Als Händel im Sommer 1703, »reich an Fähigkeit und gutem Willen«, den Hamburg'schen Schauplatz betrat, war dessen eigentlichste Blütezeit zwar bereits vorüber. Nichtsdestoweniger fand er eine Reihe schöner Geister dort versammelt; unter ihnen den erwähnten Mattheson, der als erster Tenorist am Theater und zugleich als gesuchter Claviermeister, dabei auch Kritiker und Componist, thätig war. Durch ihn ward, seinen eigenen Mittheilungen zufolge, der Neuankommende »in den dortigen Orgeln und Chören, in Opern und Concerten« u.s.w. eingeführt. Händel spielte anfangs die zweite Violine im Opern-Orchester und »war auf solchem Instrument nicht stärker als ein Ripienist« [1], wogegen er sich als Clavierspieler »als ein Mann bewies«. »Er setzte zu der Zeit« – so hören wir Mattheson weiter berichten – »sehr lange, lange Arien und schier unendliche Cantaten, die doch nicht das rechte Geschicke oder den rechten Geschmack, obwohl eine vollkommene Harmonie hatten, wurde aber bald durch die hohe Schule der Oper gantz anders zugestutzet. Er war starck auf der Orgel: stärcker als Kuhnau, in Fugen und Contrapuncten, absonderlich ex tempore; aber er wuste sehr wenig von der Melodie, ehe er in die hamburgische Opern kam. Es wurde im vorigen Seculo fast von keinem Menschen an die Melodie gedacht; sondern alles zielte auf die blosse Harmonie.« Ziemlich selbstgefällig hebt der seine eigene Person gern in den Vordergrund stellende Biograph hervor, daß er ihm »alle nur ersinnliche Wohlthaten, so wohl was den Tisch und Unterhalt, als auch was die Anpreisung seiner Person betraff«, erwiesen und ihm »im dramatischen Styl keine geringen Dienste« geleistet habe. Daß er dem jüngeren Kunstgenossen von dem eigenen Ueberfluß einige Lectionen zuwandte und überhaupt eine gewisse Vormundschaft über ihn ausübte, schlug er sich, so scheint es, zum nicht geringen Verdienste an. Gleichwol reichte Händel's Ruf als Orgelspieler schon damals so weit, daß er als Bewerber um die Nachfolge Buxtehude's, des berühmten Lübecker Organisten, der auf Bach's Kunst bedeutsamen Einfluß gewann, auftreten konnte. Nur an seiner Abgeneigtheit, auf die an Annahme der Stelle geknüpfte Bedingung einzugehen und die sehr unjugendliche Tochter des alten Meisters als Frau heimzuführen, scheiterte seine Bestallung.

Vorübergehend erlitt inzwischen das gute Einvernehmen zwischen Händel und Mattheson durch eine heftige Scene, die sich öffentlich abspielte und leicht eine tragische Wendung genommen hätte, eine Unterbrechung. Ein Streit um den Dirigentenplatz am Flügel, bei dem Mattheson mit Fug und Recht den Kürzeren zog, gab die Veranlassung, daß die Beiden, auf's Aeußerste erbittert, nach Ausgang der Oper mit den Degen, die sie nach damaliger Sitte an der Seite trugen, auf einander losgingen. Ein breiter Metallknopf an Händel's Rocke nur rettete diesem durch eine glückliche Fügung das Leben, indem Mattheson's Klinge daran in Stücke brach. So ging die Sache ohne schlimmere Folgen vorüber und die beiden Duellanten wurden, wenn wir Mattheson's Erzählung Glauben schenken dürfen, »bessere Freunde« als zuvor.

