Der Orgelmusik des siebzehnten Jahrhunderts lag vielfältig der Choral als musikalisches Motiv zu Grunde, ja in Mitteldeutschland concentrirte sich auf ihn nahezu das gesammte Streben. In der Art und Weise der Choralbearbeitung aber gingen die Richtungen auseinander. Wo man über den blos praktischen Zweck eines auf den Gesang der Gemeinde vorbereitenden kurzen Vorspiels hinausging und den Choral als selbständig abgeschlossenes Tonstück auffaßte, arbeitete man ihn entweder Zeile für Zeile motettenartig durch, dem Stimmungsgehalt der Worte nur im Allgemeinen Rechnung tragend, oder man ging vielmehr seinem ihm textlich innewohnenden poetischen Sinne im Einzelnen nach und gab den Figurationen zugleich eine ideelle Bedeutung, indem man den Inhalt der Choralstrophe durch die die Melodie umspielenden Gegenstimmen näher auszudeuten trachtete. Die reicher figurirte, mehr virtuose Behandlungsweise erscheint durch die Meister der nordischen Schule: Reinken, Bruhns, Buxtehude vorzugsweise repräsentirt. Als Hauptvertreter der andern poetisirenden Richtung stellt sich der Nürnberger Pachelbel dar, der die süddeutschen und italienischen Elemente, an denen er sich herangebildet hatte, nach Thüringen trug, wo Bach, obwol er nie in directe Beziehung zu ihm trat, die von ihm ausgeprägten, allerwärts vorgefundenen Formen unwillkürlich aufnahm. Er, dem wir mehr als hundert solcher Choralbearbeitungen größeren und kleineren Umfangs danken (es sei hier nur an die bekannteren »O Mensch, bewein' dein' Sünde groß«, »An Wasserflüssen Babylons«, an »Wachet auf«, »Aus tiefer Noth«, oder an das ›unschätzbare seelentiefste‹ »Schmücke dich, o liebe Seele«, wie Robert Schumann es begeistert nennt, erinnert!), ist, indem er seinen Vorgänger an Tiefsinn der poetischen Auslegung überholt und dem »Affect der Worte« folgt, der Vollender des Pachelbel'schen Ideals, wie des Orgelchorals überhaupt, geworden. Was er uns in ihm hinterlassen, sind poetisch-musikalische Kunstwerke von unglaublichem Reichthum der Erfindung und Auffassungsgröße. Sie vergegenwärtigen gleichzeitig die Kunstsphäre, in der Bach's Genius zuerst seine Reise bethätigte und seine volle Originalität zum Ausdruck brachte.

Aller Formen der Orgelmusik bemächtigte er sich allmälig mit gewaltiger Hand, mochten sie dem strengen Stil der Fuge, oder dem ungebundeneren des Präludiums, der Toccata, Ciaconna oder Passacaglia angehören. Aber selbst diesen Letzteren, sogar der Phantasie, in der sich sonst die Einbildungskraft fessellos zu ergehen pflegt, gab er ein festes künstliches Gefüge; allenthalben erscheint er als endgültiger Beschließer der Form. Man vergegenwärtige sich beispielsweise das berühmte, die grandiose G-moll-Fuge einleitende Präludium, durch deren Pianoforte-Uebertragung mit mehreren anderen ihres Gleichen Liszt den Clavierspielern ein kostbares Geschenk gemacht! Nicht minder die großen Präludien und Fugen in A-moll, E-moll, C-moll, die mit Vorliebe gespielten Toccaten in D-moll und F-dur und die imposante Passacaglia! (Er schrieb nur ein Werk dieser Art, darin er die Form von Passacaglia und Ciaconna, die sich beide über einem kurzen, immer wiederholten Baßthema aufbauen, vereinigt und mit einer Fuge endet.) Sie alle stehen wie Schlußsteine ihrer Gattung da.

