Fünf Passionen hat Bach nach den Mittheilungen seines Sohnes Philipp Emanuel geschaffen. Davon gingen durch die Schuld des leider mehr und mehr verwildernden Friedemann, in dessen Besitz nach des Vaters Tode die Hälfte seines Musikreichthums überging, zwei für uns verloren. Nur einzelne Theile der einen – der Marcuspassion – die, wie die Untersuchungen Rust's ergaben, in der 1727 geschriebenen Trauer-Ode auf den Tod der Königin Christiane Eberhardine, August des Starken Gemahlin, Aufnahme fanden, blieben uns erhalten. Vollständig wurden uns durch Philipp Emanuel die Passionen nach den Evangelisten Johannes und Matthäus überliefert. Auch eine Lucaspassion ist in Bach's Autograph noch gegenwärtig vorhanden; doch wurde ihre Echtheit vielfältig bestritten. Spitta bezweifelt sie nicht; er weist nur ihre Entstehung in eine frühere und zwar die erste Weimarer Periode zurück, der beispielsweise der Actus tragicus entstammt. Die Johannespassion wurde muthmaßlich am Charfreitag 1724 zum ersten Male öffentlich zu Gehör gebracht. Ihr folgte fünf Jahre später die Matthäuspassion.

Verschieden geartet wie die biblische Grundlage beider Evangelien ist Bach's tonkünstlerische Wiedergabe derselben. Dem früher geschriebenen Werk ist ein mehr lyrischer, mystischer, eigenthümlich umschatteter Grundton eigen; das spätere charakterisirt ein dramatischerer Zug, eine bewegtere Handlung und wechselvollere Stimmung und demgemäß eine reichere Mannigfaltigkeit der Kunstmittel und Formen. Dort, wo der Componist sich seinen Text auf eigene Hand zusammenstellte, herrscht eine gewisse düstere Einförmigkeit vor. Hier, wo der Wirkung des Ganzen die Mithülfe eines Dichters (Henrici-Picander) zu Gute kam, der sich auf Gliederung und Anordnung des Stoffes wohl verstand, kommt ungeachtet der Einheit des Trauergefühls, welche Alles durchzieht, eine überraschend reiche Scala der Empfindungen zum Ausdruck. Eine tiefe Wirkung auch liegt in der modulatorischen Anordnung der Matthäuspassion, auf die der scharfe Künstlerblick Moritz Hauptmann's zuerst hinwies.[1] Der ganze erste Theil und im Wesentlichen auch die erste Hälfte des zweiten bis nach der Kreuzigung bewegen sich in der Region der Kreuztöne. Nach den in As-dur gesungenen Worten: »Wahrlich, dieser ist Gottes Sohn gewesen!« aber herrschen die B-Tonarten, die für die nun eingetretene Entspannung die geeignete Unterlage bilden. Als das macht-und glanzvollere, imposantere und in seiner Ganzheit vollendetere Werk wird die Matthäuspassion mit ihrer breiten Anlage, ihren zwei Orchestern und Chören immer den Preis davontragen. An Werth der musikalischen Erfindung und Ausgestaltung im Einzelnen indeß steht keins von beiden dem anderen nach. Die Sologesänge gehören bei dieser wie bei jener zu den schönsten, die Bach geschrieben. Auch in Behandlung der Recitative wird wesentlich nur der Unterschied augenfällig, daß in der Matthäuspassion ein Streichquartett die Reden des Heilands begleitet und sein Haupt gleichsam von einem Heiligenschein umflossen zeigt. Bei Darstellung der dramatischen Chorsätze da gegen giebt sich in der zuletzt genannten Schöpfung eine um Vieles erhöhte Lebendigkeit kund. Oder bezeugen der grandios wirkende Volksruf »Barrabam!