Da Schubert noch nie eine Oper gehört hatte, bot Spaun ihm während der Ferien auch dazu Gelegenheit. Bei den bescheidenen Mitteln, über die er verfügte, mußten die Freunde freilich – so erzählt er – »ihr Hauptquartier im fünften Stock aufschlagen«. »Die Schweizerfamilie« von Weigl, Cherubinis »Medea«, »Johann von Paris«, »Aschenbrödel« usw. entzückten Franz; »glühend verließ er immer das Theater. Über alles aber ergriff ihn ›Iphigenia auf Tauris‹ von Gluck.« Auch »Fidelio« lernte er kennen und lieben. Die auf der Bühne gewonnenen Eindrücke forderten ihn selbst zu dramatischem Gestalten auf, und nachdem Salieri dem sechzehnjährigen Jüngling gesagt hatte, er könne nun schon eine Oper schreiben, blieb er eine Zeit lang vom Unterricht weg, um dem erstaunten Maestro sodann die Partitur einer dreiaktigen Oper: »Des Teufels Lustschloß« (von Kotzebue) vorzulegen.
Nach fünfjährigen Studien verließ Schubert Ende Oktober 1813 das Konvikt und kehrte in das Elternhaus zurück. Um der Militärpflicht zu entgehen und wohl mehr noch, um sich dem Gebot seines Vaters gehorsam zu zeigen, trat er als Hilfslehrer in dessen Elementarschule ein. Kindern die Anfangsgründe im Lesen, Schreiben und Rechnen beizubringen, das war nun drei Jahre lang das Los eines Genies, das im Jahre 1814 bereits ein Lied wie »Gretchen am Spinnrad«, 1815 den »Erlkönig« zu schaffen vermochte. Unter härtesten Kämpfen nur verstand sich Schubert zu einem Beruf, dessen bleierner Druck seiner nach Freiheit dürstenden Künstlerseele unerträglich dünkte. Doch weichen, passiven Naturells, wenig tatkräftig, wie er war, nahm er den Kampf mit den Verhältnissen nicht auf, er unterwarf sich ihnen. Welches Märtyrertum mochten diese Jahre für ihn umschließen! Und dennoch, selbst in aller Nüchternheit und Enge, unter allem Druck und Zwang seines äußeren Lebens schöpfte sein Genius aus reichem Born und trank nie versiegende Fülle und ewiges Genügen. Gewiß war Schubert nichts weniger als ein Idealist, auch nicht was die Welt einen Träumer nennt. Der stillen Weise süßer Träumerei, wie wir sie an Schumann und Chopin kennen, begegnen wir bei ihm nirgends. Das schwelgende Versinken in Träume ist ein Produkt jüngerer, selbstsüchtigerer Tage, von dem die klassische Welt nichts weiß, in der Franz Schubert geboren ward. Sein Wesen haftete am Natürlichen, ein realer, kräftiger Pulsschlag durchströmte dasselbe und ließ sein gesundes Sinnenleben sich nicht verlieren in schattenhaften Traumgebilden. War er doch das echte Kind Wiens, seiner schönen Vaterstadt, deren Wesen und Natur er wie kein anderer zu tönendem Ausdruck brachte. Die naive Lebenslust, die leichtlebige natürliche Art, der liebenswürdige Mutterwitz, die Gemütswärme und Phantasiefülle, die den Wiener charakterisieren, finden in seinen goldnen Melodien ihren treuen Widerhall. So haben seine Schöpfungen sich nicht losgelöst vom Boden der Wirklichkeit, irdischer Schmerz und irdische Freude atmen in ihnen und ergreifen uns mit der unwiderstehlichen Macht der Wahrhaftigkeit. Wie seinem Leben freilich das Mißgeschick ein treuerer Gefährte war als das Glück, so sind ihm aus tränenreicher Saat auch die Mehrzahl seiner unvergänglichsten Gebilde aufgegangen. Keine Spur ist bei ihm von der nervösen Reizbarkeit, der wir so häufig bei Musikern begegnen. Es ist ein gesunder, kein kranker, selbstgeschaffener Schmerz, der durch seine Weisen hindurch klingt. Seine Natur war zu einfach und schlicht, um sich grübelnd in sich selber zu vertiefen. Er war nicht zum Denker geboren, und der einfache Bildungsgang, den er durchschritt, hat ihn nicht dazu werden lassen. Das Maß einer gewöhnlichen Durchschnittsbildung seiner Zeit, nicht mehr und nicht weniger war sein Teil. Seine Studien reichten, nach seines Freundes Bauernfeld Zeugnis, kaum über das Gymnasium hinaus, und er blieb sein kurzes Leben hindurch Autodidakt. Wie er in seinem Fache aber die Meister und Muster kannte, war er auch in der Literatur – seine charakteristische Auffassung und Wiedergabe der verschiedenen Dichterindividualitäten beweist es – keineswegs unbewandert. Nur der