Bevor im letzten Drittel des vergangenen Jahrhunderts mit den Musikdramen Wagners die epischen Tonschöpfungen Liszts sich allmählich Raum und Geltung gewannen, haben wir in Deutschland jahrzehntelang in einer vorwiegend lyrischen Periode musikalischer Entwicklung gelebt. Naturgemäß zog die durch Goethe herbeigeführte dichterische Blüte des Liedes die musikalische nach sich. Die in schöner Form sich offenbarenden Empfindungen des Poeten weckten ein Echo in der Seele des Tonkünstlers und begeisterten ihn, was jener gesungen, in seiner Sprache nachzudichten. Die Beziehungen zwischen beiden knüpften sich inniger, wie die Beziehungen des Künstlers zu dem von ihm behandelten Stoff überhaupt engere, intimere wurden. Immer subjektiver gestaltete sich dementsprechend auch die lyrische Tonpoesie. Von der Objektivität Mozarts, seiner künstlerischen Selbstlosigkeit, wenn wir so sagen dürfen, sind wir weit abseits gekommen. Ein Stück seiner selbst, ein mehr oder weniger vollständiges Bild seiner eigenen Individualität begehrt der Tonschöpfer der Neuzeit in seinem Werke niederzulegen. Schon Beethoven hatte in seinen späteren großen Werken subjektive Bahnen eingeschlagen. Die Einigung zwischen Wort und Ton, die er vollbewußt anstrebte und die in der Missa solemnis zu überwältigendem Ausdruck gelangt, erzielt bereits in dem unvergänglichen Liederkreis: »An die ferne Geliebte« ungleich tiefergehende Wirkungen als ein lyrisches Gesangstück sie vordem erreicht hatte. Und doch bezeugte sich sein Genius im Liede weniger neuschöpferisch, als in jeder anderen von ihm behandelten Kunstform; noch äußert die italienische Arie hier und da auf ihn ihren Einfluß. Seiner auf das Erhabene gerichteten Natur lag überhaupt die engumgrenzte Lyrik ferner.

Auch Carl Maria von Weber, obwohl manche seiner Gesänge als Volkslieder im Munde der Deutschen fortleben, gewann für die Entwicklung des Liedes nur insofern nachhaltigere Bedeutung, als er die ihm eigentümliche Grazie und reizvolle Rhythmik, den schmeichelnd süßen Wohllaut, der allem, was er schrieb, eignet, auch dieser Kunstgattung einbildete, hiermit für seine Nachfolger eine dem Liedcharakter wesentliche Anforderung feststellend.

Zu höherer Vollendung führte Franz Schubert das Lied, ja man hat ihn als den Schöpfer des Liedes bezeichnet. Gewiß ist, daß seine Lieder vor allem ihn zum Liebling des deutschen Volks gemacht haben, daß er durch sie demselben ans Herz gewachsen ist. Wo auch fände sich ein Lied, das sich an Popularität mit dem »Erlkönig« oder dem »Wanderer«, dem »Ständchen« oder den »Müllerliedern« messen dürfte? Mit unerschöpflicher Sangeslust begabt, über einen Melodienschatz verfügend, dem sich an Unversieglichkeit kaum ein anderer als derjenige Mozarts vergleichen läßt, flossen seine Lippen über von Liedern ohne Ende. Jeder Vers, den seine Hände berührten, verwandelte sich zum fertigen Tongebild. Fast wahllos gestaltete er aus der Überfülle eines nahezu unbegrenzten Vermögens heraus, das ihn nirgends an Beschränkung mahnte. Nicht Reflexion oder ästhetische Spekulation führte ihn dazu, das Wesen des Liedes zu vertiefen, seinen Inhalt geistig zu erweitern, es nach Seite der Charakteristik und lyrischen Dramatik hin auszubauen: ihn leitete dabei einzig der ihm eingeborene künstlerische Instinkt. Eine unglaublich üppige, leidenschaftlich erregte Phantasie, eine eigentümlich malerische Gestaltungsgabe drängten zum Ausfluß; sie verlangten sozusagen die Inszenierung jedes Sujets: das Lied erweiterte sich ihm unwillkürlich zur Szene, ohne darum doch seines lyrischen Grundcharakters verlustig zu gehen. So schuf er auf inneres Geheiß, voll jener Naivität und Unmittelbarkeit, die den Genius unbewußt das Rechte treffen, ihm Glück und Schmerz zum künstlerischen Segen, zum Gewinn für sich und die Nachwelt gedeihen läßt.