«, das »Laßt ihn, haltet, bindet nicht!«, das flammende »Sind Blitze, sind Donner in Wolken verschwunden?« nicht zugleich die naturwahrste und stilvollste Charakteristik? Zwei größere betrachtende Chöre nur weist die Johannespassion auf: die herrlichen am Anfang und Ende stehenden »Herr, unser Herrscher« und »Ruht wohl, ihr heiligen Gebeine«. Den Eingangschören seiner Cantaten gleich, in denen Bach den im Ganzen darzulegenden Empfindungsgehalt zusammenzudrängen liebt, repräsentirt auch der erstere Chor gleichsam den Prolog der kommenden Passionstragödie. An seiner Stelle stand ursprünglich der gegenwärtig aus der Matthäuspassion bekannte Schlußchor »O Mensch, bewein' dein' Sünde groß«, der nun sammt dem sich gleichfalls über einem Choral (»O Lamm Gottes, unschuldig«) aufbauenden bewundernswürdigen Einleitungschor den ersten Theil von Bach's größtem protestantisch-kirchlichen Werke durch zwei Choralbearbeitungen erhabensten Stils einrahmt. Wie in den Cantaten, so ist auch in den Passionen und den später entstandenen, ihnen verwandten großen Musiken, welche das Weihnachts-, Oster- und Himmelfahrtsfest feiern (sie sind als Weihnachts-, Oster- und Himmelfahrtsoratorium, letzteres auch als Cantate »Lobet Gott in seinen Reichen« bekannt), der Choral die bedeutsamste musikalische Macht. Doch dient er hier nicht nur wie bei jenen Ersten als eigentlicher Träger der kirchlichen Empfindung; auch als wichtiges Kunstmittel wird er in Mitwirkung gezogen. Im einfach vierstimmigen Satze eingeführt, gewährt er innerhalb des weiten, vielgliederigen Baues willkommene Gefühlsruhepunkte und sorgt für entsprechende Gruppirung und Abwechslung. So tritt in der Matthäuspassion Bach's Lieblingsmelodie »O Haupt voll Blut und Wunden« nicht weniger als fünfmal mit immer gesteigerter Wirkung hervor, und gleicherweise wählte er für die Johannespassion das Stockmann'sche Passionslied »Jesu Leiden, Pein und Tod« als Mittelpunkt. Indem er somit seinen aus Orgelkunst und Choral hervorgegangenen, echt kirchlichen und nationalen Stil, wie er ihn in der Cantate bethätigt hatte, auch auf die Passion übertrug, vollzog er die künstlerische Einigung all' der widerspruchsvollen Elemente, die vor ihm in dieser Letzteren Aufnahme gefunden hatten, und wurde auch für sie wiederum der Vollender. Die wunderbare volksthümliche Kraft, die der Matthäuspassion wie keinem anderen von Bach's Werken innewohnt, hat sich, wie im Allgemeinen in ihrem deutschen Vaterlande, so im Besonderen an ihrem Geburtsort Leipzig bewährt. In der Kirche, in der sie der Meister einst seiner Gemeinde bescheerte, lauschen alljährlich am Charfreitag Tausende in stiller Andacht ihren frommen Klängen und suchen und finden bei ihr höchste künstlerische und religiöse Erbauung.

