Robert Franz wurde im Jahre 1815 am 28. Juni in Halle an der Saale geboren. Er entstammte einer alten Halloren-, das ist Salzarbeiter-Familie. Sein Vater hieß eigentlich Knauth, nahm aber, da sein Bruder gleich ihm selber Speditionsgeschäfte betrieb und durch Verwechslung der Geschäftsbriefe vielfache Mißhelligkeiten entstanden, im Geschäftsleben den Namen »Christoph Franz« an, worauf die feindlichen Brüder nun in Frieden lebten. Sein Sohn wurde Robert Franz getauft und wuchs als solcher auf, wie er selber in einem Brief vom 9. Januar 1890 an Otto Leßmann schrieb [1]. Die legitime Führung des Namens wurde später beim König von Preußen »beantragt und durch Kabinettsorder gut geheißen«.

An seiner Wiege ward dem Knaben nichts gesungen von dem dereinstigen Künstlertum, und keinerlei Vorspiel kündigte seiner Kindheit die spätere klangreiche Zukunft an. In der schlicht bürgerlichen Sphäre des Elternhauses galt nur das Nützliche als das Rechte, die Welt des Schönen hatte in der Enge derselben nicht Raum: ja der Vater bekannte sich offen als einen abgesagten Feind aller sogenannten unnützen Dinge und brotlosen Künste. Gleichwohl kann er selbst nicht ohne musikalische Befähigung gewesen sein. Wenigstens erzählt Franz, wie der Vater an Tagen, wo er sich besonders dazu aufgelegt fühlte, seinen Kindern eine Menge schöner Choräle vorsang, und diese ihre höchste Lust darin fanden, den frommen Weisen andächtig zu lauschen. Seine ersten musikalischen Eindrücke empfing der Knabe somit durch eins der edelsten Erzeugnisse des deutschen Kunsttriebes: das kirchliche Volkslied; denn auch seine allerfrüheste klangliche Erinnerung führt er auf Luthers Choral »Ein' feste Burg« zurück, den er gelegentlich der 300jährigen Gedächtnisfeier der Reformation, im Posaunenchor von den Hausmannstürmen seiner Vaterstadt herabtönen hörte. Später beim Schulbesuch zog ihm die »unwiderstehliche Lust, den einzuübenden Choralmelodien eine zweite Stimme aufzudrängen, manch' harte Züchtigung von der wuchtigen Hand des Singmeisters zu.« Im übrigen jedoch mangelte es der musikalischen Begabung des Knaben an jedweder Gelegenheit sich zu betätigen; ungeahnt schlummerte sie, bis er sein vierzehntes Jahr erreicht hatte, und nur einer zufälligen Veranlassung durfte er es danken, daß sie endlich geweckt ward. Er entdeckte nämlich bei einer Verwandten ein uraltes »Pantalon«, ein spinettartiges Möbel, nicht beledert, sondern bekielt und ohne Dämpfung, das sein kindliches Interesse in höchstem Maße erregte. »Damit war mein Schicksal entschieden«, erzählt Franz selbst in biographischen Mitteilungen, die sich in der »Deutschen Musikzeitung« von 1860 veröffentlicht finden.