Dichter kann den Dichter so verstehen. Freilich nicht Worte, sondern Töne waren seine natürlichste Sprache, und wenn sich in den uns vereinzelt erhaltenen Tagebuchfragmenten (von 1816 und 1824), Gedichten und Briefen eine gewisse Ungelenkigkeit des Ausdrucks bemerkbar macht, so ist seine melodische Beredsamkeit um so überströmender. Wo haben die Leichtigkeit und Massenhaftigkeit seines Schaffens in der Geschichte der Tonkunst ihresgleichen? Phantasiebegabt bis zum Überfluß, einer strengen methodischen, ihm Maß und Selbstkritik anbildenden Zucht entbehrend, wie sie beispielsweise Mozart und Mendelssohn geleitet, vollzog sich seine künstlerische Entwicklung nicht wie bei jenen in stetigem harmonischen Fortschreiten, sondern rasch und unaufhaltsam. Gelangten demgemäß jene in aller Frühe zu großer formeller Meisterschaft, so daß ihre ersten Werke mehr von der Freude am Spiel mit Formen als von einem individuellen Inhalt erzeugt zu sein scheinen, so macht sich bei Schubert vielmehr zeitig eine Fülle des Gehaltes geltend, die nur langsam und allmählich der knappen Form sich fügt. Seinen quellenden Melodienreichtum den Formenschranken anzupassen, wurde ihm außerhalb des Liedes immerdar sauer, und die ihm abgehende Beherrschung seines Genies blieb der einzige Mangel seines wunderbar reichen künstlerischen Wesens.
Wohl hat Salieri, bei dem Schubert auch nach seinem Abgang vom Konvikt seine Studien bis 1817 fortsetzte, zum Teil die Verantwortung dafür zu tragen. Überhaupt kann man nicht behaupten, daß er der rechte Lehrer für ihn gewesen sei. Verlangte er doch, wie Spaun erzählt, von ihm, daß er sich nicht mehr mit der barbarischen deutschen Sprache befasse, sondern italienische Gedichte in Musik setze – eine Forderung, die sein Schüler damit beantwortete, daß er in seinem kurzen Leben mehr denn 600 deutsche Lieder komponierte. Nichtsdestoweniger legte Schubert so ersichtlichen Wert auf den Unterricht des seiner Zeit hochberühmten Meisters, daß er sich bei vier Werken auf dem Titelblatt den »Schüler des Herrn von Salieri« nennt. Auch dieser war stolz auf seinen Jünger und als derselbe im Jahre 1814, bei Gelegenheit des hundertjährigen Jubiläums der Lichtentaler Pfarrkirche, eine für diesen Zweck geschriebene Messe (in F) unter persönlicher Leitung zur Aufführung brachte, umarmte er ihn nach beendeter Feier hocherfreut mit den Worten: »Franz, Du bist mein Schüler, der mir noch viel Ehre machen wird!«
Zeigen Schuberts erste Symphonien (in D und B) aus den Jahren 1813 und 1814 ihn neben anderen Arbeiten noch derart im Banne seines großen Vorbildes Beethoven, daß es darin zu direkten Anklängen an ihn kommt, so gewahren wir unter der reichen, künstlerischen Ausbeute des nächstfolgenden Jahres 1815 eine Tondichtung, die für seine erlangte Reife und Eigenart, wenigstens auf dem ihm eigensten Gebiete, beredt genug zeugt: den »Erlkönig«. Über dessen Entstehung berichtet Spaun: »An einem Nachmittage ging ich mit Mayrhofer zu Schubert, der damals bei seinem Vater auf dem Himmelpfortgrunde wohnte. Wir fanden Schubert ganz glühend, den Erlkönig aus dem Buche laut lesend. Er ging mehrmals mit dem Buche auf und ab, plötzlich setzte er sich, und in der kürzesten Zeit, so schnell man nur schreiben kann, stand die herrliche Ballade auf dem Papier. Wir liefen damit, da Schubert kein Klavier besaß, in das Konvikt, und dort wurde der Erlkönig noch denselben Abend gesungen und mit Begeisterung aufgenommen. Der alte Hoforganist Ruzicka spielte ihn dann selbst ohne Gesang in allen Teilen aufmerksam und mit Teilnahme durch und war tief bewegt über die Komposition. Als einige eine mehrmals wiederkehrende Dissonanz ausstellen wollten, erklärte Ruzicka, sie auf dem Klavier anklingend, wie sie hier notwendig dem Text entspreche, wie sie vielmehr schön sei und wie glücklich sie sich löse.« Es war dies die scharf dissonierende kleine Sekunde bei »Mein Vater, mein Vater, jetzt faßt er mich an!«, die mit Recht als charakteristisches Wahrzeichen des sich auf dem Gebiet des Liedes oder der Ballade vollziehenden Fortschritts bezeichnet werden konnte.