Eine andere Bekanntschaft, die Händel in Hamburg machte, gab die Anregung zu seiner ersten größeren Composition. Postel, ein als Bundesgenosse Keiser's beliebter Singspieldichter, brachte für ihn eine Passion nach dem 19. Capitel des Evangeliums Johannis in Reime. Zu eben dieser Zeit (1704) hatten die Hamburger durch Hunold und Keiser eine neue Art Passionsoratorium erstehen sehen, bei welcher der musikalischen Composition eine freie Dichtung zu Grunde gelegt und weder die Gemeinde mit dem Kirchenliede, noch der Evangelist mit dem Bibelworte betheiligt war. Von dieser letzten, von der Kanzel herab viel geschmäheten Neuerung hielten sich Händel und sein Dichter fern. Der Choral nur wurde ausgelassen, der biblische Text im Munde des Evangelisten blieb beibehalten. Sehr widersprechend ist diese Arbeit Händel's beurtheilt worden. Mattheson erblickt in ihr, laut seiner Critica musica (Hamburg, 1725), ein Beispiel, wie man die Passion nicht componiren dürfe, wogegen Winterfeld [2] in den Chören »den gereifteren Meister« erkennen will. Nur schüchtern gleichwol und wie aus weiter Ferne deuten die Letzteren, obschon sie namentlich im Schlußsatz noch das Beste vom Ganzen bringen, auf die spätere Meisterschaft hin. Das Werk kennzeichnet sich als nicht mehr und nicht weniger als eine Jugendarbeit, in der sich Gelungenes neben Unfertiges stellt und neben den Zügen einer ungeübten Hand sich wiederum eine überraschende Sicherheit bekundet.

Ungleich bedeutsamer war des Künstlers erster dramatischer Versuch: die dreiactige Oper »Almira«, die am 8. Januar 1705 auf der Hamburger Bühne zum ersten Male in Scene ging und als sein »Hamburgisches Meisterstück« bezeichnet werden durfte. Verfasser des nach einem italienischen Originale bearbeiteten Textbuches war ein Theolog Namens Feustking, ein ungehobelter, gemeiner Gesell, dessen persönliche Mißliebigkeit sein Libretto büßen mußte. Es gab das Signal zu einem Federstreit, der Hunderten von Flugschriften das Leben gab, deren roher, gehässiger Ton die unerquicklichste Lectüre gewährt und Händel's erste Dichter und Kritiker in einem traurigen Lichte zeigt. Das Interesse für das neue Werk war indessen hierdurch, wie durch den vielbesprochenen Zweikampf zwischen dem Componisten und dem ersten Tenoristen, schon im Voraus derart rege geworden, daß, bevor noch ein Ton desselben öffentlich erklang, das Textbuch bereits in drei Auflagen verkauft worden war. Mit einem Schlag ward Händel eine bekannte Persönlichkeit. Und seine »kunstreiche Musik erlangte«, wie es heißt, »honéter Gemüther approbation«; ja, sie ergriff so lange ausschließlich von der Hamburger Bühne Besitz, bis eine neue Oper desselben Meisters sie ablöste. Dem Geschmack der damaligen Hamburger Opernrichtung folgend und Keiser's kleine liedartige Formen zum Theil beibehaltend, während für die dazwischen geschobenen italienischen Arien Scarlatti vorbildlich ist, trägt »Almira« doch schon gewisse Eigenthümlichkeiten von Händel's späterem Stile an sich. Seine größere, ernstere Natur verleiht dem galanten Liederspiel seines Vorgängers einen kräftigeren Zug und befähigt ihn (wie in der Partie der Titelrolle) in höherem Grade zu charaktervoller Zeichnung. Ganz die kühne, glanzvolle Weise des späteren gereifteren Künstlers prägt sich bereits in der Ouverture aus, wie er überhaupt gegenüber den Instrumenten eine frühere Herrschaft als den Gesangformen gegenüber an den Tag legt. So gewahren wir in einem Orchesterstück (der Sarabande des ersten Actes) den Keim zu dem herrlichen Gesang »Lascia ch'io pianga«, den wir aus der späteren Oper »Rinaldo« kennen und lieben. Nahezu die Hälfte der Tonsätze der »Almira« fand, wie Händel dies häufig that, späterhin in mehr oder minder verwandelter Gestalt in anderen Werken des Künstlers eine Stelle. So diente die Ouverture mit einem neu hinzugefügten Tanzgebinde später der Oper »Rodrigo« zur Eröffnung und ging in dieser Form wiederum (1732) in Jonson's »Alchymisten« über. Was ihm in seinen früheren Werken lebensfähig schien, erfuhr später eine Umbildung oder wurde in größere Werke verarbeitet. Er ließ nichts verloren gehen, und so kann man, wie Chrysander bemerkt, bei ihm auch nur in antiquarischer Hinsicht von verschollenen Jugendwerken sprechen. Geistig verstanden ist Alles erhalten. Eine Eigenthümlichkeit Händel's auch war es, öfters fremde Gedanken, die ihm zusagten und ihm in ihrer Originalgestalt nicht voll entwickelt dünkten, zu benutzen und mit der gleichen Sorgfalt auszugestalten, mit der er seine eigenen, so lange sie noch mangelhaft waren, immer wieder von Neuem umbildete.

