Wie die Orgelmusik und im Grunde jedes Gebiet, dessen sich Bach's bildnerische Kraft bemächtigte, so gewann auch die Claviermusik durch ihn eine veränderte Physiognomie, auch von der technischen Seite betrachtet. Lag vor ihm die Applicatur der Tasteninstrumente derart im Argen, daß man sich bis in das achtzehnte Jahrhundert hinein des Daumens fast gar nicht, des fünften Fingers aber so zurückhaltend als möglich bediente, so setzte Bach sich durch den methodischen Gebrauch beider Finger in Besitz einer ganz neuen Technik und führte eine völlig neue Spielart herbei. Die von ihm aufgestellten Regeln im Fingersatz haben im Wesentlichen bis auf den heutigen Tag ihre Geltung bewahrt. Auf die unabhängige Ausbildung der einzelnen Finger legte er, der das gesangreiche Spiel als Grund aller Clavierkunst betonte, auch bei seinen Schülern, deren viele und ansehnliche er erzog, großen Werth; auch war sie zur Wiedergabe seines polyphonen Stils erstes Erforderniß. »Alle Finger waren bei ihm gleich geübt«, heißt es in dem erwähnten, von seinem Sohne mitverfaßten Necrolog; »alle waren zu der feinsten Reinigkeit in der Ausführung gleich geschickt. Er hatte sich so eine bequeme Fingersetzung ausgesonnen, daß es ihm nicht schwer fiel, die größten Schwierigkeiten mit der fließendsten Leichtigkeit vorzutragen.« Und Forkel, nächst der eben angeführten weitaus die verläßlichste ältere Quelle über Bach[1], preist seine »Allgewalt über das Instrument in allen Tonarten, daß es nun für ihn fast keine Schwierigkeiten mehr gab«. Die Möglichkeit, auf dem Clavier »in allen Tonarten« zu spielen, war eben erst eine Errungenschaft der Bach'schen Zeit, an der ihm selbst ein hervorragender Antheil gebührt. Es bedurfte dazu der gleichschwebenden Temperatur, die durch jene jetzt allgemeine Stimmkunst erzielt wird, welche die absolute Reinheit der Intervalle etwas alterirt, damit, dem sogenannten Quintencirkel gemäß, die zwölfte Quinte des Grundtons wieder in diesen zurückleitet. Die von ihm nicht theoretisch begründete[2], aber in genialer Weise praktisch angewandte Methode ist bald zu allseitiger Annahme gelangt. Er selbst setzte ihrer Einführung in seinem »Wohltemperirten Clavier«, einer zweitheiligen Sammlung von je vierundzwanzig Präludien und Fugen in allen Dur-und Moll-Tonarten, noch ein besonderes künstlerisches Denkmal. Es raubt dem hohen Kunstwerth dieses Werkes nichts, daß es zunächst einem instructiven Zweck bestimmt war; denn eben so wenig als wir in der überwältigenden Fülle der Bach'schen Gebilde einem leeren Virtuosenstück ohne geistigen Gehalt begegnen, gewahren wir darunter eine Schöpfung, die nichts weiter als das Gepräge pädagogischer Zweckmäßigkeit an der Stirn trüge. So bergen diese anspruchslosen Clavierstücke, die er während kurzer Mußestunden auf der Reise schrieb, eine Perlenreihe so köstlicher Art, daß sie fast mehr noch als seine großen Orgelfugen Bach's Ruhm als unerreichter Fugencomponist begründeten und zu einer Zeit, wo seine umfangreichen Kirchencompositionen in Staub und Vergessenheit begraben lagen, fast einzig noch seinen Namen im großen Publicum lebendig erhielten. Kein anderes seiner Instrumentalwerke, das ist gewiß, kommt ihnen an Popularität gleich, und doch haben viele derselben kein geringeres Anrecht auf Unsterblichkeit. Man sehe nur seine »Inventionen und Symphonien« an: kleine zwei- und dreistimmige Clavierstücke, deren Form so neu als ihr Bau kunstvoll ist! Alle imitatorischen und contrapunktischen Kunststücke drängen sich da zusammen im engsten Raum und in unscheinbarster Gestalt. Auch sie wollen zuvörderst belehren und spenden dabei doch künstlerischen Genuß.