Die Gesetze der Fuge, wie wir sie heute kennen, traten erst durch ihn in Kraft. Er erst brachte in die aus Nachahmung des fugirten Vocalstils hervorgegangenen, noch ziemlich frei gestalteten Bildungen Zucht und Einheit, die ernste zügelnde Strenge, die das Kennzeichen seiner Kunst ist. Das complicirte Gewebe der Fuge, das wie kein anderes dem Wesen der Orgel entspricht und sie in ihrer ganzen Macht und Größe zeigt, wie planvoll und klar gestaltet es sich unter seiner Hand! Streng und doch frei, kunstreich und doch nicht gekünstelt, formvollendet und doch nie einem starren Formalismus verfallend, alle innerlich belebt, eine unermeßliche Erfindungskraft bezeugend, stellen sich seine Fugen als Meistergebilde eines Riesengeistes dar, dessen Formgenie und contrapunktische Herrschaft nicht wieder ihres Gleichen fand. »Am herrlichsten, am kühnsten, in seinem Urelemente erscheint er nun ein für allemal an seiner Orgel. Hier kennt er weder Maß noch Ziel und arbeitet auf Jahrhunderte hinaus«, sagt Robert Schumann von ihm. Mit Bach, das ist gewiß, hat der Orgelstil nicht nur seine höchste Glanz- und Blütezeit, sondern auch zugleich seinen Abschluß erreicht. Ohne Nachfolger blieb der Gewaltige.

Es war, wie erwähnt, nicht ausschließlich seine Stellung als Hoforganist, der der Meister in Weimar oblag, auch als Kammermusikus wurden seine Dienste gefordert und zwar vorzugsweise im Interesse des für Musik ebenso begabten als begeisterten herzoglichen Neffen, Prinz Johann Ernst. Für Bach ergab diese Wirksamkeit den Vortheil, daß er der dazumal in voller Blüte stehenden und am Hofe mit Vorliebe gepflegten Kammermusik der Italiener näher trat – wichtig genug für ihn, den es das ganze Reich der instrumentalen Kunst zu durchmessen und sich auf ihm zu bethätigen drängte. Und es fehlt nicht an Zeugnissen, wie er auch hier wiederum die ihm sein Leben lang zu eigen bleibende Gabe bewährte, jedwede Stilart anzunehmen, ohne auf die persönliche Eigenthümlichkeit zu verzichten. Von den durch die Italiener geschaffenen Formen der Sonate und des Concertes zwar ergriff er auf deren eigentlichem Gebiete nicht alsogleich Besitz; für's Erste begnügte er sich damit, die neue Errungenschaft auf seinem Feld: der Orgel und dem Clavier, zu verwerthen. Die Uebertragung von sechzehn Violinconcerten Vivaldi's für Clavier und drei für Orgel, mehrere Orgelfugen, deren Themen er den Violinsonaten Corelli's und Albinoni's entnahm, ein Clavier-Variationenwerk alla maniera italiana, wie eine im Stil Frescobaldi's gearbeitete Orgel-Canzone und einiges Andere beweisen, daß er, dessen Augen Italiens Himmel niemals schauen sollten, die großen Meister dieses Landes besser kannte als die Mehrzahl derer, die sie an Ort und Stelle studiren durften. So flossen deutsche und niederländische, französische und italienische Einflüsse zusammen, um seine Individualität zu befruchten und ihr zur vollen Entfaltung ihrer gigantischen Größe zu verhelfen.

Umfassender noch gestaltete sich Bach's Thätigkeit, als er im Jahre 1714 zum Concertmeister aufrückte und ihm bei zunehmendem Alter und Dienstuntüchtigkeit des Capellmeister Drese nicht allein die wie es scheint ausschließliche Leitung der Kammer-, sondern auch wesentlich die der Kirchenmusik anheimfiel. Hatte er vordem schon Mancherlei im kirchlichen Vocalstil geschaffen, so erwuchs ihm nun die Verpflichtung zur regelmäßigen Composition von Kirchencantaten. Hiermit aber eröffnete sich ihm ein Gebiet, auf dem sich die schöpferische Kraft seines Genius in einem neuen Lichte zeigen sollte. Gehören auch seine dauernde Beschäftigung und seine größten Thaten in dieser Richtung einer späteren Zeit und einem anderen Wirkungskreise an, so entkeimte doch schon dem Weimarer Boden sehr Bedeutsames, darunter zwei der bekanntesten und eingänglichsten Cantaten: der sogenannte Actus tragicus »Gottes Zeit ist die allerbeste Zeit« – eine Art protestantischen Requiems, wie Ambros ihn nennt – und »Ich hatte viel Bekümmerniß«.

