoressi: »Liszt« (Paris, Librairie Renouard, Henri Laurens, éditeur).
  4. Sie bilden in ihren Keimen wie in ihrer Entwicklung, von F. Busoni revidiert, den 1. Band der Pianofortewerke in der von der Liszt-Stiftung bei Breitkopf & Härtel herausgegebenen Gesamtausgabe der Werke des Meisters.
  5. Siehe Frau Wagners wertvolle Festgabe zum Liszt-Zentenarium: »Franz Liszt. Ein Gedenkblatt von seiner Tochter.« München, Bruckmann, 1911.
  6. Näheres über Liszts Beziehungen zu ihr, zu Gräfin d'Agoult, Fürstin Wittgenstein u. a. enthält die Schrift d. Verf. »Liszt und die Frauen«, Leipzig, Breitkopf N Härtel, 1911.
  7. Ges. Schriften, Bd. II.
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