Unaufhaltsam brach nun die Liebe zur Tonkunst in ihm hervor. Sich selbst überlassen, bemühte er sich, die Geheimnisse der Notenschrift auf eigene Hand zu entziffern. »Mit der rührendsten Ausdauer«, sagt er, »plagte ich mich tapfer mit Hindernissen herum, über die glücklich hinausgekommen zu sein mir heute noch ein wahres Rätsel ist.« Als seine Neigung immer offenkundiger hervortrat, ließ der Vater sich nach langem Widerstand durch die Fürsprache der Mutter endlich bestimmen, das oben erwähnte »Pantalon« käuflich zu erwerben. Des Sohnes unermüdlichen Bitten gelang es sogar durchzusetzen, daß, freilich mit möglichster Beobachtung von Billigkeitsrücksichten, ein einigermaßen musikkundiger Verwandter als Klaviermeister für ihn engagiert ward. Nur zu bald jedoch hatte der talentvolle Schüler diesem die ganze Summe seines Wissens abgelauscht, und ein Wechsel im Unterricht machte sich nötig. Dies wiederholte sich öfter, dergestalt, daß binnen einer Zeit von vier Jahren der junge Franz bei sämtlichen Musikpädagogen in Halle studiert und von jedem sein Bestes profitiert hatte, ohne darum doch über ein nennenswertes, oder nur irgend geordnetes Kapital von Kenntnissen verfügen zu können. In dem fortgesetzten Verkehr mit künstlerischen Mittelmäßigkeiten weder Genüge noch den gehofften Nutzen findend, gewöhnte er sich frühzeitig daran, seinen eigenen Weg zu gehen und, wie Liszt in seinem schönen Aufsatz über den Künstler [2] sagt, »in der Wahl der Stoffe wie der Form seiner Gedanken nur den individuellen Trieb entscheiden zu lassen, statt, wie so manche Talente, seinen Geist der Nachahmung zu bequemen.« Alsbald machte sich auch wieder die alte Neigung zur Beschäftigung mit Chorälen bei ihm geltend, ja selbst für seinen Umgang ward dieselbe bestimmend, insofern er sich unter Freunden und Bekannten behufs gemeinsamer Übung diejenigen auswählte, die eine gleiche Passion beseelte. Voll lebhaften Eifers warf er sich auf das Orgelspiel und »lief des Sonntags von einer Kirche zur andern, um die Organisten für einzelne Choralverse abzulösen«. Als eine hohe Vergünstigung besonders empfand er es, als Abela, der Kantor des Waisenhaus-Gymnasiums, das er, nachdem er die Bürgerschule absolviert, besuchte, um sich daselbst für ein Fachstudium vorzubereiten – ihn zum Akkompagnateur ernannte. Zu ihm, der eine wöchentliche Chorstunde für die begabteren Zöglinge eingerichtet hatte, fühlte sich Franz dankbar hingezogen, froh, in ihm wenigstens einen Beschützer seiner von allen Seiten nur mit mißbilligenden Blicken betrachteten Kunstleidenschaft zu finden. Er bekennt, daß diese Chorübungen auf seine spätere Entwicklung einen wesentlichen Einfluß geübt haben. »Mozart- und Haydnsche Kantaten, Händelsche Oratorien und Psalmen konzentrierten meine auseinanderfahrenden Interessen und bildeten einen haltbaren Kern für ein zukünftiges Wachstum. Zwar blieb ich nach wie vor Autodidakt, aber doch jetzt in einer Form, die mich vor einem lächerlichen Ende bewahren mußte.«

Durch diese klassischen Tonschöpfungen entzückt und zu eigenem Schaffen begeistert, wagte er nun auch, wiewohl ohne alle theoretischen Vorkenntnisse, ja selbst ohne das Bewußtsein von der Notwendigkeit derselben, seine ersten Versuche in der Komposition. Kein Lehrer und Berater stand ihm dabei zur Seite und half ihm die Wirrnis seiner Ideen ordnen und lichten: wiederum mußte er auf eigene Gefahr und Verantwortung experimentieren. »Meine Kompositionsversuche«, lautet sein eigenes Urteil, »trugen alle Mängel der törichten Selbsthilfe, verrieten weder formales Talent, noch idealen Gehalt. Stellte sich mir heute ein junger Mensch, der das nämliche leistete, was ich damals vermochte, mit dem Wunsche vor, daß ich ein entscheidendes Wort über seine Zukunft spräche: ich würde ihm eher zu allem anderen raten, als zu einem künstlerischen Beruf.« Nichtsdestoweniger trat der Drang zur Produktion fortan bei ihm derart in den Vordergrund, daß er, ungeachtet ernstester Vermahnungen, selbst häufigen Spottes von Eltern, Lehrern und Genossen, seine Gymnasialstudien darüber zu vernachlässigen begann. Harte Kämpfe zwischen kindlichem Gehorsam und zwingendem Naturgebot, zwischen der ihm angebornen Schüchternheit und dem sich immer lauter kundgebenden Künstlerberuf durchkämpfte er in seinem Innern, und »nur dem naiven, aber unerschütterlichen Glauben an seine Bestimmung war es möglich, in dieser Misere auszuharren.« Am Ende aber trug doch seine unüberwindliche Liebe zur Tonkunst den Sieg über die Einwände und Bedenken der Eltern davon. Man willigte, wenn auch mit Widerstreben, ein, daß der nun zwanzigjährige Jüngling das Gymnasium und damit zugleich seine Vaterstadt verließ und sich nach Dessau begab, um unter Friedrich Schneiders Leitung eine neue, künstlerischen Zielen zugewandte Studienzeit zu beginnen.