Die »Almira« feierte übrigens in unseren Tagen und zwar bei der 200jährigen Jubelfeier der Hamburger Bühne und später in Leipzig, in neuer Einrichtung von Fuchs [3], eine erfolgreiche Auferstehung und bezeugte sich noch immer fähig, die Musikfreunde zu interessiren und zu erfreuen.

Kürzester Frist nur hatte bei der außerordentlichen Fruchtbarkeit seines Schaffens Händel zur Vollendung seiner ersten Oper bedurft. Nicht minder schnell ging ihm nun auch die Förderung der zweiten von der Hand. Wenige Wochen nach Erscheinen der »Almira«, während diese noch ununterbrochen die Theilnahme der Hörer lebendig erhielt, machte er den Hamburgern seinen »Nero, oder die durch Blut und Mord erlangte Liebe« zum Geschenk. Die Partitur des am 25. Februar 1705 zum ersten Male vorgeführten Werkes ist verschollen. Das Textbuch hatte, als ein Product Feustking's, wiederum eine ganze Literatur im Gefolge. Sein Hauptgegner Feind machte sich anheischig, aus demselben »allein über 1000 Fehler vorzubringen«, und Chrysander bestätigt, daß ihm unter den ihm bekannt gewordenen Operntexten jener Zeit nur wenige vorgekommen seien, in denen sich »sittlicher Stumpfsinn in einem noch höheren Grade ausgebildet« finde. Der Componist selber aber that in Bezug auf dies dichterische Machwerk die bezeichnende Aeußerung: »Wie soll ein Musikus was Schönes machen, wenn er keine schönen Worte hat? Darum hat man bei Componirung der Opera Nero nicht unbillig geklagt: Es sey kein Geist in der Poësie und man habe einen Verdruß, solche in Music zu setzen.« Nichtsdestoweniger war der Erfolg des »Nero« gleich dem der vorausgegangenen »Almira« ein so großer, daß die Eifersucht Keiser's darob rege ward. Den Beifall, mit dem man den jungen Tonhelden begrüßte, empfand der durch zehnjährige Gunst Verwöhnte umsomehr als Zurücksetzung, als Stimmen laut wurden, welche behaupteten, er habe sich mit seinem »zärtlichen Singsang« ausgeschrieben und werde nun frischeren Kräften weichen müssen. Auch sein und seiner Genossen allgemein bekannter und verabscheuter anstößiger Lebenswandel ward ihm neben Händel's fester, schlichter Sittlichkeit jetzt zum Vorwurf gemacht. In jeder Beziehung sah er sich von jenem in Schatten gestellt. Am empfindlichsten war es Keiser, daß er selber ursprünglich die Composition der »Almira« beabsichtigt und sie unbedachter Weise dem ihm erstehenden jungen Rivalen überlassen hatte. Das Gerathenste, um diesen schleunigst unschädlich zu machen, schien ihm, die von ihm componirten Singspiele sofort selbst noch einmal zu componiren. Mit dem »Nero« wurde der Anfang gemacht. Als »Octavia« umgetauft, war er die erste Oper, die nach Ablauf der Fastenzeit dem Concurrenzwerk folgte. Ihren Zweck aber erreichten diese und zwei weitere Keiser'sche Arbeiten trotz aller zu Hülfe genommenen Reclame eben so wenig wie die neue »Almira«. Als sie 1706 den vernichtenden Schlag gegen Händel führen sollte, statt dessen aber gleich den vorangegangenen Singspielen völliger Gleichgültigkeit des Publicums begegnete, war Keiser selber nicht mehr Zeuge seiner Niederlage. Er hatte, als der Held eines unsauberen Romans, der sich zu eben der Zeit abspielte, für besser befunden, dem Schauplatz desselben zu entfliehen und das Weite zu suchen.

