Alessandro Scarlatti und Lotti, den beiden ruhmgekröntesten zeitgenössischen Componisten der Italiener, war Händel schon früher persönlich nahe getreten, wie er ihnen und zumal dem Ersteren als Opernmeister auch künstlerisch Manches verdankte. Nun lernte er in Scarlatti's Sohn Domenico auch den größten damaligen Clavierspieler des Landes kennen. Auf Ottoboni's Anregung gewährten sie Beide einem Tribunal von Kunstverständigen das interessante Schauspiel eines Wettkampfes. Doch zu Keines von Beiden Gunsten ward derselbe entschieden, da Jeder in seiner Art gleich Vollendetes leistete. Je nach Neigung der Einzelnen nur fiel das Urtheil hier für die graziöse Zartheit und Eleganz des Italieners, dort für die funkensprühende männliche Vollkraft des Deutschen in die Wagschale. Als der Wettstreit auf dem Flügel sodann jedoch auf der Orgel fortgesetzt wurde, war Domenico Scarlatti der Erste, welcher seinem Rivalen den Preis zuerkannte. Von einem solchen Spiel, so meinte er, habe er bisher keine Vorstellung gehabt. Neidlos schloß er sich fernerhin an ihn an und wurde so weit es anging sein beständiger Begleiter. Ja, auch später soll er, so oft man sein Orgelspiel rühmte, immer nur Händel's Namen genannt und dabei als Zeichen seiner Verehrung ein Kreuz geschlagen haben. Wir wissen, daß auch Händel diese Achtung und Sympathie bis in seine spätesten Tage theilte.

Aeußere Unruhen, wie sie ausbrechende Feindseligkeiten zwischen Papst und Kaiser mit sich führten, vertrieben den Meister im Juni 1708 aus der ewigen Stadt, der man ihn gern noch mit festeren Banden als mit denen der Kunst verknüpft hätte. Die Versuche, ihn der römischen Kirche zu gewinnen, scheiterten indeß an seinem bestimmt ausgesprochenen Willen, in dem Glauben, in dem er geboren und erzogen worden, auch sein Lebenlang zu beharren.

Von den beiden Scarlatti, wie es heißt, begleitet, ging Händel nach Neapel. Mit offenen Armen wurde er auch hier in den Palästen der Großen aufgenommen. Wer ihn zuerst gewinnen und am längsten bewirthen konnte, wurde glücklich geschätzt. Als Ergebniß seines mehr als einjährigen Aufenthaltes ist uns außer sieben französischen Chansons das Schäferspiel »Aci, Galatea e Polifemo« verblieben, das als die musikalische Blüte des arcadischen Geistes, wie Guarini's Pastore fido als die poetische, gelten kann. Die französischen Lieder schrieb er, als gerade die Streitfrage über die Vorzüge der italienischen und der französischen Musik vielfältig und heftig erörtert ward, zu Studienzwecken und stellte damit sein eignes Glaubensbekenntniß hin, demzufolge für das Pathos der Rede wie für den leichten Gesang und Tanzrhythmus die französische, für die eigentliche Gesangs- und instrumentale Kunst vielmehr die italienische Art und Weise vorbildlich sei. Die Musik der verschiedenen Nationen läßt er auf sich wirken; begierig lauscht er auch den schlichten Klängen des Volksgesanges, um mit ihnen sein künstlerisches Vermögen zu bereichern. Dabei befriedigt er sich aber nicht bei bloßen Fachstudien. Aus der Anschauung des Lebens nimmt er den besten Theil seines Wissens und seiner Kunst. Offenen Sinnes rings umherschauend, schärft sich ihm auch der Blick für bildende Kunst. Ein leidenschaftliches Interesse namentlich für Malerei trägt er zugleich mit seinem allgemeinen inneren Wachsthum aus Italien mit davon. Eins nur ließ er beim Abschied dort zurück: den sorglosen Frühling seines Lebens.

Auf England war sein Augenmerk gerichtet, als er, wie Neapel, Rom und Florenz, so auch Venedig zu Beginn des Jahres 1710 Lebewohl sagte. Da jedoch die Hannoveraner Baron Kielmannsegge und Capellmeister Steffani ihm begreiflich machten, daß bei der bevorstehenden Erhebung des Kurfürsten von Hannover auf den englischen Thron der Weg nach London über Hannover führe, begab er sich in ihrem Geleit vorerst nach Deutschland und wurde alsbald zum hannöverschen Hofcapellmeister ernannt. In seine Hände legte Steffani, einer der feinsinnigsten zeitgenössischen Componisten, der namentlich im Duett Vollendetes leistete und Händel, seinem eigenen Ausspruch zufolge, künstlerisch und persönlich mehr als ein Anderer beeinflußte, den Dirigentenstab nieder. Den Plan, nach England zu gehen, verwirklichte Händel aber noch im selben Herbst, nachdem er daheim in Halle gar Manches verändert gefunden. Die eine seiner Schwestern war gestorben, die andere verheiratet; einsam fand er die alte Mutter wieder. Ueber Düsseldorf, die Residenz des ihm von Italien her bekannten Kurfürsten von der Pfalz, und Holland ging die Reise dann geradewegs nach London.