Die Cantate ist, wie fast alle musikalischen Formen, italienischen Ursprungs, erfuhr jedoch bei ihrer Uebertragung nach Deutschland und in die protestantische Kirche eine wesentliche Umwandlung, für welche Bibelwort und Kirchenlied bestimmend wurden. Die contrapunktische Kunst, die sich, als im evangelischen Cultus der Kunstgesang dem Gemeindegesang Platz machte, an die Orgel flüchtete und dort herrlichste Früchte zeitigte, fand in der Cantate wieder bereitwillige Aufnahme. Im Gegensatz zur polyphonen Kirchenmusik der Niederländer und Italiener, die im sechzehnten Jahrhundert unter Orlando Lasso und Palestrina ihre Blütentage sah, aber rief man hier die Instrumente zur Betheiligung herbei. Für den Einzelgesang gewann man ferner die aus der in Italien um 1600 erstandenen Oper herübergenommenen Formen von Recitativ und Arie als willkommene und abwechselungsvolle Ausdrucksmittel hinzu. Nicht ohne heftigen Widerstand allerdings vollzog sich die Einführung der Opernformen und gleichzeitig der freien religiösen Dichtung, welche vielfach an die Stelle des Bibeltextes trat, in die Kirche. Namentlich auf Grund von Neumeister's in den Jahren 1700–1716 veröffentlichten Cantatendichtungen entspann sich ein erbitterter literarischer Krieg, in dem als Gegner der Neuerung die kunstfeindlichen Pietisten in vorderster Reihe kämpften; doch hatten Erstere bald den Erfolg für sich.

Bach schlug sich zu keiner der streitenden Parteien; aber er stellte sich, indem er Neumeister'sche Texte zur Grundlage seiner Cantaten wählte, praktisch auf die Seite der Neuerer. Seinem künstlerischen Scharfblick konnte die Verwerthbarkeit der italienischen Opernformen und ihre Berechtigung für seine Zeit nicht entgehen. Er verschmolz sie mit den Formen, wie sie sich mittlerweile in der Orgelkunst ausgebildet hatten. Ein Vergleich seiner Arien und Chöre mit seinen Toccaten, Präludien und Fugen zeigt dies anschaulich genug. Recitative, Arien, Duette, Chöre, Vocal-Fugensätze, einfach harmonisirte und von künstlichen Contrapunkten umspielte Choräle, concertirende Soloinstrumente und die als Halt und Bindeglied allenthalben eingreifende Orgel: alle Elemente seines Kunststils, den ganzen Apparat musikalischer Ausdrucksmittel verwandte er zum Ausbau von Schöpfungen, denen, mögen sie nun Cantaten oder Passionen, oder Messen heißen, als den unerreichten Meisterthaten echt protestantischen Geistes, eine ewige Bedeutung innewohnt.

In einem seiner geistreichen Aufsätze[1] hebt Ambros die große innere Verwandtschaft Bach's mit der Musik der alten Niederländer des fünfzehnten und sechzehnten Jahrhunderts hervor, an die selbst einzelne eigenthümliche Züge erinnern: »wie wenn in der Cantate ›Ich hatte viel Bekümmerniß‹ sich der Chor ›Sei nun wieder zufrieden‹ contrapunktisch über einen Tenor aufbaut, welcher einen ganz anderen lehrhaften Text ›Was helfen uns die schweren Sorgen‹ (nach der Melodie ›Wer nur den lieben Gott läßt walten‹) singt«. Die alten Niederländer und die ihnen nachfolgenden Italiener der Palestrina-Zeit bauten ihre großen geistlichen Musiken über gegebene Motive des Ritualgesanges auf, welche letztere dann entweder in ihrer vollen Gestalt als »Tenor«, d.i. als Cantus firmus dienten, der mit den contrapunktirenden Gegenstimmen überbaut ward, oder aber in ihren einzelnen Motivgliedern fugenartig verarbeitet wurden. So ähnlich, wenn auch einer um 150 Jahre fortgeschritenen Entwickelung gemäß, verfährt auch Bach. Statt wie Jene den gregorianischen Gesang aber, legt er seinen Cantaten den protestantischen Choral zu Grunde. Dieser, der ihm der Mittelpunkt des Ganzen ist, stellt das officiell Kirchliche, die Gemeinde vor; in den Arien und Chören ist der Betrachtung, der subjectiven Empfindung des Einzelnen Raum gegönnt. Zuweilen folgt der Componist seinem Choral Strophe für Strophe. Statt der Originalmelodie jedoch giebt er vielmehr einen musikalischen Commentar der einzelnen Strophen, dessen Themen er der behandelten Choralmelodie entnimmt. Diese Gestalt zeigt beispielsweise die der Anfangszeit seines Leipziger Wirkens entstammende Ostercantate »Christ lag in Todesbanden«. Erst mit der letzten Strophe tritt der unveränderte Choral »wie ein Riese« ein. In seiner letzten Lebensperiode neigte er sich mit Vorliebe einer Form zu, die den Choral – und zwar hier in breit ausgeführter Chorform, dort in schlichtem vierstimmigen Satz – an Anfang und Schluß der Cantate stellt.