Vorgänge so widerwärtiger Art verleideten Händel begreiflicherweise den Aufenthalt in Hamburg; doch ergriff er nirgend Partei, er verschmähte es, der Herold seines eigenen Ruhmes zu sein. Ruhig ließ er die Dinge ihren Gang gehen. Mit dem Theater stand er nach Aufführung seiner ersten Opern in keinem Zusammenhang mehr. Nur mit Stundengeben verdiente er sich sein Brod. Einfach in seinen Gewohnheiten, sein ganzes Streben nur nach einem Ziele richtend, verstand er mit Wenigem auszukommen und während seine Genossen um ihn her praßten, zu sparen. Tapfer hatte er seit dem Abschied aus der Heimat sich auf die eigenen Füße gestellt. Der Mutter war er nie mehr beschwerlich gefallen; ja einen Wechsel, den sie ihm in der ersten Zeit nachsandte, konnte er, sogar durch ein eigenes kleines Geschenk vermehrt, ihr zurückgeben. Er gab gern, und Dankbarkeit war seinem Herzen tief eingeboren; nicht minder aber auch das Bestreben, sich selbständig durch die Welt zu helfen. Von seinen bescheidenen Einkünften legte er sich in den Jahren 1704–6 zweihundert Ducaten als Sparpfennig zu einer italienischen Reise zurück. Denn nach Italien drängte es ihn mit Allgewalt. Was Hamburg als Mittelpunkt der norddeutschen oder vielmehr der wesentlich deutschen Musik, der es in jenen Jahren war, ihm zu geben hatte, das hatte es ihm gegeben. Jetzt stieg die Kunst dort von ihrer Höhe herab. Eine allgemeine, von der Geistlichkeit genährte Mißstimmung erhob sich gegen das Aergerniß erregende Leben der Operisten; städtische Wirren kamen hinzu – das Interesse an der Bühne schwand. Die Leitung derselben gerieth nach Keiser's Fortgang (er kam später nach Hamburg zurück und wirkte daselbst noch 25 Jahre lang mit gewohnter Fruchtbarkeit) in die Hände eines Speculanten Saurbrey, für den Händel während der letzten Monate des Jahres 1706 noch die beiden verloren gegangenen Singspiele »Florindo« und »Daphne« schrieb. Als sie im Januar und Februar 1708 ihre erste Darstellung erlebten, weilte ihr Autor aber schon seit Jahresfrist in Italien. Der innere Drang nach reifer Kunst und einer besseren Umgebung, sowie, Mainwaring's Erzählung zufolge, gleichzeitig die nachdrückliche Aufforderung eines toscanischen Prinzen, riefen ihn dahin. So trat er denn aus dem engeren Verbande deutscher Musik heraus, um durch Berührung mit dem entwickelteren Kunstleben eines fremden Volkes seinen Genius zu befruchten und ihm zur Entfaltung seiner Größe und Universalität zu verhelfen.

