So ganz sich Franz aber unter den Einfluß des Dichtergeistes stellt, Spur für Spur diesem nachgehend, nie sehen wir ihn darum doch der angeborenen Eigenart Gewalt antun oder die geringste Untreue gegen sie verschulden. Im Gegenteil: sein eignes Angesicht blickt allenthalben hervor, auch wo es sich hinter dem Poeten zu verstecken meint. Franz bleibt immer er selbst, und wir danken es ihm. Gern sehen wir durch seine Dichteraugen und lassen uns seine Lieblinge von ihm deuten; verfährt er doch in der Auslese seiner poetischen Bundesgenossen so wählerisch, daß man seine Texte als eine Mustersammlung moderner deutscher Lyrik bezeichnen durfte. Trivialitäten, wie sie sich vielfach bei Schubert, Sonderbarkeiten, wie sie sich hier und dort selbst bei Schumann, dem feinen Ästhetiker, einschlichen, schlüpfen bei ihm nirgends mit unter. Im ganzen herrschen die schwermütigen Stoffe vor. Tas Still-Träumerische – wie »Aus meinen großen Schmerzen«, »Die Höh'n und Wälder« op. 5, »Treibt der Sommer seinen Rosen« op. 8, »Wasserfahrt« op. 9, »Ein Friedhof« op. 13, »Widmung« op. 14, »Herz, ich habe schwer an dir zu tragen« op. 27, »Es hat die Rose sich beklagt« op. 42, »Die Perle«, »Ich bin bis zum Tode betrübet« op. 48, »Tränen« op. 51, – klingt am ehesten mit seiner Natur zusammen. Weniger steht ihm die jubelnde Lust der Lenzverkündigung zu Gesicht, da seine Freude mehr nach innen als nach außen strahlt; doch geht auch ihm, wie jedem rechten Sänger, das Herz von Liebes- und Lenzesglück über. (»Ach wenn ich doch ein Immchen wär« op. 3, »Frage« op. 14, »Die Harrende« op. 35, »Norwegische Frühlingsnacht« op. 48, »O Herz in meiner Brust« op. 51.) Ihm gelingt auch köstlich Naives, wie »Ihr Auge« op. 1, »Liebchen ist da« op. 5, »Ich habe mir Rosmarin gepflanzt« op. 13, und das entzückende »Gleich und gleich« op. 22; ja selbst zu Humoristischem (»Nun hat mein Stecken gute Rast« op. 36) fühlt er sich vereinzelt gestimmt. Auch auf Erzählendes treffen wir ab und zu (»Romanze« op. 35, »Childe Harold« op. 38); freilich hält sein durchaus undramatisches Genie sich auch hier an die lyrischen Momente und geht aller szenischen Behandlung sorglich aus dem Wege.

Am liebsten sucht er sich bei Heine, Lenau, Eichendorff, Osterwald, Burns seine Texte. Ihren Namen begegnen wir vorwaltend, treffen aber auch auf Goethe, Geibel, Rückert, Waldau, Mörike, Roquette u. a. Heines Anregung danken wir z. B. das ganze opus 34, das Franz selbst zu den ihm liebsten seiner Werke zählte. Seinen Liedern – oft nur »ein Hauch«, wie Goethe will, mehr halbzuerratende Rätsel als klar ausgesprochene Empfindungen, oft wieder trüb resignierte, oder tieferregte, schmerzdurchzitterte Stimmungen – schmiegt sich die zarte Weise des Sängers unsäglich innig an. Auch Lenaus stille Melancholie, Eichendorffs träumerische Romantik berühren verwandte Saiten seines Gemüts. Es sei nur an die »Schilflieder« op. 2, »Bitte« op. 9, oder an »Stille Sicherheit« op. 10, »Ich wand're durch die stille Nacht« op. 35 erinnert! – Seiner Neigung zum Volkstümlichen hinwiederum kommen Burns und Osterwald entgegen; darum wählt er mit Vorliebe ihre Dichtungen, wenn er nicht gleich zum wirklichen oder bearbeiteten Volkslied (op. 23 und 27, »Herzigs Schätzle« op. 50) greift, dessen schlichten, eigentümlich innerlichen Ton er wie kein anderer anzuschlagen weiß. Hat doch August Saran in seiner für das Verständnis unsres Meisters sehr wichtigen, auch im Vorliegenden mehrfach benutzten Broschüre: »Robert Franz und das deutsche Volks- und Kirchenlied« [1] das Resultat seiner Untersuchungen geradezu dahin formuliert, daß »das Franzsche Lied im tiefsten Grunde nichts anderes sei, als das mit den Mitteln moderner Kunst bereicherte und idealisierte deutsche Volkslied«. In eingehender Darstellung weist er die ideelle und formelle Verwandtschaft der Franzschen Lyrik mit jenen ältesten Musikäußerungen unsres Volkes nach, aus denen auch Bachs und Händels Größe sich einst entfaltete, und begründet die schon oben von uns angedeuteten Einflüsse und Beziehungen des näheren und ausführlicheren.

