Vor Jahren schon war die Mahnung laut geworden, Liszt möge »das weitere Feld der symphonischen und dramatischen Komposition« bebauen. Mit einem Male trat er jetzt als Beherrscher großer orchestraler Formen hervor: er überraschte die musikalische Welt mit seinen, in den Jahren 1847–58 entstandenen zwölf »Symphonischen Dichtungen«, denen er 1881 noch eine dreizehnte: »Von der Wiege bis zum Grabe« (nach einer Zeichnung Michael Zichys), wie zuvor einen »Epilog zu Tasso«: »le Triomphe funèbre du Tasse« folgen ließ. Völlig neue Erscheinungen ihrer Art, waren sie in ihrer Einsätzigkeit und thematischen Einheit, der Form wie der Idee nach, seine eigensten Geschöpfe. Eine Dichtung, einen poetischen Vorwurf bringt Liszt, indem er ihm seine musikalischen Seiten abgewinnt, zu tonkünstlerischer Darstellung. Die äußere Gestalt wächst, Liszts Grundsatz gemäß, daß der Inhalt die Form zu bestimmen habe, aus dem Inhalt heraus, sie ist so mannigfaltig wie dieser Inhalt selbst und eher der Ouvertüre als der Symphonie verwandt. Der Sonatensatz, auf dem die letztere beruht, erwies sich als nicht elastisch genug zur Aufnahme eines neuen poetischen, einen fortlaufenden Ideengehalt repräsentierenden Inhaltes, und so griff Liszt zur freien Variationenform, wie sie Beethoven im Vokalsatz seiner neunten Symphonie – dem Ausgangspunkte für Liszts gesamtes instrumentales Schaffen – anwandte. Aus einem oder zwei gegensätzlichen Themen – oder Leitmotiven, wenn man will – heraus entwickelt er eine Folge verschiedenartigster Stimmungen, die durch rhythmische und harmonische Veränderungen in immer neuer Gestalt erscheinen, dem Gesetze des Wechsels, des Gegensatzes und der Steigerung entsprechend. Das auf diesem Gesetz beruhende Prinzip des Sonatenbaus ist demnach, trotz der thematischen Einheit und der eine freiere Periodengliederung aufweisenden einsätzigen Form, auch hier wie in seinen Konzerten und der Sonate wirksam, und die Umrisse der herkömmlichen vier Sätze blicken, freilich zusammengedrängt, mehr oder minder kenntlich noch immer hervor. Bei seinen Wagner und Berlioz gewidmeten beiden umfangreichsten und großartigsten Instrumentaldichtungen »Dante« und »Faust« – neben »Graner Messe« und »Christus« seinen größten musikalischen Taten überhaupt – bei denen er die Bezeichnung Symphonie beibehielt, beließ er es auch bei der Teilung in selbständige Sätze; aber er schaltet innerhalb derselben auf seine eigene Weise. In beiden, welche die tiefsinnigsten Dichterwerke, die wir besitzen: »die göttliche Komödie« und Goethes »Faust«, in Tönen illustrieren, brachte er, wiederum nach Vorbild der neunten Symphonie, im Schlußsatz Chöre zur Anwendung. Den einzelnen Sätzen fügte er erläuternde Titel (hier Infero, Purgatorio, Magnificat, dort Faust, Gretchen, Mephistopheles) bei. Hier werden wir von den Bildern höllischer Qualen und Verzweiflung zur Extase der Erlösung geführt; dort sehen wir in drei mit genialer Schärfe gezeichneten Charakterbildern und dem abschließenden Chorus mysticusdie Faustidee zu ergreifendem Ausdruck gebracht.