Mehr als gegenwärtig war Italien zu Anfang des achtzehnten Jahrhunderts das Wallfahrtsziel aller Gebildeten und zumal der Musiker unseres Vaterlandes. Seit länger als hundert Jahren waren die Letzteren gewöhnt, nach Welschland als auf den Sitz der musikalischen Meisterschule zu blicken, und Heinrich Schütz, einer der Ersten, die unsere nationale Tonkunst selbständige Bahnen leiteten, äußerte noch 1648 in seinen »Musicalia ad Chorum sacrum«, daß man die rechte musikalische hohe Schule in Italien suchen müsse. Uneingedenk der eigenen meisterlichen Leistungen, weist er Jedermann »an die von allen vornehmsten Componisten gleichsam Canonisirte Italienische Classicos Autores, deren fürtreffliche und unvergleichliche Opera denen jenigen, die solche absetzen und mit Fleiß sich darinnen umbsehen, in einem und dem andern Stylo als ein helles Liecht fürleuchten werden.« Seit die Niederländer Herrschaft und Weiterbildung der Tonkunst in die Hände der Italiener niedergelegt, hatten dieselben die Mission übernommen, sie durch Schöpfung vieler neuer Grundformen mit den wesentlichsten Verbesserungen zu bereichern und zur Selbständigkeit einer schönen Kunst zu erheben. Hatte sich die Musik unter niederländischer Pflege mehr nach einer künstlichen harmonisch-contrapunktischen Richtung hin entwickelt, so entsprach es der Natur des mit dem feinsten Formen- und Schönheitsgefühl ausgestatteten, durch eine lange Cultur erzogenen italienischen Volkes, derselben vielmehr den Lebensgeist der Schönheit und durchsichtigen Klarheit einzubilden. Die Italiener und nur sie, die natürlichen Erben der antiken Kunst, allein, waren zu solcher Neu- und Weiterbildung künstlerischer Formen, wie in allen Künsten so auch in der Musik, berufen. Und anderthalb Jahrhundert arbeiteten sie, dieser Bestimmung getreu, an deren Vervollkommnung. Dann, als das musikalische Formenwesen hinlänglich entwickelt und geschmeidigt erschien, um zur Aufnahme des tiefsten und erhabensten Empfindungs- und Gedankengehaltes befähigt zu sein, blieb es dem Genius einer anderen Nation vorbehalten, ihm diesen zu verleihen und die Tonkunst höchsten Höhen und Zielen zuzuführen. In der kirchlichen Kunst, in der sie unter Palestrina, ihrem Größten, auch ihr Größtes geleistet hatten, traten die Italiener zuerst das Regiment an die Deutschen ab, an deren Spitze Bach und Händel einherschritten. In der Oper behaupteten sie dasselbe trotz Gluck's Reformen, bis Mozart sie »mit ihren eigenen Waffen faßte.« Bach, der eminent nationale urdeutsche Meister, konnte der italienischen Schule entrathen. Aus der deutschen Orgelkunst mit all' seinen Lebensfasern herausgewachsen, fand er, ob er daneben auch vielfältig fremdländischen Einflüssen Eingang verstattete, in ihr den Hauptquell und lebendigen Mittelpunkt seines Schaffens. Einem anderen Ideale folgte der universalere Händel. Während Bach die Musik an das Gotteshaus bannt, führt er sie vielmehr aus dem Tempel hinaus in die große Welt und schafft dabei die Töne der Andacht zu einer allen Völkern verständlichen Sprache des geistigen Lebens um. Sein Künstlerthum mußte, um zum Weltkünstlerthum zu werden und die geistigen Errungenschaften anderer Völker in sich aufzunehmen, sich in Italien Maß und Reise gewinnen.