Begreifen sich aus eben diesen von Franz zunächst rein instinktiv aufgenommenen Einflüssen die wesentlichsten Eigentümlichkeiten seines formalen Ausdrucks in der Architektonik der Melodie – prägnant konstruiertes Hauptmotiv mit streng thematisch daraus entwickeltem Nachsatz, Umkehrung, Verkürzung und sequenzenartige Verwendung beider Sätze etc. – so ergibt sich aus ihnen auch seine häufige Anwendung der Strophenform, im Gegensatz zu dem »durchkomponierten« Lied der Neuzeit. In überaus sinniger Weise versteht er den poetischen Grundgedanken des Ganzen auch musikalisch einheitlich zusammenzufassen, bei den Wiederholungen im Anschluß an den Text scheinbar geringfügige, in Wahrheit aber bedeutsame und überraschende Veränderungen anbringend. Um sich die poesievollen Wirkungen zu vergegenwärtigen, die Franz oft vermöge der einfachsten Modifikationen der Melodie oder Begleitung zu erzielen weiß, nehme man beispielsweise eins seiner schönsten Lieder, »Herbstsorge« op. 4, zur Hand, wo, nur vermittelst einer feinen Umgestaltung des Motivs und Einführung eines A statt As im Begleitungsakkord, inmitten der schwermutsvollen Klage plötzlich der helle Hoffnungsglanz eines neuen Frühlings aufblüht. Oder man vergleiche das volksliedartige »Die Sonn' ist hin« op. 35, wo in die trüb resignierte Stimmung, bei der aus einer geringen Veränderung des Themas unerwartet hervorgehenden Wendung nach dem lichten B-dur, der Aufblick zu dem reichen Gott, der Trost zu geben vermag, wie eine Friedensverkündigung hereintritt. Oder auch »Bei der Linde« op. 36, wo der träumerische Rückblick auf vergangenes Glück sich am Ende zum schmerzvollen Aufschrei betrogener Hoffnung gestaltet! – Eine eigentümliche Elastizität seiner Themen, unbeschadet der Prägnanz derselben, erleichtert es ihm zudem, sie den verschiedenen Nüancen der Stimmung dienstbar zu machen, und die Polyphonie seines Klaviersatzes mit ihrem zarten, sich verschlingenden Geäder erweist sich als besonders geeignet, auch die geheimsten Empfindungen zum Ausdruck zu bringen.

Gerade der polyphone Charakter der Franzschen Melodie berührt sich mit einer Grundeigentümlichkeit der älteren deutschen Melodik und stellt sie in erkennbaren Gegensatz zu der durch die klassische süddeutsche Schule, namentlich Mozart und Schubert, zur Herrschaft gelangten modern homophonen Gesangsweise. »Die Franzsche Melodie«, sagt Saran, »schreitet frei auf sich selbst stehend und doch streng gebunden an ihre harmonische Unterlage, ruhig und gemessen einher, allen äußeren Schmuck und Zierrat ebenso verschmähend, wie auf alle gesuchte Charakteristik, auf jegliches ›packende‹ rhythmische Kolorit verzichtend, nur durch ihre innere Wahrhaftigkeit und Tiefe, wie durch ihre einfach edle und schöngeformte Haltung ergreifend – ein treues Abbild deutscher Weiblichkeit.« – Nicht minder gemahnt des Meisters Behandlungsart der Harmonie an die ältere norddeutsche Tradition. Er bewegt sich, bei aller Freiheit im Einzelnen, durchschnittlich im Kreise der leitereigenen Intervalle und seine Ausweichungen erstrecken sich mit Vorliebe auf die nächsten Verwandtschaftsgrade. Bezeichnete er sich doch selbst seinem Biographen Procházka gegenüber[2] als einen »eingefleischten Diatoniker«. Äußerst charakteristisch ist ferner, namentlich bei volksmäßigen Texten, sein Zurückgehen auf die alten Kirchentonarten, mit denen er der modernen Musik eine nahezu vergessene Tonwelt wieder neu entdeckte und ihr insbesondere ein zur Darstellung gemischter Seelen- oder kontemplativer Naturstimmungen vorzüglich geeignetes Material zuführte. Wie Franz sich dasselbe für seine Lyrik fruchtbar zu machen versteht, lassen z. B. die schönen Volkslieder op. 23, oder »Zu Straßburg an der Schanz« op. 12, oder »Es klingt in der Luft« op. 13 klar ersehen.