Nicht umsonst hatte man ihn bereits in Venedig dahin, als an den geeigneten Boden für seine Kunst, gewiesen. Die Musikpflege lag in England im Argen. Während der Geist der Nation auf anderen Gebieten, wie Poesie, Philosophie, Staatswissenschaft, reichste Blüten getrieben und dem Lande zu äußerer und innerer Machtstellung verholfen hatte, schien ihm im Bereich der Tonkunst jedes hervorragende schöpferische Vermögen versagt. Nicht wie Frankreich und Deutschland zeigte sich England befähigt, die von dem musikreichen Italien empfangenen Vorbilder und Formen, dem eigenen nationalen Wesen entsprechend, selbständig aus- und umzubilden. Ein Einziger nur, der begabte Dramatiker Purcell (1658–95), machte einen ernsthaften und von Erfolg begleiteten Versuch; aber er starb noch bevor er denselben über einen verheißungsvollen Anfang hinaus geführt. Was Andere – wie der unfähige Clayton als Bundesgenosse des gefeierten Addison – nach ihm zu Stande brachten, blieben verunglückte Experimente. Am Ende nährte man sich wiederum von den Brosamen, die von des Reichen Tische fielen; man borgte von dem Ueberfluß des musikgesegneten Südens das, was unter dem unfruchtbareren nordischen Himmel nicht gedeihen wollte: Sänger und Singenswerthes. Das Verlangen nach einem eigenen Musikbesitz war inzwischen, zugleich mit einer lebhaften musikalischen Empfänglichkeit, in dem englischen Volke mächtig geblieben, und eben das mußte dem Manne frommen, der nun als universaler Tongenius in seine Mitte trat, um ihm die ersehnte Gabe zu reichen und ihm auch auf dem Felde der Musik unsterblichen Ruhm zu gewinnen, so wie er selber sich dort zum Gipfel seiner Meisterschaft emporschwang.

Unter besonders günstigen Umständen traf Händel in dem Lande ein, dem er fortan fast ausschließlich seine Thätigkeitweihen sollte und dessen großartiges, freies Leben ihn bald sympathisch berührte. Der germanische Geist hatte mit Ueberweisung der Thronfolge an ein deutsch-protestantisches Fürstenhaus dort Triumphe gefeiert. Der Aufregung des Krieges waren Friedenshoffnungen gefolgt, der Sinn für die Künste des Friedens ward wieder rege. Kein Componist oder Virtuos von irgend welchem Belang machte dem Ankommenden den Rang streitig; wogegen eine neu ergänzte vorzügliche italienische Sängergesellschaft ihm die Gewähr zur besten Verwirklichung seiner musikalisch-dramatischen Intentionen bot. Und er, der allseitig mit Spannung Erwartete, von Königin und Adel freudig Begrüßte, säumte nicht, ihr seine Aufgaben zu stellen. Binnen vierzehn Tagen warf er seine Oper »Rinaldo« auf das Papier – sein erstes Originalwerk für die italienisch-englische Bühne und zugleich die bedeutendste seiner bisherigen Leistungen. Ueber die »Agrippina« und Früheres zeigt er sich darin nicht nur nach der musikalischen, sondern auch nach der dramatischen und charakteristischen Seite um Vieles fortgeschritten, und auch unter den Werken der zeitgenössischen Dramatiker dürfte sich nichts finden, das sich mit dem Gesange »Cara sposa« – den Händel selber noch späterhin für einen seiner besten erklärte – oder »Lascia ch'io pianga« an Werth messen könnte.