Vornehmlich um die dortigen, allüberall in voller Blüte stehenden Operntheater kennen zu lernen, begab sich Händel dahin auf die Reise. Jede italienische Stadt hatte damals ihre öffentlichen Singbühnen; jeder Hof, jeder Reiche seine Capellen und besonderen Opern. An trefflichen Componisten, Dichtern und Sängern mangelte es ebensowenig als an einem verständnißvollen dankbaren Publicum, das die Künstler ehrte und lohnte und durch seine Gunstbezeigungen zum Wetteifer anspornte. Nach Florenz, der Geburtsstätte der dramatischen Tonkunst, zog es den deutschen Meister zunächst. Wir wissen, daß er die ersten Monate 1707 daselbst verbrachte. Nicht als Dramatiker jedoch stellte er sich hier für's Erste vor. Wie gemeinhin diente der Virtuos dem Componisten zur Einführung. Clavier-, Violin-, und Orgelstücke, Lieder mögen hier wie in Hamburg entstanden sein. Auch etwa ein Dutzend Solo-Cantaten setzt Chrysander in diese Periode. Unter ihnen gewann »La Lucrezia«, die, trotz einer gewissen Ungelenkigkeit in Behandlung der italienischen Sprech- und Singweise, durch Leidenschaft und Größe wie theilweise auch Neuheit der Auffassung imponirte, die weiteste Verbreitung. Im Ganzen haben wir es in den derartigen Werken des Tonsetzers mehr mit Skizzen als mit ausgeführten Arbeiten zu thun.

Erst nachdem Händel sich während eines längeren römischen Aufenthaltes mit Composition mehrerer lateinischer Kirchenstücke (der Psalmen 109, 126 und 112) auch auf dem Gebiet der Kirchenmusik wiederum versucht, mit denselben aber augenscheinlich die Ueberzeugung erlangt hatte, daß seine Tonsprache hier nicht ihre eigentliche Heimat fand, debütirte er im Herbst 1707 auf der Florentiner Bühne als Autor einer italienischen Oper »Rodrigo«. Mit allgemeiner Spannung und Ungeduld blickte man daselbst einem neuen Werke entgegen, von dessen Schöpfer man keine geringe Meinung hegte. Trotz seiner eignen begründeten Besorgniß, daß seine Fremdheit der italienischen Ausdrucks- und Satzweise gegenüber ihn an der vollen Entfaltung seiner Kräfte hindern werde, wurde der Oper eine äußerst beifällige Aufnahme zu Theil. Sie trug ihm außer goldenem Lohn sogar die Liebe seiner Primadonna, Vittoria Tesi, ein, die in jener Zeit der höchsten Blüte der Gesangskunst als eine der größten Sängerinnen ihres Jahrhunderts gefeiert wurde. Für sie, deren großartige darstellerische Kraft nicht minder gerühmt wird, ist die Partie der Agrippina, die Hauptrolle der gleichbenannten Oper, geschrieben, die er 1708 für das Teatro San Crisostomo in Venedig schuf. Eigens kam sie nach Venedig, um sie zu singen. Doch wird uns nichts davon erzählt, daß die Erfolge, die die Künstlerin ihm ersingen half, sie seinem Herzen näher brachten. Ihm, der die Empfindungen des menschlichen Gemüths so feurig in Tönen schilderte, blieben, so scheint es, Frauengunst und -Neigung allzeit geringen Preises werth. Dauernde Fesseln wenigstens nahm er nie auf sich, und seiner Unabhängigkeitsliebe opferte er die Freuden des häuslichen Herdes und der Familie. Zweimal zwar soll er bereit gewesen sein, Schülerinnen von hohem Rang und Vermögen, deren Herz er gewann, seine Hand zu bieten; als man aber das Verlangen an ihn stellte, seinem »Fiedlerthum« zu entsagen, trat er stolz zurück. Er starb unvermählt.