Was Leipzig an dem besaß, der ihm unsterblichen Ruhm bereitete, das ahnte es freilich so wenig, daß die Väter der Stadt es nicht einmal der Mühe werth erachteten, ihm, nachdem er sie unmittelbar zuvor (am 15. April 1729) mit seiner großen Matthäuspassion beschenkt hatte, die Rücksicht zu erweisen, bei Besetzung von Alumnenstellen die von ihm empfohlenen, musikalisch Tüchtigsten herauszulesen. Das erbitterte ihn begreiflicherweise dergestalt, daß er allen Ernstes den Gedanken faßte, sich der undankbaren Stadt und einer ihm ohnedies vielfach unerquicklichen Stellung für immer zu entziehen. In einem Briefe an seinen Jugendfreund Erdmann, der sich mittlerweile in Danzig niedergelassen hatte, spricht er 1730 die Bitte aus, dafern er »vor einen alten treuen Diener dasigen Orthes eine convenable station wisse oder finde, eine hochgeneigte Recommendation einzulegen«, da er »einer wunderlichen und der Music wenig ergebenen Obrigkeit gegenüber fast in stetem Verdruß, Neid und Verfolgung leben müsse«.

Zum Glück für Leipzig hatte der Brief nicht den gewünschten Erfolg. Bach blieb bis an sein Lebensende in seinem Amte. Auch gestaltete sich dasselbe um Vieles erfreulicher, als nach des alten Rectors Tode der ihm von Weimar her befreundete Gesner die Leitung der Thomasschule übernahm. Unter ihm, einer bedeutenden philologischen und trefflichen pädagogischen Kraft, nahm die Anstalt erneuten Aufschwung. Auch für Bach umschließen die leider kurzen Jahre des mit ihm vereinten Wirkens (1730–1734) die glücklichste Zeit seines Lebens in Leipzig. Nicht nur daß ihn ein herzliches collegialisches Verhältniß mit dem gelehrten Freunde verband, der in einer Anmerkung zu seiner Ausgabe der »Institutiones oratoriae« des Quinctilian von Bach sagt, daß er »mehr Gaben in sich vereinige als Orpheus und Arion zusammen«: auch seine Beziehungen zur städtischen Behörde suchte Gesner mit Erfolg freundlicher zu gestalten. Ernstliche Differenzen zwischen ihr und dem streitbaren Cantor unterblieben wenigstens hinfort; man suchte mit einander gütlich fertig zu werden. Auch die musikalischen Verhältnisse hoben sich, Dank Bach's immer mächtiger werdendem Einfluß, inzwischen mehr und mehr. Er fühlte sich zu dieser Zeit wirklich wohl in Leipzig und gab dem auch in einer Cantate, in der er das Lob der Stadt singt, offenen Ausdruck. Leider nur war diese Befriedigung von kurzer Dauer. Als Gesner schon nach vier Jahren seinen Leipziger Wirkungskreis mit einem anderen vertauschte, fehlte es bei seinem Nachfolger Ernesti nicht an erneuten Conflicten und Kämpfen, da Bach in musikalischen Angelegenheiten volle Unabhängigkeit begehrte. Es bedurfte des persönlichen Eingreifens des ihm wohlgeneigten Königs, das der in seiner Ehre gekränkte, hartnäckig sein Recht verfolgende Musiker schließlich anrief, um einen zwischen ihm und seinem Rector ausgebrochenen langwierigen Competenzstreit zu seinen Gunsten beizulegen. Die Feindschaft zwischen Beiden aber währte offen fort. Ernesti's Collegen stellten sich auf dessen Seite. Den persönlichen Groll gegen Bach ließ man seiner Kunst entgelten, nur als ein nothwendiges Uebel noch betrachtete man dieselbe in der Schulordnung. Mehr und mehr gerieth der große Künstler in eine vereinsamte, mißachtete Stellung, und um ein harmonisches Zusammenwirken und eine gedeihliche Musikpflege an der Schule war es für immer geschehen. Was Wunder, daß Bach entschiedener noch als zuvor den Schwerpunkt seiner Thätigkeit auf sein freies musikalisches Schaffen verlegte und sich zum Verdruß seiner Behörde mehr als königlicher Hofcompositeur – denn seit dem Herbst 1736 trug er auch diese Würde – und Capellmeister der Fürstenhöfe Cöthen und Weißenfels denn als städtischer Beamter fühlte?

Unbeeinträchtigt durch all' diese amtlichen Mißhelligkeiten floß ihm wenigstens der Quell seines Schaffens in ungetrübter Reine und Klarheit. An das Große, Ewige, das sein Genius der Welt verkündete, reichten die kleinen Leiden des Lebens nicht hinan. So entstanden in den dreißiger Jahren unter Anderem seine schon erwähnten drei sogenannten »Oratorien« zum Weihnachts-, Oster- und Himmelfahrtsfest. Mit dem, was wir sonst unter diesem Gattungsbegriff verstehen, haben sie nichts gemein. Wie seine Passionen, deren Form sie mit Ausnahme des mehr opernhaften Oster-Oratoriums gleichen, knüpfen sie an alte liturgische Gebräuche an, sind, den Mysterien ähnlich, kirchlich-volksthümlichen Charakters. Weit stärker als bei jenen Ersteren jedoch erscheint hier das Lyrische betont; sie neigen mehr dem Stil der Cantate zu. In eine Folge von sechs Cantaten, welche, den kirchlichen Gepflogenheiten entsprechend, die heiligen Vorgänge vom Christ- bis zum Dreikönigsfest als Ganzes behandeln und den drei Christtagen, dem Neujahrstag, dem darauffolgenden Sonntag und dem Epiphaniasfest gewidmet sind, gliedert sich auch das populärste dieser Werke: das 1734 geschriebene Weihnachts-Oratorium. Reizvollere, eindringlichere Melodien denn hier hat Bach über keine seiner Schöpfungen ausgestreut, und eine holdere Sprache reden seine Instrumente nirgends als in der nächtlichen Hirtenscene, welche die den zweiten Theil einleitende »Sinfonia« schildert. Es hat der Größe seines Werkes keinen Abbruch gethan, daß er einzelne Theile desselben aus verschiedenen weltlichen Gelegenheitscompositionen entlehnte. Kirchlich, wie sein Stil von Grund aus geartet war, bleibt er es auch, wo er weltlich sein will; seinem eigensten Wesen kann er nicht entfliehen.