Viel reflektierter, moderner Art gemäß schufen Mendelssohn und Schumann ihre Lieder. Standen bei Schubert Text und Musik nicht immer im rechten innerlichen Verhältnis zu einander, ja erscheint der erstere von der letzten oft himmelweit überragt, also daß das Wort nur zur Folie dient für das zum Hauptfaktor erhobene rein Musikalische, so verfuhren die späteren Meister ungleich sorglicher in der Wahl ihrer dichterischen Grundlagen. Während aber Mendelssohn, im Aufblick zu Reichardts und Zelters Vorbild, sich begnügte, der gesungenen Melodie durch das Klavier das notwendige Geleit zu geben, ohne die Begleitung jemals das absolut musikalische Gebiet überschreiten zu lassen, ordnet Schumann das Akkompagnement dem Gesang als ein Gleichberechtigtes bei. Er erstrebt die sich zur Aufgabe gestellte Einheit zwischen Dicht- und Tonwerk weniger auf melodischem als rhythmischem, harmonischem Wege durch erhöhte Feinheit der Charakteristik, die sich hauptsächlich in der Behandlung des Pianofortes kundgiebt. Letzterem übertragt er die individuellere Auslegung und Ergänzung des Textes, den die Stimme in ausdrucksgemäßer Deklamation vermittelt. Seinem durchaus dichterisch angelegten Naturell gilt im Gegensatz zu Schubert die poetische Intention als Hauptsache, der gegenüber er der rein musikalischen Form minderes Gewicht beilegt. Bei gleicher Gemütsfülle und Tiefe ist Schumann bei weitem geistreicher als sein großer Vorgänger Schubert; dieser dagegen naiver, ursprünglicher, melodisch reicher. Er ist ein reines, gottbegnadetes Naturkind neben jenem, der ihm verglichen, ernst und tiefsinnig, ein stiller, in sich versunkener Denker und Träumer erscheint. Darum entscheidet auch individuelle Neigung allein die müßige, wiewohl häufig aufgeworfene Frage, wer der größere sei von beiden Großen? Ihnen aber, den vornehmsten Förderern des Liedes, schloß sich in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts ein anderer an, dessen Name oft und mit Recht in engster Verbindung mit jenen genannt wird: Robert Franz.

Er durfte als der eigentliche Liedersänger seiner Zeit gelten. Wenn andere, wie Liszt, Rubinstein, Brahms, Grieg, Wolf, Strauß, sich inmitten einer vielseitigen künstlerischen Wirksamkeit auf zeitweise lyrische Spenden beschränkten und noch beschränken, so hat Franzens Schaffen ausschließlich in dieser einen Sphäre Bedeutung gewonnen. Der Kunstart, die seinen Namen zuerst der musikalischen Welt bekannt machte, ist er mit seltener Beharrlichkeit treu geblieben; denn mit Ausnahme dreier Kompositionen für Kirchenchor, einer Anzahl Vokalquartette und Bearbeitungen älterer, namentlich kirchlicher Werke, hat er uns nur Lieder geschenkt. Diese kleinen Gaben – 279 in ihrer Gesamtzahl – freilich umschließen eine Perlenreihe von so hohem Wert, daß sie ihrem Schöpfer einen Platz im Kreise der edelsten Genien der Tonkunst zu erwerben vermochten.

Neben Franz Schubert und Robert Schumann, die deutschen Meistersänger, aus deren Vornamen sich durch ein wunderliches Spiel des Zufalls sein eigner Name zusammensetzt, darf Robert Franz sich als würdiger Genosse stellen. Der Erbe und Nachfolger beider, schlug er nichtsdestoweniger selbständige Bahnen ein. Im Gegensatz zu der überwiegenden Entwicklung der Musik nach der instrumentalen Seite hin, die sich seit Beethoven im Tonleben geltend macht, griff Franz zur großen Vokalperiode der Längstvergangenheit zurück und fand in dem uralten Ausgangspunkte unserer musikalischen Lyrik: dem altdeutschen Volkslied und dem aus ihm hervorgegangenen protestantischen Choral die Basis seines Schaffens. Einflüsse, die von frühester Kindheit an auf ihn einwirkten, sowie innerste Neigung zur Beschäftigung mit alter Musik, wie sie sich durch seine Bearbeitungen älterer Tonwerke betätigte, leiteten ihn zuerst instinktiv auf diesen Weg. Weiterhin vertiefte und befruchtete die Bekanntschaft und steigende Vertrautheit mit Bach und Händel seine Richtung, während Schubert und Schumann ihm moderne Elemente zuführten und ihn mit dem künstlerischen Empfinden seiner Zeit in lebendigem Zusammenhang erhielten.