»Entweder ist das Händel oder der Teufel«, soll Scarlatti, als sich der deutsche Meister bei einer Maskerade verhüllten Angesichtes auf dem Flügel hören ließ, ausgerufen haben. »Geheimen Teufelskünsten« schrieben ja die aber gläubischen Italiener seine Meisterschaft vielfältig zu. Wol durfte auch der Sieg des jungen deutschen Künstlers über die berühmtesten lebenden Componisten, die auf der genannten venetianischen Bühne seine unmittelbaren Vorgänger waren, in der That Wunder nehmen. Antonio Lotti, Alessandro Scarlatti, die gefeierten Häupter der venetianischen und neapolitanischen Tonschule, Caldara u.A. hatten für dieselbe geschaffen, und keinen Geringeren als ihnen that Händel es im Erfolge nun zuvor. Neu war schon die schwungvolle Weise der Ouverture, der gesteigerte Vollklang, das sich schon hier bemerkbar machende Bestreben, den Blasinstrumenten auf der italienischen Bühne vermehrte Geltung zu verschaffen. Ebenso überraschend als gewinnend aber wirkte neben der melodischen Kraft die charakteristische Wahrheit seines Ausdruckes, wie sie vorzugsweise in den gegensätzlich gezeichneten beiden weiblichen Hauptpartien (Agrippina und Poppea) hervortritt. Noch zeigt das Ganze als Gesammtwerk nicht jene Reife der Durchbildung, jene Sicherheit der Formgebung, jenes Ebenmaß in allen Theilen, das wir an den Schöpfungen des vollendeten Meisters bewundern; aber der darin niedergelegte melodische Reichthum war groß genug, um nicht nur beim ersten Erklingen schon den »ausschweifendsten Beifall« hervorzurufen, sondern um auch dem Tonsetzer selber als ergiebige Fundgrube noch weiterhin zu verwerthender und auszubildender Tongedanken zu dienen. Wiederholt (zuletzt noch im »Josua«) machte er z.B. von der berühmt gewordenen Arie »L'alma mia« Gebrauch. Desgleichen von einer zweiten Arie der Agrippina: »Ho un non so che«, die in London der Oper »Pyrrhus« von A. Scarlatti eingeschoben wurde und lange Zeit als Composition des Letzteren galt. Beide Arien empfingen auch in dem Oratorium La resurrezione einen Platz, das Händel im April 1708 für das Osterfest in Rom schrieb. Denn an letzteren Ort wandte sich der wanderlustige Künstler jetzt abermals. An der Lockung, nach Hannover und London zu kommen, die aus der Umgebung des Prinzen Ernst August von Hannover laut ward, nachdem derselbe dem sensationellen Erfolg der »Agrippina« beigewohnt, ging er für jetzt vorüber, sie für später im Auge behaltend. Gegenwärtig lag ihm mehr als alles Andere die Verfolgung seiner Zwecke in Italien am Herzen.

Inmitten der Vornehmen und Mächtigen des Landes, von Reichthum und einem jetzt kaum mehr geahnten geselligen Glanze umgeben, finden wir Händel in Rom. Er genießt hier die Gastfreundschaft des Marchese Ruspoli, eines der ersten der römischen Großen und emsigen Beschützers der schönen Künste, welcher um eben diese Zeit in gastfreier Weise seinen schönen Garten am Monte Esquilino jenerAcademia Arcadia als Versammlungsort geöffnet hatte, die, von Dichtern, Gelehrten und Geistlichen zur Pflege der Volkspoesie und Beredtsamkeit 1690 gestiftet worden war. Ueber ganz Italien verbreitet, zählte der die phantastisch tändelnde Empfindsamkeit dieser Gesellschaft und Epoche wiederspiegelnde Schäferorden Päpste, Cardinäle, Königinnen, Fürsten und Edle mit ihren Frauen, hohe Geistliche, Gelehrte und Künstler zu seinen Mitgliedern. Die Musik war durch die angesehensten einheimischen Namen, Corelli, Alessandro Scarlatti, Benedetto Marcello u. A., vertreten. Der officiellen Aufnahme Händel's stand nur seine Jugend im Wege: er hatte das vorschriftsmäßige Alter von 24 Jahren noch nicht erreicht. Doch trat er in nahe Beziehung zu den Arcadiern und wußte sich ihnen mannigfach nützlich zu machen, sie auch auf seine Weise (z.B. in der Cantate Olinto pastore, Tebro fiume, Gloria) zu feiern.