Neben dem Reichthum monumentaler Werke überrascht die Fülle gelegentlicher Gaben, zu denen der vielbeschäftigte Meister noch Zeit fand. Auch unter ihnen findet sich Bedeutendes, wie die erwähnte herrliche Trauer-Ode auf den Tod den Königin Christiane Eberhardine (1727), oder die Trauermusik, die er dem Andenken seines frühverstorbenen Gönners, Fürst Leopold von Cöthen, weihte und dort persönlich (1729) zur Aufführung brachte. Ihnen reihen sich in bunter Folge Werke lichteren und leichteren Charakters an: Huldigungs-Cantaten für das sächsisch-polnische Königs- oder das Cöthen'sche Fürstenhaus, dramatische Compositionen für allerlei Universitäts- und Schul-Feierlichkeiten, italienische Kammer-Cantaten, Hochzeitsmusiken, auch Humoristisches, wie die Kaffee- und die Bauern-Cantate. Der ernste Künstler kann auch heiter lächeln, und der fromme Sinn für die Kirche hat ihn dem Leben nicht entfremdet. Selbst der sarkastische Ton steht ihm zu Gebote. In dem Dramma per musica »der Streit zwischen Phöbus und Pan« giebt er (1731) eine Art Satyrspiel und geißelt den Unverstand, welcher leichtwiegender, oberflächlicher Musik vor echter edler Kunst den Vorzug giebt. Er zielt darin, indem er in Apollo sich selber, in dem mit Eselsohren bedachten Midas seinen anmaßenden Widersacher Scheibe schildert, in tendenziöser Weise auf die neue, nur das Leichte, Gefällige anstrebende Richtung ab, die sich in der Musik vorzudrängen und seinem strengen Kunststil entgegen zu treten begann. Das Ueberhandnehmen derselben zwar vermochte sein hohes Ansehen nicht zu schädigen. Er war und blieb eine Berühmtheit der Stadt, die für fremde Fachgenossen und Schüler, wie für vornehme Musikfreunde die alte Anziehungskraft bewährte. Auch als oberste Autorität im Orgelbau behauptete er seine Geltung. Bezeugte er sich ja auch durch seine technischen Kenntnisse im Instrumentenbau als ein so echter Abkömmling seines Geschlechtes, daß er zu Cöthen ein neues, zwischen Violoncello und Bratsche in der Mitte stehendes Streichinstrument: die Viola pomposa, und später in Leipzig ein aus Cembalo und Laute sinnvoll combinirtes Tasteninstrument erfand. Indessen hörte er doch mehr und mehr auf, der Mittelpunkt der Musik in Leipzig zu sein. Der neuen, im Jahre 1743 begründeten Concertgesellschaft, die den noch heute blühenden Gewandhausconcerten das Leben gab, blieb er dauernd fern, und einen von ihm geleiteten Musikverein gab er nun auf. Er ließ den herankommenden, ihm fremden Musikgeist unbekümmert sein Wesen treiben – seine Kunst hatte in der Kirche, nicht im Concertsaal ihre eigenste Heimat. Emsig mehrte er fort und fort die Zahl seiner Cantaten. Auch geistliche Arien, darunter die schönen »Dir, dir, Jehovah, will ich singen« und Paul Gerhard's »Gieb dich zufrieden«, schrieb er, wol zunächst für den häuslichen Gebrauch. Eine von ihm angelegte Choralsammlung von gegen 240 Melodien ging leider verloren. Nur Theile derselben wurden uns durch seine Schüler und durch Schemelli's Choralbuch gerettet. Nach seinem Tode gab sein Sohn Philipp Emanuel 100 Choräle von ihm heraus, die er später auf 370 vervollständigte. Sie sind größtentheils den Kirchen-Cantaten entnommen und lassen in der Mannigfaltigkeit und Eigenartigkeit ihrer Harmonisirung den harmonischen Reichthum erkennen, den sich Bach durch die tiefsinnige Benutzung der alten Kirchentonarten neben dem modernen Dur- und Moll-System gewann.

Obgleich als ein gelehrter Componist bekannt, ließ er sich, wie der Necrolog berichtet, »nicht in tiefe theoretische Betrachtungen der Musik ein«. Natur und Neigung wiesen ihn zur Praxis hin. Nichtsdestoweniger besitzen wir von ihm eine Generalbaßlehre, die, dem Jahre 1738 entstammend, abschriftlich auf uns kam. Sie ist natürlich zum eigenen Gebrauch beim Unterricht entworfen und in ihrer mustergültigen methodischen Fassung ein beredtes Zeugniß der Lehrgabe, die den vielseitigen Künstler zierte. Hell leuchtet auch hier der sittliche Ernst, der jede Art seiner künstlerischen Thätigkeit kennzeichnet, hindurch, wenn er sagt: »Des Generalbasses Finis und Endursache soll anders nicht, als nur zu Gottes Ehre und Recreation des Gemüths seyn. Wo dieses nicht in Acht genommen wird, da ist's keine eigentliche Music, sondern ein Teuflisches Geplärr und Geleyer.«