Die Wiederaufnahme jener alten lyrischen Formen vollzog sich übrigens durch Franz keineswegs unvermittelt. Bei Schubert und Schumann bereits taucht hier und dort die dem Kunststil seit langem abhanden gekommene Volksweise von neuem auf. Gleicherweise besann sich die neuere Zeit in Mendelssohn zuerst wieder auf den Choral, der einst Bach und Händel als Grund- und Eckstein ihrer erhabenen Tongebäude gedient hatte. Nur vereinzelt jedoch und wie zufällig kommt bei diesen seinen drei Vorgängern zur Erscheinung, was sich bei Franz als fundamental für seine Entwicklung darstellt. Nicht allein bestimmend wirkten Volkslied und Choral auf seinen Kunstausdruck, sie haben denselben, seiner eigenen Überzeugung zufolge, geradezu hervorgerufen. Das Schlicht-Volkstümliche einerseits, das Übersinnliche, resigniert von der Welt Abgewandte der Empfindung andererseits, das Ethische und Maßvolle, das das alte, unserem heutigen Geschlecht fast entfallene Kunstgesetz: Ruhe in der Bewegung, als Kardinalgebot zu predigen scheint – all' diese Züge, die seine Kompositionsweise kennzeichnen, führen in direkter Linie auf jene Einflüsse zurück. Nicht minder die Art seines formalen Ausdrucks, wie die Konstruktion der Kantilene, die Behandlung der Tonarten und deren Harmonie, der Strophenbau, die Vor- und Zwischenspiele, die Tonschlüsse, die polyphone Stimmführung, das Vokale des ganzen Tonsatzes, wo jede einzelne Stimme am Gesang beteiligt und ein wesentlicher Träger des Ganzen ist.

Selbstverständlich mußten seine von denen der Kunstgenossen verschiedenen Ausgangspunkte auch verschiedene Ergebnisse bedingen. Der dramatischen Auffassungsweise Schuberts, wie dem deklamatorischen Pathos Schumanns hält Franz sich gleicherweise im Liede fern, Lyriker im engsten und eigentlichsten Sinne, setzt er das Wesen desselben mehr noch in die innerste Tiefe der Empfindung, er verinnerlichte es in einem Grade, der eine Steigerung nach dieser Seite hin kaum noch zuläßt. Nennt er selbst doch seine Lieder sehr bezeichnend Monologe, die die Empfindung mit sich selber hält.

Fast spröde und schmucklos stellen sie sich, trotz des ihnen innewohnenden Kunst- und Gefühlsreichtums, zuerst dem Blicke dar. Es bedarf eines sicheren, am Kunststudium geschärften Auges, um ihren Wert allsogleich zu erkennen. Erst nach und nach erschließen sich dem Hörer wie dem Sänger diese tiefen Herzenslaute, diese träumerischen Stimmungsbilder, die nicht minder der frischen Sinnlichkeit Schuberts entbehren wie des berückenden Zaubers Schumannschen Tongewebes. Was dem Kunstwerk im Publikum unwiderstehlich Eingang verschafft: der breite, fortreißende Gefühlsstrom, das geht ihnen ab. Beobachtet doch der Komponist in seinem Kunstausdruck eine merkliche Zurückhaltung. Dem Erfahrungssatze gemäß, daß, je feingebildeter Geist und Herz des Menschen sind, sich um so feiner und mystischer die Kreuzungslinien der Empfindung gestalten – so daß die Freude einen leisen Beigeschmack von Wehmut annimmt, den Schmerz ein sanfter Strahl der Hoffnung durchzieht – treten auch bei Franz die Stimmungen mehr gemischt auf und scheinen an erschütternder Gewalt zu verlieren, was sie an intensiver Eindringlichkeit gewinnen. Nicht jeglichem enthüllen seine Lieder ihre zarte keusche Seele: nur poetischer Sinn, künstlerische Feinfühligkeit, oder zarte Herzenseinfalt vermögen ihnen gerechte Richter, dankbare Empfänger zu sein. Er selbst sagt: »Wer hier nicht zur musikalischen Tüchtigkeit ein lebhaft sich hingebendes poetisches Auffassungsvermögen, das im Herzen und nicht im Verstande wurzelt, mitbringt, dem wird das Beste in meinen Liedern stets ein mit sieben Siegeln verschlossenes Geheimnis bleiben.«