Je nach ihrem textlichen Inhalt verschieden in ihrer Anordnung, erwies sich die von Bach schon in Weimar völlig ausgebildete Form von so wunderbarer Elasticität, daß er sich derselben während seiner ganzen Lebenszeit für eine Fülle von Werken zu bedienen vermochte. Mosewius zählt in seiner kleinen Schrift über Bach's Kirchencantaten und Choralgesänge[2] 226 Cantaten auf, eine Zahl, die durch Spitta's Angaben noch um 69 überstiegen wird. In Wahrheit ein Reichthum, der uns mit um so größerem Staunen erfüllt, je mehr nahezu jedes einzelne dieser Werke an tiefsinniger Erfassung des Textes wie musikalischer Ausgestaltung unsere nie ermüdende Bewunderung herausfordert!

Auch eine weltliche Cantate Bach's besitzen wir aus der Weimarer Zeit, die unter dem Titel »Diana, Endymion, Pan und Pales« zur Verherrlichung eines höfischen Festes helfen mußte. Von neuer Seite indeß zeigt sie den Meister nicht. Ihr Stil läßt keinen Unterschied von seinem kirchlichen gewahren, wie er denn auch zwei Arien aus derselben später in erweiterter Form in seiner Pfingstcantate »Also hat Gott die Welt geliebt« eine Stelle anweisen konnte. Die eine: »Mein gläubiges Herz, frohlocke, sing', scherze«, hat sich längst in die Herzen unserer Musikfreunde eingesungen.

So nach den verschiedensten Seiten hin schaffend und wirkend, verbrachte er in Weimar neun fruchtbare Jahre. Oeftere Kunstreisen nur unterbrachen ihre arbeitvolle Stille und das äußere Einerlei seines Lebens. Die Besichtigung neuer Orgelwerke führte ihn unter Anderem 1713 und 1714 nach Halle und Kassel. An beiden Orten erntete sein Orgelspiel höchsten Beifall; namentlich riß er durch ein mit fabelhafter Virtuosität ausgeführtes Pedalsolo den hessischen Erbprinzen zu äußerster Bewunderung hin. In Halle hätte man ihn gern festgehalten. Ihn selber lockte die Aussicht, seine Lieblingskunst endlich auf einem seiner Meisterschaft entsprechenden Instrumente betreiben zu können. Doch lehnte er, als man mit dem Verdacht geldsüchtiger Motive seinem berechtigten Stolz zu nahe trat, die Berufung in energischer und schneidiger Weise ab. Am ersten Adventsonntage 1714 führte er in Leipzig seine Cantate »Nun komm, der Heiden Heiland« auf und versah während des ganzen, ungemein ausgedehnten Gottesdienstes das Organistenamt.