Wie der Kunsttrieb seines Volkes und seines Geschlechtes nach den Schrecknissen des unheilvollen 30jährigen Kriegs neben dem Choral im Tanz seine Ausdrucksformen suchte und fand, so trat Bach alsbald auch die zweite Hälfte dieses Erbtheils an, indem er dieselbe in veredelter Form in sein Schaffen aufnahm. Mit Vorliebe pflegte er die Suite, eine Folge von Tanzstücken, die zwar in keinem inneren Zusammenhang, aber doch in dem äußeren der gleichen Tonart stehen und dem Kunstprincip des Gegensatzes wenigstens durch den Wechsel langsamer und bewegter, möglichst mannigfaltig rhythmisirter Sätze gerecht werden. An ihrer Gestaltung hatten Italiener, Franzosen und Deutsche gearbeitet; auch Spanier und Engländer steuerten mit je einem Tanze das Ihrige bei. Zwischen die vier Hauptsätze, aus denen sie sich demnach zusammensetzte: die deutsche Allemande, die italienische Corrente oder französische Courante, die spanische Sarabande und englische Gigue, schob man später gern dies und jenes kleinere Tanzstück: Gavotte oder Menuett, Rigaudon oder Passepied, Bourrée oder Ciaconna oder wie es heißen mochte, als Intermezzo ein. Bach hat uns außer mit vereinzelten Gaben dieser Art mit drei großen Clavierwerken zu je sechs Suiten beschenkt. Die in Cöthen entstandenen »französischen Suiten«, die wol das melodisch Reizvollste, anmuthig Liebenswürdigste umschließen, was wir von ihm besitzen (man vergleiche nur etwa die D-moll und H-moll, die Es-dur und G-dur!), bescheiden sich mit knapperen Formen. Die als op. 1 veröffentlichten, 1730 vollendeten »Partiten« (auch deutsche Suiten genannt, denn Partita oder Partie ist mit Suite gleicher Bedeutung), sowie die um 1727 abgeschlossenen »englischen Suiten« dagegen bewegen sich innerhalb eines ausgedehnteren Rahmens. Nicht nur daß die erwähnten Intermezzi in wechselvollster Gestalt in ihnen Raum finden; ein breiter Einleitungssatz auch, sei es ein Präludium oder eine Toccata, eine Symphonie oder eine Ouverture im französischen Stil (d.i. ein kurzer langsamer Satz, dem ein rasch bewegter folgt, welcher durch Wiederkehr des ersten abgeschlossen wird), wird dem Ganzen vorangestellt. Ernster und reicher erscheinen hier die Gedanken, großartiger und kunstvoller auch ihre Ausdrucksweise. Die Suite ist hier zur Vollendung gelangt.