Was er gesucht: eine freie, ideale Kunstauffassung, eine unbeengte, poesiegetränkte Atmosphäre, wie sie ihm Bedürfnis war, das fand er freilich auch in Dessau nicht. Die Regeln und Theorien, die man ihm in trockner Weise vermittelte, gaben seinem Verstande vollauf zu tun; sein Phantasie- und Empfindungsleben aber darbte dabei. Genug, es währte nicht lange, so verfolgte er, seiner Art und Gewohnheit getreu, auch hier unter den Augen des Meisters selbständige Bahnen. Hatte er den Schülerpflichten nur halbwegs genügt, so hielt er sich schadlos, indem er seinen eigenen Eingebungen Gehör gab und nach Herzenslust seine gestaltende Kraft erprobte. Die Frische und Anregung, die er im Verkehr mit dem Lehrer entbehrte, fand er in einem Kreise jugendlicher Gesinnungsgenossen, der sich behufs freierer Kunstübung unter dessen Jüngern gebildet hatte. Hier auch erschlossen sich ihm die Sympathien, die Schneider seiner eigentümlichen, unabhängig gearteten Individualität versagte. Franz selbst bekannte, daß die unter jenen Mitstrebenden eingeatmete Luft das einzige, seinem wahren Fortschritt günstige Element gewesen sei, und nachdrücklich betont er insbesondere die Anregung, die er durch einen in der Kunst der Orgelimprovisation und Choralbehandlung außergewöhnlich begabten Mitschüler, namens Reupsch, empfangen habe. Was er im übrigen in Dessau erlernt, alle harmonische und kontrapunktische Weisheit, die er daselbst in sich aufgenommen, ward ihm erst später flüssig, nachdem sein Genie sein natürliches Fahrwasser gefunden hatte, das allerdings weit abseits leitete von den dort sanktionierten Zielen, Einstweilen komponierte er vielerlei: Klaviersonaten, eine vollständige Messe usw., was über den Charakter von Versuchen nicht hinauskam, aber, wie Liszt in dem erwähnten Aufsatz über Franz bemerkt, das mühsame Winden einer jugendlichen Phantasie unter dem Schulzwang und dem Bedürfnis, denselben abzuschütteln, in interessanter Weise verfolgen läßt.

Nach zweijährigem Aufenthalt in Dessau 1837 in das elterliche Haus zurückgekehrt, begann für ihn erst seine eigentliche Prüfungszeit. Da man handgreifliche Erfolge seiner bisherigen Studien sich noch nicht einstellen sah, wurden in seiner nächsten Umgebung die alten Zweifel an seiner künstlerischen Begabung und rücksichtslos geäußerte Vorwürfe laut; um so empfindlicher für ihn, als er ein ziemlich entwickeltes Selbstvertrauen aus der Fremde mit heimgebracht hatte. Der Versuch, sich demzufolge anderwärts – in Schönebeck – eine wenn auch noch so bescheidene Stellung zu gründen, scheiterte an seinem Unvermögen, sich in den dasigen kunstwidrigen Verhältnissen zurechtzufinden. Er mußte, so schwer es ihm auch ankam, im Vaterhause ausdauern, wo er von allen, nur nicht von seiner guten, sanften Mutter, als verlorener Sohn betrachtet ward. Einzig ihrer liebevollen Weise gelang es, ihn zu trösten und zu stützen, wenn Leid und Unmut ihn zu übermannen drohten. Denn auch eine Periode künstlerischen Zweifels an sich selber blieb ihm nicht erspart. Durch einen ihm befreundeten Musikkreis – im Hause des Landgerichtsdirektor Schröner in Halle – lernte er um jene Zeit eine ihm bis dahin fremde Art des Kunstkultus kennen. Die Dilettanten, auf deren Treiben er im Bewußtsein seiner musikalischen Gelehrsamkeit vornehm herabblickte, öffneten ihm zuerst die Augen für das geistige Wesen der Kunst. Sie belehrten ihn, daß alle Kenntnis der Formen und Gesetze nur Mittel zum Zweck sei, daß es »auf die Erkenntnis des idealen Gehaltes eines Kunstwerks, nicht auf dessen formalen Wert ankomme, welcher letztere sich bei einem wirklichen Kunstwerk ganz von selbst versteht«.