Der musikalische Kern eines jeden Liedes ist einfach; um so größer die Feinheit und Sorgfalt der künstlerischen Ausführung. Sie zog dem Tonsetzer sogar den Tadel allzu komplizierten, ja raffinierten Schaffens zu, während man sich von anderer Seite bemühte, ihn als Naturalisten hinzustellen. Die Schlichtheit seiner Natur, wie die universelle Bildung seines Geistes haben ihn indessen, allen gegenteiligen Meinungen zum Trotz, glücklich vor beiden Extremen bewahrt; wiewohl bei der ihm eigenen philosophischen Richtung ein bestimmter Einfluß der Reflexion auf seine schöpferische Tätigkeit um so weniger ausgeschlossen bleiben konnte, als die Art der letzteren ihm ohnedies anhaltende Selbstvertiefung zur Aufgabe machte. Wer auch wollte dem heutigen Geschlecht die Reflexion nehmen? Genug, wenn sie sich nicht auf Kosten der Inspiration im Kunstwerk fühlbar macht! Für Franz' eigene Anschauung des Künstlerberufs ist übrigens der Ausspruch charakteristisch: »Dem Künstler soll die Musik nicht Beschäftigung, sondern Bedürfnis sein; er soll sie erleben, nicht machen«.

Nur in ihrer Totalität – es kann dies nicht oft genug wiederholt werden – in engster Beziehung zur dichterischen Grundlage, als ein unteilbares Ganzes mit dieser betrachtet, können Franz' Lieder allein gewürdigt werden. Das ist's, was ihnen neben ihrem wenig entgegenkommenden, das Konventionelle eher meidenden als suchenden Charakter, den Eingang im Publikum von jeher erschwerte. Man hatte sich seit langem gewöhnt, den Text als eine ziemlich überflüssige Zugabe zu betrachten. Allem voran stand das melodische Begehr. War dieses befriedigt, war das Ohr mit Wohlklang gesättigt, ja trug man gar eine melodische Erinnerung mit davon, so hatte man seinem musikalischen Bedürfnis genug getan. Anderes fordert Robert Franz. Seine Melodien sind nicht um ihrer selbst willen da – das melodische Interesse tritt in seinen Liedern eher hinter dem modulatorischen, harmonischen zurück –, nicht vom Worte losgelöst offenbaren sie ihre Wirkung; wir genießen sie nur als den verklärten Ausdruck des letzteren, und ohne dichterisches Verständnis bleibt uns ihre eigentlichste Schönheit unerschlossen.

Nimmt Franz demnach die Bedeutung eines Dichterinterpreten, nicht mehr und nicht weniger, in Anspruch, so geschieht dies keineswegs in der Meinung, Neues, nie Dagewesenes hiermit zu geben. Was seine musikalischen Ideale Händel und Bach vor nahezu zwei Jahrhunderten auf kirchlichem Gebiet vollbrachten, das trachtete er auf die weltliche Lyrik zu übertragen. Und ist es nicht in der Tat, als ob nicht nur in dem reinen, Wort und Ton ineinander webenden Geiste, dem ethischen Zug, sondern auch in der strengen Art der Faktur, der maßvollen Haltung, der Kunst der polyphonen Arbeit die ehrwürdigen Züge dieser seiner Vorbilder uns aus Franz' Schöpfungen entgegenblickten? Als ob dieselbe Keuschheit, die Frömmigkeit und Herzensandacht, die diese erfüllten, auch in den Werken des Jüngeren atmete? Freilich schöpften sie alle aus der gleichen Quelle. Der protestantische Choral, der sich als Lebensstrom von unversieglicher Frische durch Bachs und Händels Entwicklung zieht, ward eben auch inmitten einer von kirchlichen Elementen minder durchdrungenen Zeit die geheime Pulsader der Franzschen Lyrik. Solchergestalt aber an das Zeitlose, ewig Dauernde anknüpfend, hat diese selbst sich ihren unvergänglichen Wert, ihre klassische Bedeutung gewonnen.