Auch die den Italienern zu dankenden Formen der Sonate und des Concertes zog Bach in sein Bereich. Die Kirchensonate, die zu seiner Zeit noch neben der jetzt allein üblichen Kammersonate in Brauch war, kommt als Einleitung seiner Kirchenmusiken öfters bei ihm zur Anwendung. Die Letztere, die jüngere Schwester der Suite, der sie freilich, Dank ihrem höheren, einheitsvoller entwickelten Organismus, später weit den Rang ablief, hat er mannigfach für Clavier oder Violine, für beide Instrumente vereint, für Violoncello, Gambe und Flöte cultivirt. Sie sind, wie nahezu Alles, was er uns gab, eine hoch zu preisende Bereicherung unserer Musikliteratur; einen directen Fortschritt zur modernen Sonatenform aber vergegenwärtigen sie nicht. Im strengen polyphonen Stil ruht noch ihr Wesen beschlossen. Viel entschiedener ist der Schritt, den er dem neueren Sonatenstil in seinem »italienischen Concert« entgegen thut. Dasselbe bezeichnet gleichzeitig den Gipfelpunkt von Bach's Leistungen in der Gattung, zu der es sich bekennt, während es eine Sonderstellung innerhalb derselben einnimmt. Mit sich selbst concertirt es, und kein Soloinstrument oder Instrumentenchor tritt zu ihm nach Art des Concerts in Gegensatz. Bei den zahlreichen übrigen Concerten für ein, zwei, drei Claviere, für eine und zwei Geigen, Clavier, Flöte und Violine, wie bei den für den Markgrafen von Brandenburg geschriebenen »Concerts avec plusieurs instruments« (man sieht, er befaßte sich vielfach mit dem jetzt nicht mehr gebräuchlichen »Concerto grosso«, darin mehrere Soloinstrumente den Kampf mit dem Orchester aufnehmen), spielen meist Streichinstrumente und Cembalo die Rolle des Tutti, die sich freilich mehr auf eine bloße Begleitung und Ausfüllung des Basses beschränkt. Das Cembalo (der Kielflügel), das Bach in seiner Kammermusik allenthalben herbeizieht und das, wie in seinen Kirchencompositionen die Orgel, ergänzend und ausfüllend hinzutreten muß, repräsentirt sammt dem zarteren Clavichord (bei dem der Ton nicht, wie bei dem später ausgebildeten Pianoforte, durch an die Saiten anschlagende Hämmer, sondern durch Tangenten, Messingstifte, hervorgebracht wird) den unentwickelten Mechanismus, der dem großen Meister zur Ausführung seiner Clavierwerke zu Gebote stand. Er bedurfte keiner vollkommneren Mittel, um der eigentliche Schöpfer des modernen Clavierstils zu werden. Orgel und Clavier, die er beide unablässig pflegte, mußten sich unter seiner Hand gegenseitig von ihrem Vermögen etwas zu eigen geben. Für die gebundene Weise jener führte ihr dieses etwas von der eigenen Beweglichkeit zu. Das Eine mußte den Reichthum des Andern mehren, wie die Orgel bereits die befruchtende Macht für Bach's Vocalmusik war.

Endlich bethätigte sich sein weitumfassendes Wirken auch noch nach einer anderen Seite hin: er gestaltete mit seinen Orchestersuiten die Grundlage für den neuen Orchesterstil. Die aus dem Volksleben herausgeborenen Tanzformen erhebt er nun zu künstlerischer Bedeutung und verwerthet das vom Kunstpfeiferthum des Vaters und Großvaters Ererbte somit auf seine eigene geniale Weise. In Bach seien die guten Talente von hundert anderen Musikern vereint gewesen, hat man einmal gesagt. Die künstlerische Potenz, mit der er alle Musikformen, die seine Zeit ihm, von der Oper abgesehen, darreichte, zusammenfaßte und des Weiteren ausbaute, hat in der That selbst nicht in seinem großen Zeitgenossen Händel ihres Gleichen, dessen Genius ein engeres, umgrenzteres Tongebiet beherrschte. Dafür