Was er hiermit als die eigentliche Aufgabe seiner Kunst bezeichnet: dem Höchsten zu dienen und das Gemüth zu erheben, das strebt er auch in seinen Messen an. Es mag Wunder nehmen, daß ihn, die durchaus protestantische Natur, nach Bethätigung in einer dem katholischen Cultus specifisch angehörenden Musikform verlangte. Doch war ihm die Veranlassung dazu einerseits in seiner Eigenschaft als sächsischer Hofcomponist, andererseits durch die Eigenthümlichkeit des Leipziger Gottesdienstes gegeben, welch Letzterem mehr als anderwärts noch immer katholische Elemente verblieben waren. Nicht vollständige lateinische Messen zwar, aber doch einzelne Messentheile, ein Kyrie, Gloria, Credo oder Sanctus, wie lateinische Hymnen und Motetten, hatten in der kirchlichen Sonn- und Festtagsfeier daselbst ihren bestimmten Platz. So genügte Bach, der Lotti'sche, Palestrina'sche und andere Messen eigenhändig abschrieb, um sie zu diesem Behuf zur Aufführung zu bringen, durch Composition derartiger Kirchenstücke einfach den Verpflichtungen seines königlichen und städtischen Doppelamtes. Unter den vier kurzen, nur aus Kyrie und Gloria bestehenden Messen, deren Entstehungszeit gegen Ende der dreißiger Jahre fällt, ragt die in F als weitaus bedeutendste hervor. Auch sie hat, gleich den übrigen, in ihrem zweiten Satze Bestandtheile älterer Werke aufgenommen; während sich der Autor aber bei jenen die Arbeit ziemlich leicht gemacht und sich mehr äußerlich mit seiner Aufgabe abfand, gestaltet er hier ein harmonisches Ganze und schöpft zumal das Kyrie aus tiefsten Tiefen. Das Höchste jedoch, was er zu geben im Stande war, legte er in seiner hohen, seiner H-moll-Messe nieder. Sie ist die einzige vollständige, die er überhaupt schrieb und an der er von 1732 bis gegen 1738 beschäftigt war. Die ersten beiden Theile wurden bereits im Juli 1733 König August III. gewidmet und in Dresden persönlich überreicht. Der ersten Anlage entsprechend, aber wuchs auch das später Hinzukommende zu so colossalen Verhältnissen an, daß sich die fertige Messe für den Gebrauch beim katholischen Gottesdienst als ungeeignet und auch für den protestantischen nur stückweise verwerthbar erwies. Ward, zu so unzähligen Malen dieser Text auch schon in Musik gesetzt wurde, er wol je in riesigerem Maßstabe ausgeführt? Jeden einzelnen der fünf Hauptabschnitte, das Agnus Dei ausgenommen, umrahmen breite, oft zweitheilige Chöre. Sologesänge, Arien und Duette mit ihren Instrumentalvor- und Zwischenspielen, im zweiten und dritten Theil noch mehrere ausgedehnte Chorsätze, drängen sich dazwischen. Aus nicht weniger als 26 Musikstücken, von denen 17 vier-, fünf-, sechs- und doppelt vierstimmigem Chor übertragen wurden, setzt sich das Ganze zusammen. In dieser seiner complicirten Gestalt stellt es an Ausführende und Hörende höchste Anforderungen. Choräle, ariose Chöre, der dramatische Zug und Anderes, was die Matthäuspassion dem Verständniß der Menge näher rückt, ist hier, der Natur des Meßtextes gemäß, ausgeschlossen. Was die H-moll-Messe bietet, sind schwerste musikalische Genüsse, denen nur ein feinfühliger, empfänglicher Sinn und ernste Hingebung beikommen, obwol auch hier das Wort Moritz Hauptmann's gilt, daß »das Höchste in der Kunst überall nicht für den Künstler und Kunstkenner ausschließlich da ist, sondern für den Menschen.« Reicht auch, um Alles zu ergründen, was der große Meister an kunstvoller Arbeit und tiefsinniger Symbolik hineingeheimnißt in sein erhabenstes Vermächtniß, ein Menschenleben vielleicht nicht aus, so lohnt ein Blick in diese Schönheitsfülle den andächtigen Hörer schon überreich. Mag das polyphone Wesen der großen Chöre seinem Verständniß anfangs Schwierigkeiten bereiten, mögen die von selbständig einhergehenden Soloinstrumenten umspielten Sologesänge – wie wir sie bereits aus Bach's Cantaten kennen – ihn zuerst auch fremdartig berühren, so werden doch andere Sätze dafür um so schneller den Weg zu seinem Herzen finden. An den Höhepunkten der Messe beispielsweise, dem Incarnatus, Crucifixus und Ressurexit, die im kurzen, tiefergreifenden Bilde das Erlösungswerk des Herrn vorführen, wird auch der Verständnißloseste nicht kühl vorübergehen und er wird etwas von der Weihe der Kunst verspüren, die Ideal und Wirklichkeit zu versöhnen und Himmlisches den Irdischen zu verkünden berufen ist. Was jede Messe sein soll: »eine ideale Durchlebung der Hauptmomente in der Entwickelung der Christenheit Und zugleich des einzelnen Christen bis zur realen Feier des heiligen Abendmahls«, das ist in höchster Weise Bach's hohe Messe und zwar im protestantischen Sinne, wie es Beethoven's Missa solemnis im katholischen ist. Wir haben auf diesem Gebiet keine höheren Besitzthümer als diese beiden.