Ein neuer, auf völlig anderen Grundlagen fußender Dichtergeist war freilich inzwischen, während die erhabenen Werke Bachs und Händels, mit denen die norddeutschprotestantische Musikrichtung ihren End- und Höhepunkt erreichte, für die Kunst ungenutzt lebendig begraben lagen, vornehmlich mit Beethoven in die Tonwelt eingezogen. Er war am energischsten unter seinen Nachfolgern zunächst von Schumann aufgenommen worden: oder hat nicht er die innigere Annäherung der Schwesterkünste Musik und Poesie zuerst vermittelt? Wie dann Neuere – vor allen Liszt – weiterschritten, die Konsequenzen seiner Prinzipien immer schärfer ziehend – so ist auch Robert Franz zu einem seiner Erben geworden. Sein ungleich weniger expansives Genie freilich wählte sich nur einen Teil von Schumanns Lyrik: das Stimmungslied, zu seiner Domäne. Was er hier erreicht, dessen wurde bereits gedacht. Es gab, so lange wir Franz besaßen, im Bereich des Liedes keinen größeren als ihn, den Liszt als »einen Fixstern der deutschen Lyrik« bezeichnet.

»Zum Vortrage dieser Lieder gehören Sänger, Dichter, Menschen«, sagt schon Schumann von ihnen. Die Forderung der Nachdichtung wird überhaupt bei den neueren Meistern: Liszt, Brahms, Wolf, Strauß zur unerläßlichen Bedingung, Franz schmeichelt Sängern und Spielern nie absichtsvoll durch die äußere Brillanz seiner Aufgaben – er ehrt sie vielmehr durch die Tiefe derselben.

Technische Schwierigkeiten gibt es dabei mehr für den Klavierspieler als den Sänger zu überwinden. Als Grundstock seiner Begleitungen dient ihm, zumal in seinen späteren Gesängen, in denen seine Eigenart sich immer präziser herausgestaltet, die vierstimmig gesetzte Melodie, Das Figurenwerk bildet nur das Kolorit, das Licht und Schatten in die Grundstimmung hineinträgt. Eben das Vokale seines Klaviersatzes ist ein entscheidendes Merkmal seiner Originalität. Übrigens findet sich auch eine reiche Anzahl kurzer Stimmungslieder, die selbst für mäßige, nur einigermaßen mit polyphoner Schreibart vertraute Spieler zugängig sind und sich besonders zum Selbstakkompagnieren eignen. Hinreichende Gelegenheit ist auch dem Begleiter – namentlich in den die Rundung eines jeden Liedes harmonisch vollendenden Vor-, Zwischen- und Nachspielen – geboten, poetischen Sinn und warmes Gefühl zum Ausdruck zu bringen.

Leider hat die Kritik, die erwähnten Koryphäen der Tonkunst und eine Anzahl Kenner und Freunde des Meisters ausgenommen[3], diesem gegenüber, dafern sie überhaupt von ihm Notiz nahm, – denn lange versuchte sie ihn totzuschweigen – mit Vorliebe ihre negativen Rechte geübt. Sie machte ihm seine Beschränkung auf ein engeres Kunstgebiet zum Vorwurf und ließ dabei Chopins im Bereich der Klaviermusik nicht minder exklusive und dennoch laut anerkannte Erscheinung außer acht. Überdies haben Franzens schon erwähnte Bearbeitungen älterer Vokalwerke den Beweis erbracht, daß sein künstlerisches Können nicht, wie man meinte, an enge Grenzen gebunden war, sondern vielmehr zur Behandlung breiter umfangreicher Formen wohl ausreichte.