Höchsten Ruhm trug ihm im Herbst 1717 eine Reise nach Dresden ein, wo Friedrich August I. eine Reihe trefflicher Künstler an seinem Hof versammelte. Auch der in Paris sehr gefeierte Clavier- und Orgelvirtuos Marchand hielt sich, durch die Ungnade seines Königs zeitweilig vertrieben, zur Zeit daselbst auf und sollte mit einem bedeutenden Gehalt eben vom Hofe eine dauernde Anstellung erhalten. Der Streit, ob er oder Bach der Größere sei, gab die Veranlassung, daß Letzterer auf Andrängen seiner Freunde den Franzosen zu einem Wettkampfe aufforderte und sich, nachdem er ihn gehört hatte, erbot, jede ihm von Marchand gestellte Aufgabe aus dem Stegreif auszuführen, dafern dieser seinerseits das Gleiche verspreche. Marchand erklärte sich bereit. Stunde und Schauplatz des Turniers wurden unter Vorwissen des Königs festgesetzt, und pünktlich fand sich zugleich mit Bach eine glänzende und zahlreiche Gesellschaft, welche dabei Zeuge zu sein wünschte, ein. Nur Marchand erschien nicht. Als man aber, nachdem man ihn vergeblich erwartet, einen Boten nach ihm ausschickte, empfing man statt seiner die Nachricht, daß er schon in der Frühe des Tages mit Extrapost die Stadt verlassen habe. Um sich – da er sich wol von der Ueberlegenheit seines Gegners überzeugt hatte – eine unausbleibliche Demüthigung zu ersparen, hatte er vorgezogen, ihm kampflos das Feld zu überlassen. Und Bach wußte es zu behaupten. Er spielte nun allein, und groß war sein Sieg, dessen Kunde sich weit verbreitete und vielfältig auch als ein Triumph der deutschen Tonkunst über die französische aufgefaßt wurde. Mit ihm trat Bach in den Zenith seines Virtuosenruhms. Den Rang des größten Orgelspielers der Welt konnte man ihm hinfort bis auf den heutigen Tag nicht mehr streitig machen. Seine officielle Organistenthätigkeit schloß er gleichwol bald nach jenem Ereigniß für immer ab. Augenscheinlich verstimmt, daß man nach dem Tode des Capellmeister Drese dessen unbedeutenden Sohn ihm vorangestellt, kehrte er im November 1717 Weimar den Rücken, um als Capellmeister in die Dienste des Fürsten Leopold von Anhalt-Cöthen zu treten.

Um Vieles enger umgrenzt war der Wirkungskreis, der ihm hier gesteckt war. Der Kirchendienst lag außerhalb seiner Befugnisse. Fast ausschließlich der Kammermusik, die unter persönlicher Betheiligung des Fürsten, mit Ausschluß der Oeffentlichkeit, im fürstlichen Schlosse ausgeübt wurde, galt seine Thätigkeit. Nichtsdestoweniger fühlte sich der Künstler in seinem Stillleben so wohl, in seinem Verhältniß zu dem jungen, sehr musikalischen Fürsten, dessen Freund und Vertrauter er bald wurde, so befriedigt, daß er seine Tage hier zu beschließen dachte. Nur die Reisen, die er zu künstlerischen Zwecken oder als Begleiter seines fürstlichen Herrn unternahm, der ihn auch fern seiner Residenz nicht missen wollte, erhielten ihn mit der Welt und dem öffentlichen Musikleben in Verbindung. So reiste er im Herbst 1718 nach Halle, um Händel, der von England herüber gekommen war, kennen zu lernen. Sein Versuch mißglückte jedoch, da der Gesuchte am selben Tage seine Vaterstadt verlassen hatte, ebenso wie ein zehn Jahre später wiederholter: er sollte seinen einzigen ebenbürtigen Zeitgenossen, dessen Werke er neidlos bewunderte und theilweise mit eigener Hand abschrieb, niemals von Angesicht zu Angesicht schauen.

Ein anderes Mal (es war im November 1720) finden wir Bach in Hamburg. Der Magistrat der Stadt und viele Vornehme sind in der Katharinenkirche versammelt, um sein Meisterspiel zu hören. Mehr denn zwei Stunden lang lauschen sie ihm andächtig, vornehmlich über eine Improvisation über »An Wasserflüssen Babylons«, welche Choralmelodie er motettenartig im Stil der nordischen Schule ausführt, des Staunens voll. Selbst der 97 jährige Reinken, der sonst nicht eben anerkennender Natur war, macht seiner Begeisterung mit den Worten Luft: »Ich dachte, diese Kunst wäre gestorben, ich sehe aber, daß sie in Ihnen noch lebt.« War denn nicht auch seine Improvisationskunst von unerhörter Gewalt? Zeigte er sich nicht in der Fingertechnik wie im Pedalspiel und Registriren eigenthümlich und vollendet wie in jedem Zweige seiner Kunst? Und war nicht auch das mächtigste seiner Pedalstücke: die riesige G-moll-Fuge mit ihrem kühnen, phantastischen Präludium, eigens für die Hamburger Reise geschrieben worden, wie viele seiner virtuos gehaltenen Arbeiten im Hinblick auf ähnliche Zwecke entstanden? Es scheint, daß Bach in Hamburg die Sehnsucht überkam, sich seinem eigensten Gebiet wieder zuzuwenden, daß ihn der Gedanke, inmitten eines großen empfänglichen Publicums zu wirken, verführerisch dünkte. Wenigstens gab er seine Bereitwilligkeit kund, die offenstehende Organistenstelle zu St. Jacobi zu übernehmen. Trotz alledem zog man ihm einen Andern vor, der, wie Mattheson sagt, »besser mit Thalern als mit Fingern präludiren konnte« und sich die Stimme des Kirchencollegiums mit 4000 Mark erkaufte. So kehrte Bach in sein stilles Cöthen zurück.