Hatte Bach, wie wir sahen, im Gegensatz zu seiner ersten Lebenshälfte, wo er sich vorwiegend mit Instrumentalcomposition beschäftigte, in Leipzig den Schwerpunkt seiner Thätigkeit auf die vocale Kirchenmusik gelegt, so schuf er nebenher doch noch immer viel Instrumentales. Dem Clavierconcert namentlich wandte er sein Interesse zu. Im Uebrigen vervollständigen die berühmte »chromatische Phantasie und Fuge« – das merkwürdige Werk, in welchem, wie Hans von Bülow sagt, »die Romantik zum ersten Mal das Gebiet der Clavierliteratur überschritten hat« –, die genialen dreißig Variationen über eine Arie, der zweite Theil des »wohltemperirten Claviers«, das »musikalische Opfer«, »die Kunst der Fuge«, verschiedene große Orgelfugen und Orgelchoräle und Anderes die an Zahl und Bedeutung fast unbegreiflich große Reihe seiner schöpferischen Gebilde. Als kirchlicher Vocalcomponist ward er gegen Ende seines Lebens allmälig schweigsamer und verstummte endlich ganz. Er durfte es, im Bewußtsein, das Seine gethan zu haben, nach dem ungeheuren Maße seines Vermögens.

War der weitberühmte Thomascantor seinen Zeitgenossen auch mehr als eminenter Orgelvirtuos denn als Componist bekannt, allgemach drangen doch auch viele seiner Instrumental-, vornehmlich Clavier-und Orgelstücke in die Welt, wenn freilich auch nach Sitte damaliger Zeit mehr durch Abschriften als durch den Druck. Als op. 1 veröffentlichte er erst im Jahre 1731 sechs Partiten unter dem Titel »Erster Theil der Clavierübung«, dem 1735 ein zweiter mit dem italienischen Concert und einer neuen Partita, 1739 ein dritter mit Choralbearbeitungen für Orgel und Clavierduetten und 1742 ein vierter Theil mit den erwähnten 30 Variationen (den sogenannten Goldberg'schen) folgte. Der erste und dritte Theil wurden vom Autor selbst verlegt, muthmaßlich auch eigenhändig von ihm gestochen. Von seinen großen Kirchencompositionen gelangte keine einzige zu seinen Lebzeiten in die Oeffentlichkeit. Die Mühlhausener Rathswechsel-Cantate von 1708 wurde zwar gedruckt, nicht aber in den Handel gegeben. Nur das Erscheinen dreier Werke außer den genannten: Sechs Choräle für zwei Manuale und Pedal (zwischen 1746 und 1750), die »canonischen Veränderungen« über »Vom Himmel hoch, da komm' ich her«, die er für die musikalische Societät in Leipzig schrieb, und das »Musikalische Opfer« (beide 1747) noch erlebte er. Inmitten der Vorbereitungen eines vierten ereilte ihn der Tod.

Still und stiller ward es im Leben des Meisters. Einen lauten Weltverkehr zwar hatte er nie gepflogen, wiewol sein gastliches Haus Kunstgenossen und Schülern wie Männern der Wissenschaft, soweit seine Beschäftigung ihm dazu Muße ließ, offen stand. Die schon dem Jüngling eigene Wanderlust, die ihn, wenn es künstlerischen Zwecken galt, bald dahin, bald dorthin trieb, aber war auch dem Manne lange noch treu geblieben; auch hatte seine Stellung als Capellmeister und Hofcomponist der Höfe zu Cöthen, Weißenfels und Dresden ohnehin öftere Reisen nach sich gezogen. Besondere Anziehungskraft bewährte für ihn von je die sächsische Residenz mit ihrer italienischen Oper und ihren trefflichen Künstlern, an deren Spitze der viel mit Bach verkehrende Hasse und seine gefeierte Gemahlin Faustina stand und in deren Kreis auch Bach's Sohn Friedemann als Organist an der Sophienkirche (1733) eingetreten war. Er ließ sich zuweilen dort öffentlich als Orgelspieler hören. Bei dem herannahenden Alter jedoch gewann der Hang zu einem häuslichen zurückgezogenen Leben, zu einer steten, ununterbrochenen Beschäftigung mit seiner Kunst mehr und mehr Gewalt über ihn. Es drängte ihn, sein Tagewerk abzuschließen, die Schätze, die er verschwenderisch ausgestreut, zu sammeln und zu ordnen. Nur mit Widerstreben gehorchte er dem Wunsche Friedrich des Großen, der ihn an seinem Hofe, wo Philipp Emanuel Bach (seit 1740) als Capellmeister und Accompagnateur wirkte, zu sehen und zu hören verlangte. Endlich, im Mai 1747, entschloß er sich zu seiner letzten und ruhmgekröntesten Reise. Kaum erfuhr der König seine Ankunft in Potsdam, als er ihn alsbald zu sich entbieten ließ. Im Reisekleid mußte er vor ihm beim Hofconcert erscheinen, auf seinen Clavieren phantasiren und ein vom König gegebenes Fugenthema durchführen. Tags darauf spielte er in der Heiligen-Geist-Kirche vor einer großen Zuhörerschar auf der Orgel und am selben Abend nochmals im Schlosse, wo er auf Friedrich's Begehren und zu seiner höchsten Bewunderung eine sechsstimmige Fuge extemporirte. Nach Leipzig zurückgekehrt, arbeitete er das vom König am ersten Abend empfangene Thema in einer Reihe von Fugen, Canons und in einem Trio neu aus und widmete das in Kupfer gestochene Werk unter dem Titel »Musikalisches Opfer« dem großen Friedrich, von dem er sich mit Genugthuung in seiner Bedeutung als Künstler verstanden fühlte.