Wichtiger für ihn noch war die mit dem Schäferbund zwar nicht zusammenhängende aber ihm doch nahe stehende Academie, die in der Person des Cardinals Ottoboni ihren Mittel- und Vereinigungspunkt hatte. Bei den wöchentlichen Zusammenkünften in seinem Palaste, unter der Aegide dieses fürstlichen Protectors aller Musiker und Oberaufsehers der päpstlichen Capelle, war die Musik Hauptgegenstand der Unterhaltung. War doch ohnehin, wie zwei Jahrhunderte früher unter Leo X. der Malerei, so jetzt der Tonkunst die allgemeine Gunst und Pflege zugewandt. Der Leitung Corelli's, des berühmten Instrumentalcomponisten und Vaters aller späteren Geigenspieler, unterstellt, wirkten die ersten Künstler der Welt hierbei mit; jeder neuen Größe trachtete man sich zu versichern. Auch was der »Signor Sassone« – so nannte man Händel in Italien – von bedeutenderen Tondichtungen in Rom vollendete, wurde in Ottoboni's Academie zur Aufführung gebracht. Es umfaßt – da in Ermangelung eines Operntheaters alles Dramatische ausgeschlossen bleiben mußte – als Wesentlichstes die oratorischen Werke La resurrezione (Die Auferstehung) und Il trionfo del tempo e del disinganno (Der Triumph der Zeit und der Wahrheit), sowie eine Reihe weltlicher Cantaten, die eigens für die römische Capelle geschrieben wurden. Wie sehr der Verkehr mit ihr dem jungen Künstler namentlich bei Behandlung der Instrumente zum Vortheil gereichte, das wird hier ersichtlich. Für Virtuosen ist Alles in der Ausführung berechnet, dabei aber frisch, feurig und glänzend, voll Sang und Klang. Seiner objectiven Art gemäß, auf Stil und Spielart der römischen Künstler eingehend, den Geist der römischen Gesellschaft in seinem Schaffen reflectirend, bleibt Händel sich doch immer selber treu und lehrt, indeß er selbst bei ihnen in die Schule geht und deutscher Charakteristik italienische Formenschönheit verbindet, den Italienern in italienischer Form germanisches Wesen kennen und lieben.

Ueber die Schwierigkeit seiner Musik und namentlich seiner im französischen Stil angelegten Ouverturen verlautete gleichwol seitens der Ausführenden manche Klage. Der französischen Kunst fremd, an die gefällige Anmuth ihrer heimischen Weise gewöhnt, vermochten sie für die sprühende Kraft der Händel'schen Tonsprache so schwer den rechten Ausdruck zu finden, daß im Verdruß darüber »il caro Sassone« dem dirigirenden Corelli gar einmal die Geige aus der Hand riß, um ihn durch einige energische Bogenstriche über die richtige Auffassung aufzuklären. Ja, die Ouverture zu Il trionfo del tempo, deren Wiedergabe auf allzu große Schwierigkeiten stieß, mußte er auf Corelli's Wunsch durch eine mehr im italienischen Geschmack gehaltene Symphonie ersetzen.

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Anmerkungen:

  1. Im Gegensatz hierzu sagt ein anderer Zeitgenosse Händel's, Hawkins (A general history of music. V. London, 1776), vielmehr, daß sich die besten Meister seine Art zum Muster nehmen konnten.
  2. Evangelischer Kirchengesang. III.
  3. Partitur und Clavierauszug Leipzig, Kistner.
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