Einen bedeutenden Teil seines Lebens und seiner Kraft hat Franz dem Bestreben geopfert, die uns in unvollendeter Gestalt überkommenen Meisterschöpfungen Bachs und Handels dem Geiste jener wie den modernen Bedürfnissen entsprechend zu ergänzen. Bekanntlich befinden sich in den Originalpartituren der genannten Meister viele nicht völlig ausgeführte, sondern bloß skizzierte Teile, die auf die Mitwirkung des Akkompagnements, das die Orgel oder das Cembalo auszuführen hatten, berechnet waren. Da die Komponisten die Aufführung ihrer Werke persönlich von einem dieser Instrumente aus zu leiten pflegten, genügte ihnen ein bezifferter Baß, die kurze Andeutung eines musikalischen Stichwortes für den eigenen Gebrauch. Das Übrige konnten sie der Eingebung des Moments und ihrer sicheren Kunstfertigkeit überlassen. An dem tausendstimmigen Rieseninstrument der Orgel sitzend, mit ihrer eigenen künstlerischen Riesenperson – wir bedienen uns hier eines Ausdrucks des geistreichen A. W. Ambros – allenthalben mächtig eingreifend, beherrschten sie die ganze Musik als deren Seele. Ihr Akkompagnement, der Hauptträger des Ganzen, unterstützte den Sänger, ergänzte den mangelhaften Klangkörper des ihnen zu Gebote stehenden Orchesters, verlieh dem Werk erst die notwendige Abrundung und Vollendung. Die Sorge, einem späteren Geschlecht ihre Schöpfungen in fertiger Form zu bequemem Genusse zu hinterlassen, lag den alten Meistern fern. Nicht für den Druck bestimmten sie dieselben, sie blieben ihrer Außengestalt nach eben nur Skizzen, zu deren jedesmaliger Ausführung und Verlebendigung es ihrer eigenen nachschöpferischen Hand bedurfte: einer Improvisationskunst, die uns Gegenwärtigen eben so verloren gegangen ist, als die lebendige Tradition, die der Praxis zu Hilfe kommen könnte. Sind doch zumal die Bachschen Werke, unter hundertjährigem Staub verborgen, erst allmählich nach Wiederbelebung der »Matthäuspassion« durch Mendelssohn gewissermaßen neu entdeckt worden.

Daß die uns überlieferten Partituren Bachs und Handels, und zwar in erster Linie die Solonummern, demnach nicht so, wie sie vorliegen, zum Erklingen zu bringen sind, sondern, sollen sie lebendig wirken, eine Ergänzung fordern, ist eine allseitig zugestandene Tatsache. Nur über das Maß und die Methode dieser Ergänzungen gehen die Meinungen auseinander.

Hatten schon Mozart und Mendelssohn in vereinzelten Fällen mit nachhelfender Hand eingegriffen, so folgte Franz ihrem Beispiele. Durch eine Fülle kontrapunktistischen Wissens ausgezeichnet, so daß Bach und Händel sich seiner als eines Zeitgenossen schwerlich zu schämen gebraucht hätten, ohnedies im gleichen Boden mit jenen beiden wurzelnd und ihnen in innerer Wahlverwandtschaft verknüpft, schien er mehr als andere zu der gewählten Aufgabe berufen. Mit der polyphonen Schreibart vertraut wie wenige, fand er, nachdem er zuerst durch akkordische Ausführungen sein Ziel vergeblich zu erreichen gestrebt hatte, in ihr das Mittel, das ihn zum Zwecke führte. Dabei wählte er die Motive seines Tonsatzes nicht willkürlich, sondern er verstand sie sinnreich aus dem in den behandelten Stücken gebotenen Material (der Struktur des Basses, dem Figurenwerk der Kantilene) zu formen. Er selbst berichtet in interessanter Weise über die angestellten Versuche in dem »Offenen Brief an Eduard Hanslick über Bearbeitung älterer Tonwerke«, den er 1871 veröffentlichte, wie er schon 1863 wertvolle »Mitteilungen über Joh. Seb. Bachs Magnificat« herausgegeben hatte. Hier legt er die Grundsätze dar, die ihn bei seinen Ergänzungen leiteten, und weist u. a nach, wie die Rücksicht auf unser durch das moderne Orchester verfeinertes Ohr neben anderen praktischen Gründen ihn bestimmte, das eigentliche Akkompagnement, also den aus den Baßsignaturen gezogenen Tonsatz, statt der bisher gebräuchlichen Orgel oder dem alten Cembalo, vielmehr dem Orchester zu übertragen. Als Hauptmaterial verwendet er ein Bläserquartett von Klarinetten und Fagotten (in der Saba-Kantate statt Klarinetten Oboen), die, wie er sagt, »ein treffliches Mittel zur Ausführung des vierstimmigen Satzes abgeben, der sich in ungezwungener Natürlichkeit überall einlegen läßt«. Die Orgel, die bei den gegenwärtig mehr im Konzertsaal als in der Kirche stattfindenden Aufführungen älterer Vokalwerke selten zur Hand ist, fällt dabei entweder ganz weg, oder sie dient, wofern sie zur Verfügung steht, nur als »Verstärkungsmittel bei entscheidenden Stellen«. Seinen letzten Bearbeitungen hat Franz aber auch außer dem orchestralen Satz eine durchgehende Orgelstimme zu beliebigem Gebrauch beigegeben.