Bei ihrer ersten Aufführung auf dem Haymarket- Theater am 24. Februar 1711 machte die Oper denn auch einen außerordentlichen Eindruck. Als Gradmesser des öffentlichen Beifalls ist es bezeichnend, daß der Londoner Musikalienverleger Walsh an Gesängen aus »Rinaldo« fünfzehnhundert Pfund Sterling, also über dreißigtausend Mark, verdient haben soll. »Mein lieber Walsh,« sagte ihm anläßlich dessen Händel in seiner trocknen humoristischen Weise, »damit Alles zwischen uns gleich sei, componiren Sie die nächste Oper und ich verkaufe sie.« Seine Töne drangen eben in die Masse, sie klangen Allen, Hoch und Niedrig, Gebildeten und Ungebildeten in's Herz hinein. Hatte man bisher, den Singspielen Scarlatti's und Buononcini's zum Trotz, noch immer dem alten Nationalliebling Purcell angehangen, so verdrängte der ihm geistesverwandte Händel, der das dem englischen Volkscharakter eigene kraftvoll Tüchtige, das gemessen Würdevolle zum Ausdruck brachte, diesen allmälig aus den Herzen seines Volkes. Daß er hier sein rechtes Publicum gefunden habe, darüber ließ ihn die Aufnahme des »Rinaldo« nicht in Zweifel. Mochten die Engländer immerhin das verfeinerte Musikgefühl vermissen lassen, das ihn an den Italienern angeheimelt hatte: ihrem eigentlichen Kerne nach sah er seine Leistungen doch besser von jenen Ersten als von irgend einer andern Nation geschätzt. War er dagegen als Gast Italiens unangefochten, allerwärts nur verehrt und bewundert seine Bahnen gezogen, so umstand ihn hier alsbald ein Schwarm von Neidern und Feinden, dem er, ungeachtet der Ueberzahl seiner Freunde, das Terrain erst Schritt für Schritt abgewinnen mußte. In vorderster Reihe unter seinen Gegnern kämpfte der berühmte Satyriker Addison, der, um Händel, »den neuen Orpheus«, damit zu treffen, in seinem vielgelesenen »Spectator« die Schwächen der englischen italienischen Oper mit unwiderstehlichem Humor geißelte. Händel selber diente der geistreiche Spott wie allen Anderen zur Kurzweil. So wenig wie ehemals in Hamburg gelegentlich der »Almira«, kam es ihm gegenwärtig bei, sich persönlich in den Kampf zu mischen. Die mannigfachen Irrthümer aus seiner Höhe herab wol überschauend, ließ er seine Kunst für sich reden, und sie sprach beredt genug. »Ein Deutscher und ein Genie? Den muß ich sehen!« hatte Pope skeptisch ausgerufen, als man ihm das »deutsche Genie« Händel's angekündigt hatte. Bald jedoch verstummten Zweifel und Widerspruch.