Gleichzeitig ward ihm auch das Bekannt- und Vertrautwerden mit altitalienischen Meistern, mit Bachs und Händels, wie Franz Schuberts Genius vermittelt. Ganz erstaunt schaute er plötzlich in eine Welt, von der seine Seele sich nichts hatte träumen lassen, und einen »erschütternden Eindruck« brachte vor allem Schuberts »Feuerseele« auf ihn hervor; ja die leidenschaftliche Beschäftigung mit dessen Schöpfungen machte sein Nervensystem dermaßen reizbar, daß es nur zu empfänglich für ein Gehörleiden wurde, dem Franz nachmals mehr und mehr zur Beute verfiel. Eben diese Bekanntschaft mit den großen Meistern aber wurde für seine Meinung von den eigenen Leistungen verhängnisvoll. Der an jenen gewonnene Maßstab wollte für diese letzteren nirgends passen. Was er selber zu sagen hatte, schien ihm von ihnen schon vieltausendmal besser gesagt: kurz er zog einen Strich durch seine Vergangenheit und gab alles, was er bis dahin geschaffen, unerbittlich der Vernichtung preis. Damit zugleich aber schwand auch sein Mut, der Glaube an die eigene Produktionsfähigkeit.

Fünf Jahre lang ungefähr enthielt er sich jeglichen Schaffens. Keine Note ward in dieser Zeit von ihm geschrieben. Er war einzig auf die Erweiterung seines Ideenkreises, auf Förderung seiner allgemeinen Bildung bedacht, vermöge deren er seiner Mission als Künstler um so mehr gerecht zu werden hoffen durfte.

Die damalige Atmosphäre in Halle war dieser Bildungsarbeit überaus günstig. Lag auch das öffentliche Musikwesen daselbst ziemlich im Argen, so bot doch die Universität um so mannigfaltigere Elemente geistiger Nahrung dar. Der frischen Bewegung wissenschaftlichen Lebens, wie sie, von der Philosophie ausgehend, sich zunächst an den Begründer der berühmten Halleschen Jahrbücher, den Hegelianer Ruge, und dessen Anhang knüpfte und allmählich alle Gebiete geistigen Lebens durchdrang, blieb auch Robert Franz nicht fern. Seiner Natur nach ohnehin zu ernstem Sinnen, zum Analysieren und Reflektieren, zum philosophischen Denken geneigt, ward er in Gemeinschaft mit seinem nachmaligen Schwager, dem Juristen Friedrich Hinrichs, dem Theologen A. Ritschl, dem Musiker Julius Schäffer, dem Philosophen Rudolf Haym, dem Dichter Wilhelm Osterwald, der später ein treffliches Lebensbild von Franz [3] entwarf, ein eifriger Teilnehmer an den verschiedenen Debatten und Untersuchungen. Die gewonnenen philosophischen, ästhetischen undkritischen Resultate fanden auf seine künstlerischen Interessen Anwendung und trugen zur Klärung seiner Kunstprinzipien wesentlich bei. Insbesondere ging ihm die Erkenntnis auf von der Notwendigkeit der Einwirkung der herrschenden Temperatur der Ideen auf die Kunst, des Zusammenhangs dieser letzteren mit dem großen Ganzen, in dessen Mitte wir leben; zugleich aber auch von der Berechtigung der Individualität, dem Kunstwerk ihr Wesen und ihre Eigenart aufzuprägen.

Und seine Individualität suchte nicht lange nach der ihr gemäßesten Form. Eine Herzenserfahrung süßschmerzlicher Art rührte die lang verstummten Saiten seiner Seele zu neuem Klange und entlockte ihm seine ersten Gesänge, die Robert Schumann mit so warmer Anerkennung 1843 in die Öffentlichkeit einführte. Eine längere Reise nach Salzburg und Tirol, die er aus Gesundheitsrücksichten für sein leidendes Gehör unternommen, wirkte heilend und kräftigend auf sein ganzes Wesen: genug, seine so lange zurückgehaltenen Fähigkeiten kamen jetzt um so stürmischer zum Durchbruch. Er mußte komponieren, weil er nicht anders konnte. Von da an datiert er seine eigentlichen Studien: er lernte den Kunstausdruck an sich selbst. Mit jedem neuen Lied wuchs sein Vermögen und er gewann in Formen Gewandtheit, die ihm bis dahin weit ab lagen.