Aber auch in seinem Hause war es daselbst still geworden. Bei der Heimkehr von Carlsbad, dahin er im Sommer 1720 den Fürsten begleitet hatte, fand er sein Weib nicht mehr unter den Lebenden. Sie, die er frisch und gesund verlassen, war indessen erkrankt, gestorben und begraben, ohne daß ihn eine Kunde davon erreicht hatte. Schwer, ohne Zweifel, ertrug Bach, seiner tiefen, innerlichen Natur gemäß, den harten Verlust; doch männlich und stark, wie seine Weise war. Anderthalb Jahre darauf, am 3. December 1721, gab er seinen verwaisten Kindern eine andere Mutter, und auch aus dieser zweiten Ehe mit Anna Magdalena Wülken, einer Cöthen'schen Hofsängerin und Tochter eines herzoglich Weißenfels'schen Hoftrompeters, erblühte ihm ein schönes und reines Glück. Er fand in ihr eine treue Gefährtin, die an seinem Schaffen regen Antheil nahm und den Mittelpunkt der kleinen Hauscapelle bildete, welche er sich in seinem Familienkreise heranzog und selber später in einem Briefe an seinen Jugendfreund Erdmann schildert: »Insgesamt aber sind sie gebohrene Musici und kann versichern, daß schon ein Concert vocaliter und instrumentaliter mit meiner Familie formiren kan, zumahle da meine itzige Frau gar einen saubernSoprano singet, auch meine älteste Tochter nicht schlimm einschläget.« Oft auch nahm Anna Magdalena die Feder in die Hand, um ihm beim Copiren eigener oder fremder Musikstücke zu Diensten zu sein, und so ähnlich war ihre feste und charaktervolle Handschrift der seinigen, daß die Unterscheidung selbst dem Kenner vielfach Schwierigkeit bereitet. Hinwiederum schrieb er für sie, die im Clavierspiel und Generalbaß seine Schülerin war, manches Tonstück nieder. Ein beredtes Zeugniß solch gemeinsamer Thätigkeit sind zwei Notenbücher, die uns aus der Gattin Besitz erhalten blieben. Bald von ihrer, bald von seiner Hand aufgezeichnet, stehen da Clavierstücke: Präludien und Fugen aus dem »wohltemperirten Clavier«, »französische Suiten«, geistliche Gesänge, Arien, Generalbaßregeln u. dergl. mehr, in buntem Wechsel neben einander, darunter auch das viel besprochene und gesungene Lied: »Willst du dein Herz mir schenken, so fang' es heimlich an.« Zelter, der bekannte Freund Goethe's und Director der Berliner Singacademie, vermuthete, daß Bach dasselbe als Bräutigam schrieb, und sah darin ein um so werthvolleres Document, als wir kein anderes Lied, geschweige ein Liebeslied von dem großen Meister besitzen. In der beigefügten Bezeichnung »di Giovannini« glaubte er den »italisirten Schäfernamen« Bach's erblicken zu sollen. Dagegen weist Bach's Biograph Spitta auf einen italienischen Tonsetzer dieses Namens hin, mit dessen Schreibart das in Rede stehende Lied ungleich besser als mit der unsers deutschen Künstlers übereinstimme. Er stellt die Autorschaft Bach's entschieden in Abrede, während wiederum Rust, der gegenwärtig als erste Bach-Autorität gilt, an derselben nicht zweifelt.[3]

________________

Anmerkungen:

  1. Bunte Blätter. Neue Folge. Leipzig, Leuckart. 1874.
  2. Berlin, Trautwein. 1845.
  3. Siehe 20. Band der Bach-Ausgabe. Leipzig, Breitkopf & Härtel.
 Top