Über die Dantesymphonie äußert sich Wagner bewundernd: »Nachdem ich kurz zuvor mit der Lektüre der ›Göttlichen Komödie‹ beschäftigt gewesen und hierbei neuerdings alle die Schwierigkeiten der Beurteilung dieses Werkes erwogen hatte, trat jetzt jene Lisztsche Tondichtung mir wie der Schöpfungsakt eines erlösenden Genius entgegen, der Dantes unaussprechlich tiefsinniges Wollen aus der Hölle seiner Vorstellungen durch das reinigende Feuer der musikalischen Idealität in das Paradies seligst selbstgewisser Empfindung befreite. Dies ist die Seele des Danteschen Gedichtes in reinster Verklärung. Solchen erlösenden Dienst konnte noch Michel Angelo seinem großen dichterischen Meister nicht erweisen; erst als durch Bach und Beethoven unsere Musik auch des Pinsels und Griffels des ungeheuren Florentiners sich zu bemächtigen angeleitet war, konnte die wahre Erlösung Dantes vollbracht werden«. [1]

Die Mehrzahl seiner symphonischen Dichtungen begleitete Liszt, um Genuß und Verständnis derselben zu erleichtern und den Hörer über den Gedankengang, den er beim Schaffen wesentlich verfolgte, klarzustellen, mit Programm men. Er gibt uns in denselben entweder ganze oder fragmentarische Dichtungen, wie die Verse Victor Hugos und Lamartines zur »Bergsymphonie«, zu »Mazeppa« und den »Préludes«, oder er knüpft, wie in »Tasso« und »Prometheus«, an bekannte Dichterwerke, oder wie in der »Heldenklage«, an ein historisches Ereignis an, oder er feiert in der mythischen Gestalt des »Orpheus« die Kunst selber in ihrer erlösenden Macht. Die »Festklänge« und »Hungaria«, sowie »Hamlet«, die »Hunnenschlacht« (nach Kaulbach) und die »Ideale« (nach Schiller) ließ er ohne Programm, da ihm die Titel für eine richtige Auffassung derselben ausreichend dünkten.

Nach Wagners Worten konnte die Erfindung der neuen Kunstform der »symphonischen Dichtung«, die für Liszt »zum Ausdruck unsäglicher Seelen- und Weltvorgänge wird, nur einem höchstbegabten Auserlesenen vorbehalten sein, der, durch und durch vollendeter Musiker, zugleich durch und durch anschauender Dichter ist«. [2] Und Hermann Kretzschmar, der vornehmste der gegenwärtigen deutschen Musikhistoriker, gibt das Urteil ab: »Als musikalischer Architekt bleibt Liszt neben Wagner der erste Meister des 19. Jahrhunderts; er ist der Gluck der Symphonie«. [3]