Indessen hatten seine sich auf das Allgemeine beziehenden Studien ihn der musikalischen Gegenwart keineswegs entfremdet. Wie er einst von Bach und Schubert das seinem Naturell Zusagende in sich aufnahm, so hatte er inzwischen auch den hervorragenden Zeitgenossen seine Aufmerksamkeit zugewandt. Vorzüglich Schumann brachte vieles in ihm zur Reife, was bisher nur dumpf in ihm gärte; an ihn zunächst schloß er sich auch im eigenen Schaffen an. Dem seine schöpferischen Leistungen im hohen Maße fördernden Bedürfnis, sich stets über sich selbst klar zu werden, verband sich eine natürliche scharfe Beobachtungsgabe, die ihn nie blind genießen ließ; so daß er sich immer über die Gründe seines Behagens oder Mißbehagens an den Objekten selbst Aufschluß zu geben suchte. »Diesem harmonischen Gleichgewicht zwischen Verstand und Gefühlsleben« dankt er, seinen eigenen Worten zufolge, zumeist, was er geworden. »Dazu kommt«, fügt er hinzu, »noch ein gesunder Instinkt, mich nur mit Dingen befaßt zu haben, die meinem Sinn und Wesen entsprachen, und absolut liegen zu lassen, was sich im Widerspruch zu meiner Persönlichkeit befand. Im Genießen habe ich stets gelernt, und das ist bis auf den heutigen Tag meine Lebensweisheit geblieben.«

Fern von dem Gedanken an Veröffentlichung, nur zur Befreiung seiner selbst schrieb Franz seine ersten Lieder, »seine kleinen Leiden und Freuden im echten Künstleregoismus darin abschüttelnd«. Die Herausgabe derselben erschien ihm zwar zuerst wie eine Profanation seiner heiligsten Gefühle, endlich aber gab er dem Drängen seiner Freunde nach und sandte einige Hefte an Schumann, der sich auf das lebhafteste dafür interessierte und sofort auch für einen Verleger sorgte.

Diesem ersten Schritte schloß sich ein zweiter und dritter an: Mendelssohn und Gade folgten Schumanns Beispiel und vertraten Patenstelle an seinen nächsten Werken. Der persönliche Verkehr mit ihnen gewann Franz das wankend gewordene künstlerische Selbstvertrauen zurück und bestärkte ihn in der Überzeugung, mit der eingeschlagenen Bahn die seiner Begabung angemessenste in der Tat ergriffen zu haben. Die Besten seiner Zeit hießen ihn freudig willkommen auf dem begonnenen Wege. »Mögen Sie sehr, sehr viele Werke, ebenso schön gefühlt, ebenso fein ausgeführt, ebenso eigentümlich und so reich an Wohlklang diesem folgen lassen!« schreibt Mendelssohn 1844 in einem Briefe, darin er dem Komponisten für das ihm gewidmete Liederheft op. 3 dankt, und Schumann rühmt den »Fleiß der Auffassung, der den Gedanken des Gedichtes bis auf das Wort wiedergeben möchte«, das Charakteristische der Lieder, »deren einzelne seine Züge anzuführen man nicht fertig werden könne«.

Auch Wagner schätzte Franzens Lyrik hoch und die sechs Gesänge op. 20 wurden ihm zugeeignet. Als Franz ihn 1857 in Zürich besuchte, zeigte er ihm seinen Notenschrank und sagte, auf dessen Inhalt deutend: »Das ist alles, was ich an Musikwerken besitze.« Vor Franzens Augen standen da Bach, Beethoven und seine eigenen Lieder.