Nach Ende der Londoner Saison, muthmaßlich im Juni 1711, trat Händel seine Capellmeisterthätigkeit in Hannover an. Sie beschränkte sich auf Kammermusik. Auch hier, wo sich wie anderwärts zwei verschiedene Richtungen in der Musik, die italienische Kammer- und die französische Capellmusik behaupteten, vereinigte Händel's Kunst die getrennten Gattungen. Dabei componirte er eine Anzahl seiner schönen, nach Steffani's Vorbild geschaffenen Kammerduette [1], deutsche Lieder und seine Oboenconcerte – das werthvollste seiner Instrumentalwerke. Seine Opern ruhten inzwischen. Auf die Dauer behagte ihm das nicht. Er kam um neuen Urlaub ein, und der November 1712 fand ihn wieder auf englischer Erde und damit in sofortiger Thätigkeit für die italienische Opernbühne. Die eilfertig entstandene Oper »Il pastor fido« erntete indeß geringen Beifall und verschwand nach wenigen Vorstellungen, um zwanzig Jahre später nach erfolgter Umgestaltung ihre Stellung besser zu behaupten. Auch sein nächstes dramatisches Werk: der am 10. Januar 1713 in Scene gehende »Teseo«, war von unerfreulichen Folgen für den Autor begleitet. Nach den ersten beiden sehr gewinnbringenden Aufführungen ging der Director des Theaters auf und davon und hinterließ Componist und Sängern nichts als seine Schulden. Höhere Genüge als in diesen beiden Arbeiten that sich des Tondichters Genius in einer Schöpfung anderer Art. Es verlangte ihn, den bevorstehenden Friedensschluß in einem großartigen Te Deum zu besingen. Um aber mit dem Auftrage dazu betraut zu werden, was für ihn als Ausländer auf gesetzliche Hindernisse stieß, mußte er sich erst die Königin Anna besonders geneigt machen. Eine Ode, die er zu diesem Behuf zu ihrem Geburtstage schrieb und (am 6. Februar 1713) aufführte, hatte den gewünschten Erfolg. Mit Composition des berühmt gewordenen Utrechter Te Deum wurde ihm zugleich die eines Jubilate (es ist in Deutschland als der 100. Psalm bekannt) übertragen. Seiner Neigung für Glanz und Machtentfaltung durch reiche Kunstmittel und Massenwirkungen konnte er hier freien Lauf lassen; aber er schlägt dabei Weisen an, die Jeder fühlt und versteht; denn er singt einen Lobgesang, der aus Aller Herzen emporsteigt und Aller Herzen bewegt. Die Aufführung beider, die Reihe seiner bedeutendsten Hervorbringungen eröffnenden Werke fand auf königlichen Befehl am 7. Juli 1713 in der Paulskirche statt, dahin sich das Parlament in feierlicher Procession verfügte. Sie trug ihm als Dank der Königin einen Jahrgehalt von 200 Pfund Sterling ein, verscherzte ihm aber, – umsomehr als er durch rücksichtsloses Ueberschreiten des ihm bewilligten Urlaubs ohnehin schon Mißstimmung in Hannover hervorgerufen – die Gunst seines Kurfürsten völlig. Und nicht ohne Grund. Hatte er doch durch seine Compositionen einen Frieden verherrlicht, durch den England, dessen Regierung neuerdings zu Gunsten des katholischen Prätendenten Jacob den Ausschluß Hannovers von der englischen Thronfolge betrieb, die Erwartungen Hannovers getäuscht und seine Interessen verletzt hatte. Solch offenkundige Demonstration sei nes Capellmeisters – mochte sie immer aus künstlerischer Ruhmbegier und Unkenntniß in politischer Beziehung entspringen – konnte dem Kurfürsten nicht gleichgültig sein. Händel fiel in Ungnade; um so verhängnißvoller für ihn, als am 1. August 1714 plötzlich die Königin starb und aller gegnerischen Machinationen ungeachtet der Kurfürst von Hannover als König Georg I. den englischen Thron bestieg. Lange währte es bevor sich der erzürnte Herrscher versöhnen ließ. Inzwischen zwar bot ein vornehmer Kunstmäcen, Lord Burlington, dessen »italienischen Palast im Norden, wo alle Musen fröhlich rasteten«, der Dichtermund preist, dem Künstler durch Jahre hindurch eine gastliche Freistatt, die ihn nicht nur in der großen englischen Gesellschaft einführte, sondern ihm auch – die Opern »Silla« (1714) und »Amadigi« (1715) beweisen es – Stimmung und Muße zum Schaffen ließ. Bei Hofe aber durfte er nicht erscheinen. Da ersann endlich Lord Burlington mit Baron Kielmannsegge gemeinsam ein erfolgreiches Mittel. Sie veranstalteten eine festliche Barkenfahrt auf der Themse, zu welcher Händel seine berühmte »Wassermusik« componirte. Als dann der König, davon entzückt, nach dem Verfasser derselben fragte, führte man ihm seinen reuigen Capellmeister zu, der nun das Lob seiner Musik hören durfte. Den ihm von seiner Vorgängerin zugewiesenen Jahresgehalt verdoppelte jetzt König Georg durch weitere 200 Pfund, zu denen Prinzessin Caroline, als Händel später den Musikunterricht der kleinen Prinzessinnen in die Hand nahm, noch die gleiche Summe hinzufügte, so daß sich seine feste Jahreseinnahme demnach auf 600 Pfund belief.

Eine Reise, die Händel nach Deutschland unternahm, brachte ihn, der sich ganz der englischen Musik zugewendet hatte, noch einmal mit der vaterländischen Tonkunst in Berührung. Er schrieb für Hamburg, den Ort seiner einstigen aufstrebenden Thätigkeit, sein letztes deutsches Tonwerk: eine Passionsmusik.

Wie seinen Hamburger Kunstgenossen Keiser, Telemann und Mattheson bei ihren gleichartigen Arbeiten, so diente auch ihm nicht, gleich Bach, das Bibelwort, sondern eine freie Dichtung des Hamburger Brockes zur textlichen Grundlage. Aber eben so weit auch, als dies sinn- und geschmacklose Reimwerk hinter der ewigen Urkraft des Bibeltextes, blieb dies Product Händel's hinter den betreffenden Meisterwerken des großen Sebastian zurück. Händel's Größe wächst und sinkt eben mit seinen poetischen Vorwürfen, und für den Werth derselben ist seine Musik stets die beste Kritik. Historisch interessant bei aller Unvollkommenheit bleibt jedoch immerhin ein Werk, das die Passion Keiser's aus dem Felde schlug und von Bach einer eigenhändigen Abschrift werth erachtet ward, schon in seiner vermittelnden Stellung zwischen der Entwickelung und dem letzten größten Aufschwunge der norddeutschen protestantischen Kirchenmusik.