Nicht allein ihre poetisch-musikalische Doppelnatur, wohl mehr noch die Neuheit ihrer Form, die man als Formlosigkeit ansehen wollte und die doch eben das Resultat eines neuen Inhaltes ist, hat das Verständnis der großen Orchesterschöpfungen Liszts von vornherein erschwert. Alsbald nach dem ersten Bekanntwerden der symphonischen Dichtungen erhob sich ein erbitterter Federstreit, dem Liszt selbst in gewohnter Vornehmheit fern blieb. Man redete von der Unverletzlichkeit »geheiligter Formen«, als ob ohne erweiterte Formen überhaupt die Entwicklung der Symphonie von Lully und Scarlatti bis Beethoven möglich gewesen wäre! Man stieß sich an das stark Subjektive des Lisztschen Kunstausdrucks. Und in der Tat, seine kühne, sich mit Vorliebe übermäßiger und verminderter Intervalle bedienende Harmonik, seine von Fétis übernommene Praxis der »freien Tonalität«, die jeden Ton als Leit- oder leitereigenen Ton aufzufassen erlaubt, seine vorwiegend homophone Schreibart, die häufigen Sequenzen, insbesondere seine eigentümliche Tonsymbolik mit ihren Akzenten und Interpunktionen, ihren rezitativischen Stellen und Generalpausen durften manchem befremdend dünken. Auch erhöhten sie die Schwierigkeit ihrer Interpretation. Doch bemühte man sich wenig um eine solche. Die Vertreter des starren Klassizismus verschlossen einfach den Werken des als Propagandist Wagners und Berlioz' Mißliebigen, und mit ihnen zuvörderst auch seinen Schülern die Pforten ihrer Konzertsäle, Es währte lange bis des Meisters Wort: »Ich kann warten!«, das er allen Verneinungen und Anfeindungen ruhig entgegensetzte, sich bewährte. Doch konnte man nicht dauernd hindern – und der Taktstock und die Feder Bülows, die Schriften Brendels, Pohls, Kohlers, Weitzmanns, Dräsekes, Porges' taten dabei das ihre – daß die von Liszt vertretene poetisierende Richtung in allen Gattungen der Musik zu energischem Ausdruck gelangte und daß seine symphonischen Dichtungen und andere seiner Orchesterwerke, wie seine geistreichen »Faustepisoden« (nach Lenau), wenn auch bedauerlich langsam und verspätet, in die Konzertsäle eindrangen. Scheint auch die aristokratische Natur der bühnenfremden Lisztschen Muse, ihr feinfühlig dichterisches Wesen, ihr mehr kosmopolitischer als spezifisch deutscher Geist von Haus aus weniger bei uns zur Popularität angelegt, als das ganz im deutschen Gefühls- und Gedankenleben wurzelnde dramatische Kunstwerk des urdeutschen Wagner, das von der Bühne herab täglich vor Tausenden und Abertausenden seine lebendigen Wunder wirkt: das sich immer unaufhaltsamer ausbreitende Verständnis für dieses wirkte endlich auch für jene förderlich. Genug, wir sahen seit Beginn der achtziger Jahre Deutschland, Österreich, Ungarn, Belgien, die Schweiz, Italien wetteifern, Franz Liszt und sein Werk in glänzenden Festen zu feiern.

Nicht minder als seine instrumentalen Schöpfungen haben sich die Vokalwerke des Meisters, allen voran seine herrlichen farbenfreudigen Chöre zur symphonischen Dichtung »Prometheus«, seine Lieder, seine Oratorien und Kirchenkompositionen nach anfänglichem Widerstand Boden gewonnen. Im Liede, das in Hugo Wolf seinen Fortsetzer fand, vertritt er die Durchführung des poetischen Prinzips bis zu seinen äußersten Konsequenzen. Vom Dichter läßt sich der Musiker ganz durchdringen, er geht in ihm auf. Das über eine bloße Begleiterrolle weit hinausgehobene Klavier bildet den ton- und stimmungsmalerischen Untergrund. Bei voller Freiheit in Behandlung des Rhythmischen und Melodischen waltet ein deklamatorisches Element vor, das Wagners »Sprechgesang« verwandt ist. Es sei hier nur an das gefühlsinnige »Ich liebe dich« (von Rückert), an »Mignon« und »Loreley« erinnert, wogegen sich das populärste von Liszts Liedern: »Es muß ein Wunderbares sein« der älteren Liedform am meisten nähert.

Auch der Mischform des Melodrams, der Deklamation mit begleitendem Klavier, wandte Liszt seine Teilnahme zu. Durch die fünf Werke dieser Art, die er uns schenkte: »Lenore«, »Der traurige Mönch«, »Helges Treue« (nach Dräsekes Ballade), »Des toten Dichters Liebe« und »Der blinde Sänger« adelte er die Gattung und bereicherte sie – insbesondere durch die zwei erstgenannten – um dichterisch-musikalische Meistergebilde eigensten Gepräges.

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Anmerkungen:

  1. Sämtl. Schriften X, Das Publikum in Zeit und Raum.
  2. Sämtl. Schriften V, Über Liszts symphonische Dichtungen.
  3. Gewandhaus-Konzertbericht, Leipziger Neueste Nachrichten, 6. Febr. 1904.
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