Liszts warmherzige Anerkennung des Halleschen Meisters ist bekannt. Doch blieb seine Meinung, daß dieser auf jeglichem Gebiete Ausgezeichnetes zu leisten imstande sei, ebenso wie Schumanns Mahnung, sich »durch Ergreifen neuer Kunstformen vor Einseitigkeit und Manier – der Gefahr der Erfolge in kleineren Genres – zu schützen« und sein »reiches Innere auch anders auszusprechen als durch die Stimme«, fruchtlos gegenüber der Überzeugung des Künstlers, daß gerade in der Liedform »sein eigentlichster Inhalt kulminiere«. Grundsätzlich verließ Franz diese Bahn nicht wieder. »Richard Wagner«, meint er, »ist der Mann weiter Würfe; ich verschmähe solche Schleuder und gehe lieber mit dem Spitzhammer auf einen Fleck los.« »Meine Anschauungen sind so mit mir verwachsen, daß ich sie nur mit dem Leben aufgebe. Irrte ich – so war meine Existenz verfehlt«, schreibt er einem Freund, und anderwärts: »Sie kennen meinen Grundsatz, nichts zu machen, was ich nicht machen muß, und ich glaube, daß alles so Entstandene die Garantie innerer Notwendigkeit in sich trägt.«

So blieb es denn dabei: Franz verharrte in den sich freiwillig auferlegten Schranken. Außer einem vierstimmigen Kyrie op. 15, einem doppelchörigen Psalm op. 19, einer Liturgie für gemischten Chor op. 29, sechs Gesängen für gemischten Chor op. 24, sechs für Männerchor op. 32, die, sämtlich a cappella, nur mit Ausnahme der zwanzig Jahre später veröffentlichten Liturgie, in den fünfziger Jahren erschienen und denen er 1887 noch einen Trinkspruch folgen ließ, hat seine Muse nur in Liedern zu uns geredet [4].

Welch ein Lieder-Segen aber ist von ihren Lippen geflossen! In seinen die bescheidene Zahl 53 nicht übersteigenden Werken halten wir einen Schatz von 279 einstimmigen Gesängen in den Händen. Was der Komponist mit einer derartigen Vertiefung in eine einzige Kunstgattung erreichte, ist im wesentlichen die Vertiefung und Verinnerlichung dieser Kunstgattung selbst. Wenn Schubert und selbst der träumerisch in sich versenkte Schumann in der Wahl des Stoffs wie des Ausdrucks direkter mit der Außenwelt in Beziehung treten; wenn – wie die überwiegenden Situationsbilder des einen und die vorherrschend deklamatorisch-pathetische Weise des andern dies mit sich bringen – wir bei beiden häufigen Tonmalereien begegnen, so eignet Franz, bei dessen Kunstausdruck es sich fast ausschließlich um innere Prozesse handelt, ein mehr psychisches Kolorit. Selbst die der Natur entnommenen Bilder führt er uns mehr im Reflex seiner Dichterseele als im lebendigen Schein der Wirklichkeit vor Augen. Äußerst sparsam verwendet er den tonmalerischen Apparat. Nur vereinzelt läßt er uns einmal »Im Walde« lustigen Hörnerklang hören; oder er deutet hier in wogenden Sechzehnteln auf die Wellenbewegung des Meeres (op 9, Nr. 6), oder in weitgriffigen Akkorden auf die majestätische Größe und unendliche Weite desselben hin (op. 36, Nr. 1, op. 39, Nr. 2 und 3). Sehr sinnig und für seine Weise charakteristisch verdolmetscht uns die eigentümlich schaukelnde, zwischen Dur und Moll schwankende Begleitung in »Wasserfahrt« op. 48, Nr. 3), zugleich mit der Situation, die zwischen Lust und Leid schwebende Empfindung des Scheidenden. Mehr um Wiedergabe der Gesamt- als der Einzelstimmung ist es ihm zu tun, wie schon aus der fast durchgängigen Anwendung der Strophenform erhellt. Gleichwohl bekunden charakteristische Modifikationen bei Wiederkehr der verschiedenen Strophen und wirkungsreiche Steigerungen der harmonischen Beleuchtung, auch ausnahmsweise einmal die Einfügung eines Rezitativs, wie in »Frühlingsklage« op. 50, seinen feinen Sinn auch für detaillierten Ausdruck. Bezeichnend spricht er sich selbst seinem Freund, Dr. Erich Prieger in Bonn, gegenüber aus [5]: »Die modernen Texte erheben, wie Sie richtig bemerken, einen größeren Anspruch, auch in den Einzelheiten erfaßt zu werden, wie die der Alten, bieten mithin Schwierigkeiten, an denen die Einheit der musikalischen Ausführung oft genug scheitert. Die Gefahr liegt in dem Nebeneinander der poetischen Momente, die sehr häufig unter sich kontrastieren. An dieser fatalen Klippe scheitert Schubert in vielen Fällen – auch Mendelssohn, von Löwe ganz zu schweigen. Alles kommt hier darauf an, das Einzelne einer Gesamtstimmung unterzuordnen, ohne es dabei zu vernachlässigen. Dieser Forderung glaube ich ziemlich nahe gekommen zu sein. – Liszts Broschüre spricht sich über meine Relationen zu den Dichtern eingehend aus und drängt diese Untersuchungen in den Worten zusammen: ›Besonders eigentümlich ist Franz die Fähigkeit des Zurückbiegens der dichterischen Pointe, die ihn stets vor einem Nebeneinander bewahrt.‹ Demnach komponiere ich den Text nicht, wie er sich in der Zeit entwickelt, sondern beleuchte ihn von jenem Kernpunkte aus. Ist dieser erst entdeckt und hat er seine musikalische Formel, die sich als Motiv darstellt, gefunden, dann macht sich alles Übrige wie von selbst«. »Wagners Lyrik«, heißt es an selber Stelle, »fußt nicht nur auf der Schubertschen und der meinigen, sondern ist mit letzterer in einzelnen Fällen, wo er von ihr gar nichts wissen konnte, wahlverwandt. Mein Sohn machte mich neulich auf eine Stelle in meinem op. 51 aufmerksam, die fast Note für Note dem Motiv der Walkyre gleicht. Das Lied im op. 51 wurde aber im Jahre 1844 geschrieben, wo an diese Schlachtenjungfrau noch gar nicht zu denken war ... Daß mein künstlerischer Stil eine ganz andere Richtung verfolgt, wie der seinige, kann mich nicht abhalten, dem seltenen Manne Gerechtigkeit widerfahren zu lassen.«