Mehr im engeren Freundeskreis als vor dem großen Konzertpublikum entfalten sie ihren wahren Reiz. Ihre Zeichnung ist zu detailliert, ihr Kolorit zu fein, um gegenüber den größeren Dimensionen des Konzertsaales und einer aus ungleichartigsten Elementen gemischten Zuhörerschaft nicht einen guten Teil ihres Eindrucks einzubüßen. So ist auch die ihnen eigene mehr stille als begeisternde Wirkung ihrer Popularität nicht förderlich gewesen. Der Kreis derer, die sie nach ihrem wahren Wert zu würdigen wissen, blieb ein verhältnismäßig beschränkter. Fürwahr, belehrte uns nicht der alte und doch immer neue Erfahrungssatz, daß gerade dem Besten hienieden sich am schwersten und letzten das Verständnis öffnet, wir würden befremdet vor der Tatsache stehen, daß diese einer spezifisch deutschen Kunstart zur unvergänglichen Zierde gereichenden Tongebilde unserem Volke nicht schneller eingegangen, nicht tiefer ans Herz gewachsen sind. Seit dem Hinscheiden ihres Schöpfers und den Wandlungen, die sich neuerdings im Musikgeschmack vollzogen, trat ihre schlichte Weise zurück hinter lauteren glänzenderen Erscheinungen. Verklingen aber werden sie nicht; denn Ewigkeitswerte wohnen ihnen inne.

Franz selber sah in ihnen den Abschluß einer Kunstperiode. »Ich erblicke,« schrieb er uns am 9. Februar 1872, »in der Kunst einen in sich abgeschlossenen Organismus, dessen Entwicklungsstadien mit innerer Notwendigkeit einander folgen. In der Poesie wie in der Musik ging der Prozeß von naiv-lyrischen Elementen aus, erhob sich später zu dramatischen und epischen Formen, um schließlich wieder zu den Anfängen, die jedoch nun von bewußteren Grundlagen getragen werden, zurückzukehren. Hiermit scheint mir der Kreislauf vollendet und das Kunstschaffen vor der Hand zu einem bestimmten Abschluß gekommen zu sein – es wird erst neuer, die bisherige Weltanschauung umgestaltender Ideen bedürfen, bevor die Künste wieder zu selbständigerem Leben erwachen. Wer dieser Ansicht beipflichten kann, wird notwendig in der modernen Lyrik, namentlich im Liede, ein sehr ernstes Moment erblicken müssen. Sie spiegelt gewissermaßen die Vergangenheit im kleinen Rahmen noch einmal wieder: wie in schimmernder Abendröte scheidet die holde Kunst von der trauernden Erde und wirft noch einen letzten schmerzlichen Blick auf sie zurück. – An meinen Liedern z. B. läßt sich diese Erscheinung ganz ungezwungen beobachten: die Anklänge an das uralte Volkslied und seine Naturlaute, die Beziehungen auf die große altitalienische Schule mit ihren tiefsinnigen Kirchentönen, die geheime Wahlverwandtschaft zu Bachs und Händels Musik, die lebhafte Hinneigung zu dem in Schubert und Schumann kulminierenden modernen Ausdruck – von alle diesem finden Sie deutliche Spuren in meiner Lyrik, die sich sowohl neben- als ineinander verfolgen lassen.

Wer in dem Menschen einen Mikrokosmus erblickt, wird sich über dergleichen vor Augen liegende Tatsachen, die übrigens in Heines Lyrik geradezu ihr entsprechendes Seitenstück finden, durchaus nicht wundern. Das moderne Lied auf diese Basis gestellt, gewinnt aber eine Bedeutung, von der man sich seither nur wenig träumen ließ.«

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