Gerade gegen seine, wie man sagte, »das Originalkolorit der Werke zerstörende« Orchesterübertragung richtete sich ebenso wie gegen seine als zu weitgehend angefochtene Aussetzung des Generalbasses eine Polemik, der er selbst in seinem »offenen Briefe« mehrfach zurechtweisend begegnete. Dieser letztere wurde aber erst recht zum Ausgangspunkt lebhafter Debatten betreffs der Bearbeitungsfrage. Als Gegner der Franzschen Prinzipien ließen sich in erster Linie Chrysander und Spitta, die Biographen Händels und Bachs, vernehmen. Zugunsten des Franzschen Standpunktes trat Julius Schäffer namentlich in den beiden Broschüren: »Chrysander in seinen Klavierauszügen zur deutschen Händel-Ausgabe« und »Seb. Bachs Kantate: Sie werden aus Saba alle kommen« etc.[4] auf. Auch der hervorragende englische Theoretiker Ebenezer Prout sprach gelegentlich einer gründlichen Untersuchung der Bearbeitungsfrage [5] die Ansicht aus, daß Franz' Genius mehr noch als der Mozarts und Mendelssohns in dieser Richtung das Rechte getroffen habe. Neuerdings hat jedoch die sogenannte Renaissancebewegung, die den Charakter der alten Meisterwerke in möglichster historischer Treue gewahrt wissen und demnach die Ausführung des Akkompagnements der Sologesänge nur auf das Notwendigste beschränkt und dem Cembalo vorwiegend übertragen sehen will, die Franzschen Bearbeitungen vielfach verdrängt, und Chrysanders Restaurierung Händelscher Oratorien hat diesen den Rang abgelaufen.

Werfen wir einen Blick auf die von Franz bearbeiteten Werke, so gewahren wir, außer einem Stabat mater und Magnificat der italienischen Meister Astorga und Durante, von Bach zehn Kantaten im Klavierauszug, acht Kantaten in Partitur und Klavierauszug, desgleichen das Magnificat, die Matthäuspassion, die Trauernde, das Weihnachtsoratorium, dazu eine Anzahl Arien, Duette, geistliche Lieder, zwei Suiten, eine Sonate und eine Neuausgabe des Wohltemperierten Klaviers. Sodann von Händel zwölf Opernarien für Sopran, zwölf für Alt und zwölf Duette aus verschiedenen Opern und den Kammerduetten, das Jubilate, das Oratorium L'Allegro, il Pensieroso ed il Moderato und den Messias. Hierzu kommen noch die »Hebräische Melodie« für Klavier mit oder ohne begleitende Instrumente, zwei Quintette von Mozart, zwei Quartette und ein Rondo von Schubert, eine Sonate von Tartini für Klavier, sowie sechs Choräle für gemischten Chor, sechs altdeutsche Lieder für eine Singstimme mit Begleitung des Pianoforte und zwölf Choräle für Männerstimmen zum liturgischen Gebrauch. Auch eine Auswahl Grimmerscher Balladen und Romanzen wurde von ihm herausgegeben.