Ersichtlich gefällt Franz sich mehr in der Wahl gedämpfter als glänzender Farben. Blendende Lichteffekte verschmäht er, und mehr an die Dämmerung der Nacht, an den sanftern Glanz des Mond- und Sternenhimmels als an die sonnige Helle des Tages gemahnen seine Gebilde. Dem Glutstrome der Leidenschaft, wie er uns bei Schumann oft überwältigend berührt, gestattet die fast weibliche Zartheit und Keuschheit seines Empfindens nur selten Durchbruch; ohnehin ist er der Ansicht, daß dieser ins Drama, nicht in die Lyrik gehöre. Als derlei Ausnahmserscheinungen nennen wir beispielsweise: »Er ist gekommen« op. 4, »Gewitternacht« op. 8, »Traumbild«, »Es treibt mich hin« op 34. Er deutet meist nur an mit leisem, geheimnisvollen Finger und überläßt uns selber die Ergänzung, wie der Dichter uns die ganze Fülle der Empfindung oft nur ahnen läßt.

Tritt bei dem ältesten unserer drei großen Liedermeister das rein Musikalische, bei seinem Nachfolger die poetische Intention in den Vordergrund, so erstrebt der jüngste derselben vielmehr ein vollkommenes Gleichmaß zwischen Poesie und Tonkunst, derart, daß nirgend ein Übergewicht der einen über die andere fühlbar und eben so wenig der musikalische Ausdruck als solcher dem des Wortes aufgeopfert werde, als dieses letztere zur Folie des ersteren herabsinke. Daher auch sein sorgfältiges Vermeiden von Textwiederholungen und eine epigrammatische Kürze der Fassung, die der Musik wenig Spielraum zur Entfaltung eigener Selbständigkeit gönnt. Man könnte bei Franz' Liedern von konzentrierter Musik sprechen, so tief und bedeutsam ist ihr Gehalt, so gedrängt ihre äußere Form. »Illustrationen des dichterischen Wortes«, wie er selbst voll Bescheidenheit dieselben nennt, sind sie es eigentlicher im bildlichen als im buchstäblichen Sinne. Eher als feinsinnige tondichterische Auslegungen denn als malerische Beigaben möchten sie uns erscheinen. Sagt aber schon Schumann in seiner Besprechung der ersten Franzschen Gesänge: »Er will mehr als wohlklingende oder übelklingende Musik, er will uns das Gedicht vielmehr in seiner leibhaftigen Tiefe wiedergeben«, so bezeichnet er damit den Gesichtspunkt, von dem aus der Komponist selbst seine Darbietungen betrachtet wissen will. Ihm sind sie einfach nur »Produkte der Poesie«; »ein erweitertes Leben« dem Worte durch den Ton in ihnen gewonnen zu haben, ist alles, darauf er Anspruch macht. »Zur vollen Blüte soll das Wort im Tone ausbrechen«, lautete einer seiner schönen Aussprüche bei einer unserer Begegnungen mit ihm, wie sie uns in der Erinnerung immer teuer bleiben werden.