Eine letzte große Aufgabe: »die Kunst der Fuge«, in der ihn darzulegen verlangte, was die höchstentwickelte Kunst in dieser von ihm zur Vollkommenheit gebrachten Form zu leisten fähig sei, noch erfüllte den nun alternden Meister. Es galt ihm, aus einem einzigen Thema durch Anwendung aller Mittel des strengen Contrapunkts ein großes, vielsätziges und einheitliches Kunstwerk zu gestalten. Die mannigfaltigsten Formen, von den einfachsten bis zu den denkbar schwierigsten, wie sie selbst Bach bisher noch nicht ausgeführt hatte, sollten darin zur Darstellung kommen. So schrieb er über ein Thema in D-moll fünfzehn Fugen und vier Canons, die im Grunde wie eine einzige Riesenfuge in so viel Abschnitten erscheinen: ein Werk von unvergleichlicher Kunstvollendung, dessen einsamer Größe gleichwol, wol eben seiner complicirten Fassung zufolge, das deutsche Volk nie nahe getreten ist. Dem Ruhme des Werkes hat die Theilnahme, welche es fand, nie entsprechen wollen. Nicht in der vom Componisten beabsichtigten Gestalt auch kam es (1752) auf die Nachwelt. Als er noch vor Vollendung des Stiches abberufen ward, mischten unkundige Hände manches Fremde, nicht dazu Gehörige mit hinein, das nun den Zusammenhang des Ganzen stört. Als solch' fremdes Glied verräth sich unter Anderem eine Clavierfuge, die in den allergrößesten Verhältnissen angelegt ist und von deren drei Themen das letzte Bach's eigenen Namen darstellt. 239 Tacte schrieb seine Hand nieder – unvermuthet brach sie dann ab, um für immerstill zu stehen.

Keine Spur von ermattender Schöpferkraft redet aus seinen letzten Werken. Es war ein gesunder, kräftig gebauter Körper – sein Bild mit den festen, energischen Zügen bezeugt es –, der die große Seele barg. Eine angeborene, durch unablässiges Arbeiten beförderte Augenschwäche nur steigerte sich während seiner letzten Lebensjahre zu einem lästigen Leiden. Die Operation, der er sich im Winter 1749 zu 50 bei einem berühmten englischen Augenarzt, der gerade in Leipzig verweilte, unterwarf, mißglückte ein erstes und zweites Mal und erschütterte gleichzeitig seine Gesundheit in bedenklicher Weise. Er erblindete. Am 18. Juli ward es plötzlich wieder hell um ihn. Er konnte wieder sehen und das Licht vertragen. Aber es war nur ein Vorbote des ewigen Lichtes, der ihn grüßte. Wenige Stunden darauf traf ihn ein Schlaganfall, dem ein hitziges Fieber folgte. Im Gefühl des herannahenden Todes dictirte er seinem Schwiegersohn und Schüler Altnikol den Choral: »Wenn wir in höchsten Nöthen sein« in die Feder; ließ die Ueberschrift desselben dann aber bezeichnend in die Worte: »Vor deinen Thron tret' ich hiermit« umändern. Treu im Glauben und Beruf, ein sittlich und geistig großer Mensch, schloß er am Abend des 28. Juli 1750 – es war gegen halb neun Uhr – auf immer die kranken Augen.