Dies alles ward unter den Hemmungen eines Nervenleidens vollbracht, das sich mit den Jahren immer grausamer fühlbar machte und im Herbst 1879 eine Lähmung mehrerer Finger der rechten Hand herbeiführte, nachdem es ihn schon zuvor des dem Musiker unentbehrlichsten Sinnes, des Gehörs, gänzlich beraubt hatte. Seine anhaltende Beschäftigung mit Bach, sein inniges Hineinleben in dessen kompliziertes, vielstimmiges Tongewebe beförderte ohne Zweifel mehr noch als das eigene freie Schaffen die Entwicklung des Übels, So fand sich denn Franz gezwungen, seiner praktischen Tätigkeit zu entsagen und die Ämter niederzulegen, mit denen seine Vaterstadt, nachdem ihr die Erkenntnis seiner künstlerischen Bedeutung allmählich aufgegangen, ihn betraut hatte. – Er war nach und nach zum Organisten an der Ulrichskirche, zum Dirigenten der Singakademie und der »Berg- und Museumskonzerte« und später zum Universitäts-Musikdirektor ernannt worden, wie die philosophische Fakultät, die ihm einen Lehrstuhl für Musik übertrug, ihn in Anerkennung seiner Verdienste um Bach und Händel auch durch Verleihung des Doktortitels auszeichnete.

Konnte es ein herberes Geschick geben als das seine, das den reichen Geist in der Fülle der Manneskraft zwar nicht völlig, wie seine letzten, nach langem Stillschweigen erklungenen herrlichen Lieder op. 48, 50, 51 und 52 bezeugten, aber doch vielfältig zur Tatlosigkeit verdammte und ihm Feierabend gebot, noch bevor die Stunde der Ruhe für ihn gekommen? Selbst auf sein häusliches Glück drohten die Schatten dieses Leides zu fallen. In das Haus, das er sich im Jahre 1848 durch seine Verheiratung mit Marie Hinrichs begründete und das seither Kunstfreunden und Gefährten von fern und nah freundlich geöffnet war, begann der finstere Gast der Sorge einzukehren, als er mit der Ausübung seiner Tätigkeit zugleich auf seine gesicherte Lebensstellung verzichten mußte.

Er vereinsamte mehr und mehr. Seinen großen künstlerischen Zeitgenossen sich anzuschließen hatte ihm seine Eigenart, sein Einspinnen in die ihm ureigene Welt verwehrt. Die Ziele Wagners und Liszts deuchten ihm irrige, so sehr er den Weimarer Meister, einen seiner treuesten und hilfreichsten Förderer, als Mensch verehrte. Das ihm »schwülstig« erscheinende Schaffen »des heiligen Johannes«, wie er Brahms gern nannte, war und blieb ihm unsympathisch. Isoliert stand er im Musiktreiben seiner Tage. »Die Historiker, die Mendelssohnianer, die Schumannianer, die Neudeutschen – alle saßen sie mir auf dem Dache«, heißt es in einem seiner Briefe an Freund Osterwald.

Eine überaus zart empfindende Musikseele, ein edler, durch und durch lauterer Charakter, war er doch von Ecken und Schroffheiten, in späteren Jahren auch von Bitterkeit nicht frei. Er konnte sarkastisch, konnte sehr derb sein und die Dinge ohne Umschweif beim Namen nennen. Dadurch minderte sich freilich die Zahl seiner Freunde eher, als daß sie sich mehrte. Auf eine diesbezügliche Klage entgegnete ihm Freiherr Senfft von Pilsach einmal freimütig: »Nur etwas Wohlwollen und Menschenfreundlichkeit und statt Hohn ein wenig Erkenntlichkeit, so wären Ihnen die Herzen der Menschen zugeflogen und treu verbunden geblieben«. Worauf die Erwiderung lautete: »Meine ganze Existenz ist ja nur mit Fußtritten gepolstert, die man mir direkt und indirekt, ohne daß ich meist zu reagieren imstande war, unausgesetzt gab«.