Ist es nur dem Geweihten, dem Tondichter von Gottes Gnaden gegeben, jenen gewissen musikalischen Keim, die geheime Melodie, die in jedem rechten Gedicht – es ist hier selbstverständlich nur von dem lyrischen die Rede – schlummert, zu wecken und künstlerisch zu verkörpern, so dürfen wir Robert Franz unter diese Begnadeten zählen. Wie unwillkürlich nimmt die Poesie ihm Tongestalt an und weckt ihm eine Welt des Klanges, wenngleich seine Erzeugnisse keineswegs den Anschein tragen, als seien sie leichte Ausgeburten eines flüchtigen Schaffensprozesses. »Musterhaft«, sagt Liszt, »ist Franz in der wahrhaft keuschen, innig hegenden Aufnahme des dichterischen Wortes an das musikalische Herz.« »Wagner«, schreibt Franz an Prieger, »faßt das Verhältnis zwischen Poesie und Musik wie das zwischen Mann und Weib auf – ganz meine Ansicht!« In ähnlicher, weiblich selbstloser Weise hat sich wohl kein Komponist dem Dichter angeschmiegt als er. Eben in diesem seinem Verhältnis zu jenem hauptsächlich wollte Franz als eine neue, eigentümliche Erscheinung betrachtet sein. So völlig weiß er sich der Individualität desselben anzupassen, daß beispielsweise seine Goethelieder sich bestimmt und klar von den Heineschen und diese wiederum von denen Lenaus usw. unterscheiden; so daß eine jede dieser Gruppen im ganzen den Stempel ihres dichterischen Ursprungs trägt, während den Liedern im einzelnen zugleich ihr besonderer Charakter aufgeprägt bleibt. Ein feiner, divinatorischer Instinkt läßt ihn, wie Ambros in seiner interessanten Studie [6] nachweist, bei Volksliedern die verschiedensten, ihm selbst ganz unbekannten Nationaltypen richtig treffen; hatte er doch auch die altdeutschen Lieder, an welche die seinen so seltsam anklingen, erst in den siebziger Jahren im sogenannten Freylinghausenschen Gesangbuch kennen gelernt und die alten Weisen wieder erkannt, die er in seiner Kindheit vom Vater singen hörte und damals unbewußt in seine Seele aufnahm.

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Anmerkungen:

  1. »Allgemeine Musik-Zeitung«, 18. Nov. 1892.
  2. Zuerst »Neue Zeitschrift für Musik«, Bd. 43, Nr. 22 u. 23, dann als Broschüre (1872), schließlich Ges. Schriften, Bd. IV., Leipzig, Breitkopf & Härtel, erschienen.
  3. Leipzig, Gebrüder Hug, 1886.
  4. Als op. 45, 46 und 49, sowie in einem bei Whistling (jetzt Peters) in Leipzig erschienenen Heft ohne Opuszahl, gab er auch einige seiner einstimmigen Gesänge in einer Bearbeitung für Chor heraus. Op. 53, drei Chorlieder (nach op. 27) erschien nach seinem Tode.
  5. Über Dichtung und Musik. Drei Briefe von Robert Franz. Mitgeteilt von Erich Prieger. Sonderabdruck aus der Festschrift zum 10jähr. Bestehen der Literaturarchiv-Gesellschaft in Berlin, 1901.
  6. Robert Franz. Leipzig, Leuckart. 1872.
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