Auf dem Johanniskirchhof senkte man ihn in der Morgenfrühe des 31. Juli in sein Grab, dahin ihm die ganze Schule unter vollem Glockengeläut das Geleite gegeben hatte. Nahe der südlichen Eingangsthür der Johanniskirche, die sonst eine stille Gräberstadt umstand, fand er seine letzte Ruhestätte. Inzwischen mußten die grünen Hügel längst dem lärmenden Getriebe der Lebenden weichen; auch Bach's Grab verschwand. Kein Mensch mehr kennt, kein Stein, kein Denkmal nennt es; das laute Alltagsgeräusch erklingt ungescheut da, wo der hehre Meister der Harmonie in Frieden schlummert.

Das Erbtheil der mit drei unverheirateten Töchtern zurückbleibenden Wittwe war bittere Armuth. Sie, die treue, kunstverständige Gefährtin ihres großen Gatten, ließ das musikreiche Leipzig als Almosenfrau sterben und verderben.

Von den fünf Söhnen, die er aus erster und zweiter Ehe zurückließ, ging Gottfried Heinrich, der, »ein großes, aber nicht entwickeltes Genie«, in den Gerichtsverhandlungen über Bach's Nachlaß als »blöde« bezeichnet wird, ihm am ehesten (1763) in die Ewigkeit nach. Die übrigen folgten, der Zeitströmung nachgebend, anderen künstlerischen Bahnen als der Vater.[2] Eine seltsame Fügung berief gerade sie dazu, den Uebergang aus seiner streng abgeschlossenen, reinen Kunstsphäre zur freien Wirklichkeit zu vollziehen.

Wenn in der That schon Bach's Zeitgenossen die Fühlung mit seiner hohen, ganz von der Gottesidee getragenen Kunst mehr und mehr verloren, so folgte die nach ihm heraufsteigende Zeit noch entschiedener neuen Empfindungen und Idealen. Aus der Kirche drängte die Musik nun hinaus in die Welt, in das Leben, aus der strengen Gebundenheit der Form zum freieren Tonspiel hin. Was Wunder, daß man über den neuen Bestrebungen bald des ernsten Meisters mit dem himmelwärts gewandten Blick vergaß? Am Ende fand ein neu herankommendes Geschlecht doch den Weg zu dem zurück, der als Abschließer und Vollender einer echt nationalen Kunstrichtung und Epoche monumentale Bedeutung hat. Hundert Jahre lag er im Grabe, da erscholl ein Weckruf durch die deutschen Lande, der der Wiederbelebung seiner Werke galt. Und nicht ungehört verhallte er. Deß ist das Wirken der Bach-Gesellschaft Zeuge, die Band um Band seiner Hinterlassenschaft an das Licht fördert, im emsigen Bemühen, die lang vergrabenen Schätze zu heben. So trat denn unser Volk die große Erbschaft an. Wir wissen endlich, was wir ihm danken, der nahezu Alles, was ihm seine Zeit an Formen und Empfindungsgehalt bot, in ewigen Kunstwerken zusammenfaßte und gleichzeitig die neue instrumentale Kunst herausführen half, in der wir noch heute leben.

Ein romantischer Zug ruht in dem alten classischen Meister, der uns Gegenwärtige wahlverwandt berührt und die Kluft überbrückt, die mehr denn ein Jahrhundert zwischen ihn und uns gelegt. Dank ihm blickt das erhabene Antlitz, das, wie aus den Perrückenlocken seines Steinbildes[3], aus der unnahbaren Höhe seiner Kirchenwerke zu uns herniederschaut, uns persönlich vertrauter an, und neben der Bewunderung für die »unbegreifliche Erscheinung der Gottheit«, die wir mit Zelter in ihm erkennen, kommt nun auch die Liebe zu ihrem Recht, mit der wir dem Genius den begehrteren Lohn darbringen!

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Anmerkungen:

  1. Opuscula. Leipzig, Leuckart. 1874.
  2. Wilhelm Friedemann, der älteste und genialste, Bach's Liebling, starb, in einem abenteuerlichen Leben verkommend, in den dürftigsten Verhältnissen 1784 in Berlin. Philipp Emanuel folgte ihm vier Jahre später in Hamburg, wo er als Kirchen-Musikdirector eine glückliche und geachtete Stellung bekleidete. Johann Christoph Friedrich starb als Capellmeister des Grafen von Schaumburg 1795 in Bückeburg. Johann Christian, der jüngste, der zuerst als Domorganist in Mailand, später als Capellmeister in London wirkte und gefeiert ward, starb 1782 an letzterem Orte. Mit Friedrich's Sohn, Wilhelm Friedrich Ernst, des großen Sebastian letztem Enkel, der 1845 in Berlin verstarb, wo er als Capellmeister und Musiklehrer der königlichen Familie gelebt hatte, erlosch die musikalische Begabung seines Geschlechtes.
  3. Es wurde auf Anregung Mendelssohn's im Jahre 1842 vor den Fenstern seiner ehemaligen Wohnung, der alten Thomasschule, errichtet.
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