umschrieb des Letzteren Wirkungsfähigkeit von je weitere Kreise. Er ist der allgemeiner verständliche, universalere Musiker im Vergleich zu Bach, dem nationalen, urdeutschen Künstler, dessen ganze Größe sein eigenes Volk zum guten Theil mehr ahnt als recht ermißt, ja den man den unpopulärsten aller großen Meister nennen konnte. Wie diesem die echt deutsche Orgelkunst der Leben spendende Mittelpunkt seines Schaffens war, so ist er mit seinem auf's Ewige gerichteten Sinn in die tiefsten Tiefen deutschen Gemüths- und Glaubenslebens hinabgestiegen und hat Schätze an das Licht gefördert, die leben werden, so lange die Menschheit dauert und deutsches Wesen lebt. »Mir ist es bei Bach«, sagt Goethe, »als ob sich die ewige Harmonie mit sich selbst unterhielte, wie es sich im Busen Gottes vor der Schöpfung mag zugetragen haben.«

Fünf Jahre hatte Bach fast ausschließlich in der Beschäftigung mit der reinen Instrumentalmusik verharrt und in ihr Genüge und ein reiches, seinen Genius kräftigendes Arbeitsfeld gefunden, dessen Ergebniß die Mehrzahl der eben besprochenen Werke war. Nun drängte sich ihm die Erkenntniß auf, daß er, seinem höchsten Ziel, der kirchlichen Kunst, dauernd fern gehalten, in Cöthen doch nicht an seinem rechten Platze stehe. Es kam hinzu, daß das Musikinteresse des Fürsten nach seiner, acht Tage nach Bach's Wiederverheiratung erfolgenden Vermählung zeitweilig an Lebendigkeit verlor, daß ferner die Rücksicht auf Bach's heranwachsende Söhne ihn sich nach einer geeigneteren Bildungsstätte für sie umschauen ließ. Sein Blick fiel auf Leipzig. Im Sommer 1722 war Kuhnau daselbst gestorben und das Cantorat an der Thomasschule frei geworden. Man war besorgt, ihm und der langen Reihe seiner ausnahmslos hervorragenden Vorgänger einen würdigen Nachfolger zu geben. Doch war man anfangs nicht glücklich. Telemann, auf den unter den verschiedenen Bewerbern zuerst die Wahl fiel, nahm zwar an, besann sich jedoch hinterdrein eines Andern. Einem Darmstädter Capellmeister, den man dann begehrte, verweigerte der Landgraf von Hessen die Entlassung. Endlich meldete sich Bach. Er hatte sich nicht leichten Herzens dazu entschlossen, denn die Trennung von seinem Fürsten kam ihm sauer an; auch wollte es ihm, in so hohem Ansehen die Leipziger Stellung bei den Musikern stand, wie er schreibt, »anfänglich gar nicht anständig sein, aus einem Capellmeister ein Cantor zu werden«, denn an Glanz des Namens, das durfte er sich sagen, überstrahlte er schon jetzt weit all' seine Vorgänger. Am Ende überwog doch die Aussicht auf den erweiterten Wirkungskreis inmitten eines regen kirchlich-musikalischen Lebens. Er »wagte es im höchsten Namen«, am 7. Februar 1723 mit Aufführung seiner Cantate »Jesus nahm zu sich die Zwölfe« seine Probe abzulegen. Zwei Monate später ward ihm auf dem Leipziger Rathhaus seine einstimmig erfolgte Wahl feierlich kundgethan. Die Prüfung, welcher er sich, wie alle Candidaten städtischer Schul- und Kirchenstellen, beim Consistorium bezüglich seiner religiösen Grundsätze unterwerfen mußte, bestand er zur Befriedigung. Vorschriftsgemäß gab er das übliche Versprechen eines ehrbaren eingezogenen Lebenswandels, treuer Amtsverwaltung u.s.w., unterschrieb auch die Concordienformel und leistete den Eid. Am ersten Pfingsttage trat er sein Amt als Universitäts-Musikdirector, am 30. Mai, dem ersten Trinitatis-Sonntage, seine Thätigkeit als Thomas-Cantor an. Tags darauf, am 31. Mai, fand seine feierliche Einführung auf der Schule statt.