Inmitten politischer Wirren und Aufregungen feierte mittlerweile die Londoner Oper. Händel nahm einen Antrag des Herzogs von Chandos an, der wie ein souveräner Fürst in Cannons-Castle Hof hielt, und trat als Capellmeister und Organist in dessen Dienste. Seine geniale Wirksamkeit brachte es dahin, daß an Stelle von St. Paul's Kathedrale die kleine Whitchurch in Cannons jahrelang der lebenzeugende Mittelpunkt englischer Kirchenmusik wurde und daß, um sich in seinem musikalischen Gottesdienste zu erbauen, das vornehme London sonntäglich dahin wallfahrtete. Hier, wo er, von jugendlich feurigen Kräften umgeben, sein unvergleichliches Dirigententalent ausbildete, entstanden außer den kleinen Tedeums in B, A und D (1718–20), jene zwölf »Anthems«, Meisterwerke obersten Ranges, in deren durch Solosätze und Instrumentalbegleitung wechselvoll belebten Chören die Form von Motette und geistlicher Cantate vereinigt erscheinen. In der alttestamentlich charaktervollen Kraft und Wahrheit ihrer Tonsprache sind diese Psalmen-Compositionen die Vorläufer seiner Oratorien, deren erste beide ebenfalls dem Aufenthalt zu Cannons ihre Entstehung danken. Zum ersten Male griff er hier nach einer Musikgattung, die, von den Italienern in's Leben gerufen und von Heinrich Schütz weiter entwickelt, der Vollendung durch seine Hand harrte. Das erste von beiden: »Esther« – es wurde am 20. August 1720 zum ersten Male gehört und dem Componisten mit 1000 Pfund vom Herzog gelohnt – zeigt schon die Breite der Anlage und Wucht der Gestaltung vorbereitet, die seine oratorischen Meisterthaten kennzeichnen. Gleichwol haften ihm die Merkmale eines Erstlings seiner Gattung, der es auch nicht nur für Händel, sondern auch für England überhaupt war, noch bemerkbar an, wie es denn namentlich eine zu große Abhängigkeit von Bühnendrama und Oper verräth und sich mehr als eine Oper mit geistlichem Texte giebt.

Ein zweites, um dieselbe Zeit geschaffenes Oratorium behandelt statt einer biblischen eine weltliche Dichtung und schließt, während »Esther« eine neue Reihe religiöser Kunstgebilde eröffnet, vielmehr eine ältere, dem Leben jener Zeit entsprossene Kunstart vollendend ab. Es ist das die Heiterkeit der classischen Mythologie wiederspiegelnde Schäferspiel »Acis und Galatea«. Den gleichen Gegenstand hatte der Tonsetzer schon früher in Neapel besungen; jetzt gab er ihm eine völlig neue, ungleich reifere Gestalt. Händel's Zeitgenossen erblickten in »Galatea« eines seiner vollkommensten und gleichmäßigst gearbeiteten Werke. Noch heutigen Tages auch ist es in England allgemein gekannt und verbreitet, wogegen ihm bei uns in Deutschland nicht einmal Mozart's Bearbeitung Boden zu gewinnen vermochte. Im Lande der Musik blieb man seltsamerweise einem Kunstwerk fremd, das nicht nur in seinen einzelnen Theilen – wie in dem Terzett oder der letzten Arie Galatea's: »Herz, der Liebe süßer Born«, – sondern als Ganzes das Gepräge der Vollendung trägt und uns den Componisten, dessen ernst pathetische, machtvoll heroische Ausdrucksweise wir vorwiegend kennen, nun zur Abwechslung von anmuthig liebenswürdiger, humoristischer Seite zeigt.

Für den erhabensten Theil seines späteren Kunstschaffens hatte Händel durch die eben genannten kirchlichen und oratorischen Schöpfungen die Keime gelegt und mit ihnen von dem Reiche Besitz ergriffen, dessen unumschränkte Herrschaft ihm vorbehalten war. Doch kehrte er, bevor er sich ihm dauernd und ausschließlich zuwandte, noch für längere Zeit zur Oper zurück, die ihm zwar nur der Durchgang zum Oratorium sein, ihm dennoch aber eine ungleich entwickeltere Charakteristik und erhöhte Tüchtigkeit der musikalischen Construction verdanken sollte.

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Anmerkungen:

  1. Sie, die ganz in Vergessenheit gerathenen, wurden uns jüngst sammt einer Reihe von Arien durch Robert Franz' Bearbeitung (Leipzig, Kistner) von Neuem zugänglich gemacht.
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