Er schrieb dies demselben tatkräftigen Freund, der sich nicht allein damit begnügte, als ausgezeichneter Sänger für die Franzschen Lieder im Konzertsaal und Salon erfolgreiche Propaganda zu machen, sondern auch den Gedanken ins Werk setzte, durch Sammlung eines Ehrenfonds den Lebensabend des großen Liedermeisters vor Not und Sorge zu sichern. Dank der eifrigen Mithilfe Liszts und Baron von Keudells, des nachmaligen deutschen Botschafters in Rom, sowie Otto Dresels in Amerika, gelang es den vereinten Bemühungen den edlen Zweck zu erreichen, sodaß Franz an seinem 58. Geburtstag eine Summe von 30.000 Talern eingehändigt werden konnte. In das Zustandekommen dieses erfreulichen Ergebnisses, wie in das schöne Freundschaftsverhältnis, das Franz und Arnold von Senfft verband, gewährt der von Professor Wolfgang Golther herausgegebene Briefwechsel beider [6] fesselnden Einblick.

Den letzten Lebensjahren des Tondichters fehlte es nicht an weiteren Zeichen der Anerkennung. Als seine Vaterstadt Halle am 23. Februar 1885 das 200jährige Geburtsfest ihres großen Sohnes Händel feierlich beging, ernannte sie Franz, um der »unvergänglichen Verdienste« willen, »welche er sich in reicher schöpferischer Tätigkeit, wie in liebevoller Förderung des Verständnisses unserer klassischen Meister um die deutsche Musik erworben hat«, zu ihrem Ehrenbürger.

Sein siebzigster Geburtstag zeigte ihm im selben Jahre, in wie ungezählten Herzen seine Kunst Wurzel geschlagen hatte. Auch der deutsche Kaiser schmückte seine Brust, die schon seit einigen Jahren der Maximiliansorden des Königs von Bayern zierte, mit seinem Kronenorden.

Seine letzte Originalarbeit: einen Trinkspruch für Männerchor, veröffentlichte Franz im Januar 1887, seine letzte Bearbeitung: eine Neuausgabe von Bachs »Wohltemperiertem Klavier«, an der sich Dresel beteiligte, 1890. Dann ward es still in ihm und um ihn. Seine nächsten Freunde starben ihm hinweg. Am 5. Mai 1891 wurde nach langer Leidenszeit auch die Gattin von seiner Seite abberufen. Seine zwei Kinder, eine Tochter und ein Sohn, hatten sich längst den eigenen Herd gebaut. Einsam ging er, der von je ein Freund der Natur gewesen war, nun seinen täglichen Weg das Saaletal entlang, bis er am 24. Oktober 1892 nach kurzem Krankenlager von hinnen ging. Halloren trugen ihn unter allgemeiner Teilnahme am 27. Oktober zu Grabe, wo er neben seiner Gattin ruht.

Seine Geburtsstadt blieb ihm die gebührenden Ehren nicht schuldig. Mitten im Grünen, an der alten Promenade, hat sie ihm ein am 28. Juni 1903 enthülltes Denkmal errichtet, das die Züge des edlen Sängers auf die Nachwelt bringt. Mit ihm zugleich aber auch die Erinnerung an eins seiner schönsten Lieder. Auf dem Notenblatt, das die Muse des Gesangs in der Hand hält, lesen wir:

Es hat die Rose sich beklagt,
Daß gar zu schnell der Duft vergehe,
Den ihr der Lenz gegeben habe –
Da hab' ich ihr zum Trost gesagt,
Daß er durch meine Lieder wehe
Und dort ein ew'ges Leben habe.

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Anmerkungen:

  1. Leipzig, Leuckart, 1875.
  2. Rud. Frhr. Procházka, Robert Franz. Leipzig, Reclam 1894.
  3. Wir haben hier, nächst den obengedachten Arbeiten Liszts, Ambros', Galans, Osterwalds und Procházkas, namentlich noch diejenigen von Julius Schäffer (»Zwei Beurteiler von Robert Franz«) und Franz Hüffer (»Die Poesie in der Musik«; beide Leipzig, Leuckart) hervorzuheben. Als neuere Erscheinung sind Wilhelm Waldmanns »Gespräche aus zehn Jahren« (Leipzig, Breitkopf & Härtel, 1894) zu nennen.
  4. Beide Leipzig, Leuckart 1876 und 1877, woselbst auch vom gleichen Verfasser zuvor erschienen: »Rob. Franz in seinen Bearbeitungen älterer Vokalwerte« und »Entgegnung auf Spittas Artikel: »Über das Akkompagnement« usw.
  5. »Additional accompaniments« in George Groves Dictionary of music and musicians. London.
  6. Berlin, Alexander Dunker, 1907.
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