Was der Tonkunst innerhalb der Schranken des Liedes an Gewalt dramatisch-dämonischen Ausdrucks verliehen ist, hier erscheint es zu hinreißender Wirkung gebracht. Eine neue Weise, wie sie nie zuvor im Lied erklungen, wird hier zum erstenmal angeschlagen. Mögen puritanische Kunstrichter immerhin ob des Zwiespalts zwischen der nordisch herben Einfachheit der Goetheschen Ballade und der südlich blühenden Sinnlichkeit der Musik rechten, die unwiderstehliche Macht dieser genialen Tonsprache wird doch allezeit der ästhetischen Bedenken spotten. Hat nicht auch die Erfahrung der Theorie Unrecht gegeben? Wie kein anderes von Schuberts Liedern trug der Erlkönig seinen Namen in die Welt hinaus und erweckte ihm allerwärts begeisterte Freunde und Verehrer. Nur zum Herzen des Dichters fand diese wundervolle Musik nicht so bald ihren Weg.
Um seinen schüchternen Freund mit Goethe in Verbindung zu bringen, sandte Spaun im April 1817 eine Anzahl von dessen Vertonungen Goethescher Gedichte an den Olympier in Weimar, mit der Bitte, sie ihm »in Untertänigkeit weihen zu dürfen«. Aber eine Antwort darauf erfolgte ebensowenig als auf ein zweites direktes Schreiben Schuberts vom Jahre 1825, das die Goethe gewidmeten Lieder: »An Schwager Kronos«, »An Mignon« und »Ganymed« begleitete. Dasselbe lautet:
»Euer Exzellenz!
Wenn es mir gelingen sollte, durch die Widmung dieser Komposition Ihrer Gedichte meine unbegrenzte Verehrung gegen Ew. Exzellenz an den Tag legen zu können, und vielleicht einige Beachtung für meine Unbedeutenheit zu gewinnen, so würde ich den günstigen Erfolg dieses Wunsches als das schönste Ereignis meines Lebens preisen.
Mit größter Hochachtung
Ihr ergebenster Diener
Franz Schubert m. p.«
Leider sollte dies erhoffte »schönste Ereignis seines Lebens« den sich so unterwürfig vorstellenden großen Tonmeister nicht erfreuen. Während Goethe für die am selben Tag eintreffende Sendung der ihm zugeeigneten Erstlingsquartette seines Lieblings, des sechzehnjährigen Mendelssohn, die herzlichsten Dankesworte fand, hatte er für Schuberts geniale Tonspende nur eine karge Erwähnung in seinem Tagebuch übrig. Von Zelterschen und Reichardtschen Einflüssen befangen, fehlte dem Dichterfürsten das Verständnis für eine musikalische Lyrik unvergleichlich höheren Stils. Nur der unwiderstehlichen Vortragsgewalt einer Schröder-Devrient gelang es, ihm noch kurz vor seinem Hingange (1830) die ihm bis dahin fremd gebliebene Bedeutung von Schuberts »Erlkönig« zu erschließen. Aber der ihn gesungen, lag nun schon im Grabe. Es gehört zur Tragik in Schuberts Leben, daß er, der nach Spauns Worten, »Goethes Dichtungen wesentlich seine Ausbildung zum deutschen Sänger verdankt«, er, der ihnen ins innerste Herz schaute, um ihnen ein verklärendes musikalisches Leben zu leihen, für seine begeisterte Hingabe vom Dichter selbst nur kalte Ablehnung erfuhr. Zählen doch seine Kompositionen Goethescher Gesänge, deren wir über achtzig besitzen, – es sei nur an »Rastlose Liebe«, »Gretchen am Spinnrad«, Mignons »So laßt mich scheinen«, »Wanderers Nachtlied«, »Suleika«, »Haideröslein« erinnert – zu seinen unvergänglichsten Meistertaten.