Die Thomasschule reicht als Stiftsschule der regulirten Augustiner mit ihrem Ursprung bis in das dreizehnte Jahrhundert zurück. Sie hatte von Alters her ein Alumneum, in welchem zur Ausführung des liturgischen Gesanges und anderer Cultushandlungen eine Anzahl von Knaben unterhalten ward. Als sie bald nach Einführung der Reformation in Leipzig, im Jahre 1543, sammt dem Thomaskloster und den zugehörigen Klostergütern in das Eigenthum der Stadt überging, erfuhr sie als protestantische Lehranstalt wesentliche Erweiterungen. Zu Bach's Zeit belief sich die Zahl der Alumnen auf 55. Sie hatten gegen freie Existenz und ein gewisses Einkommen die Verpflichtung, zu bestimmten Tagen und Zeiten Gesangsumgänge durch die Stadt zu halten, sowie bei Trauungen und Leichenbegängnissen, und vor Allem beim Gottesdienst in den verschiedenen Kirchen der Stadt die Ausführung der Musik zu besorgen. Dies vorzubereiten und zu leiten lag dem Cantor ob, der zugleich als Musikdirector an den beiden Hauptkirchen mit Inspection über die Organisten derselben und die bei der Kirchenmusik mitwirkenden Stadtpfeifer und Kunstgeiger betraut war und daneben auch an der Universitätskirche allerlei Functionen zu erfüllen hatte. Bezüglich des Unterrichts wurden keine übermäßigen Anforderungen an Bach gestellt. Fünf lateinische und sieben Gesangstunden hatte er allwöchentlich zu ertheilen; doch wußte er, obwol ihm das Latein geläufig und er überhaupt im Besitz einer soliden Allgemeinbildung war, sich nicht nur später von den ersteren ganz zu befreien, sondern sich auch die letzteren mit Hülfe der ihm unterstellten Präfecten zu erleichtern. Um so mannigfaltiger gestalteten sich die Ansprüche an seine compositorische Thätigkeit. Jeden Sonntag, mit Ausnahme der Fastenzeit und der drei letzten Adventsonntage, hatte er eine Cantate zur Aufführung zu bringen, und da es als Ehrensache der Cantoren galt, den Bedarf möglichst aus eigenen Mitteln zu decken, er auch academische Feierlichkeiten durch seine Werke verherrlichen mußte, eröffnete sich ihm damit ein weites Schaffensgebiet.

In pecuniärer Beziehung war Bach's Stellung eine für jene Zeit günstige. Außer freier Dienstwohnung, die er, wie seine Vorgänger und Nachfolger bis Hauptmann, in dem noch gegenwärtig stehenden, wenn auch seiner einstigen Bestimmung nicht mehr dienenden Schulgebäude angewiesen erhielt, gewährte sie ihm, seiner eigenen Angabe zufolge, ein Jahreseinkommen von ungefähr 700 Thalern, das ihm bei seiner schlichten Lebensweise selbst mit seiner zahlreichen Familie (denn zu den sieben Kindern aus erster Ehe kamen in zweiter dreizehn hinzu) ein bequemes Auskommen sicherte. In anderer Hinsicht jedoch blieb ihm gar Vieles zu wünschen übrig. Lästig vor Allem war ihm, dem stolzen, durch ganz Deutschland berühmten Künstler, der neben dem Ehrentitel eines fürstlich Cöthen'schen Hofcapellmeisters auch noch den gleichen des Herzogs von Weißenfels trug, das Untergeordnete seiner Stellung, das ihm kleinlich eifersüchtige Rectoren und Rathsherren zu Vorgesetzten gab, denen der Blick für seine Größe fehlte. Dazu war die Schule, Dank dem laxen Regiment eines alternden Rectors, in argen Verfall gerathen. Krieg unter den Lehrern, Zucht- und Sittenlosigkeit unter den Schülern, gänzliches Darniederliegen der Musik im Sängerchor: das waren die Verhältnisse, in die Bach eintrat, die Bedingungen, unter denen er arbeiten sollte! Energisch wie er war, an selbständiges Handeln gewöhnt, trotz seiner sonst im Umgang behaupteten ruhigen Würde ein eigensinnig schroffes, herrisches Auftreten und Verfolgen seiner Ziele nicht immer meidend, erfuhr er häufigen Widerspruch und Tadel. Unwesentliche Dienstversäumnisse wurden ohne Berücksichtigung seiner außerordentlichen Verdienste um die Kunst gerügt, seine Vorschläge für Verbesserung der musikalischen Hülfsmittel begegneten tauben Ohren, indeß man andere mittelmäßige Musiker eifrig protegirte. Sogar dahin kam es, daß man bei Vertheilung von Geschenken, Legaten, Vacanzgeldern den großen Meister schnöde überging, bis dieser endlich durch directes Vorgehen an den König seine Rechte wahrzunehmen sich herbeiließ. Ein weiteres Hemmniß für eine seiner Bedeutung entsprechende Thätigkeit ergab sich aus dem Mangel an verfügbaren Kräften. Ganz ungenügend erwiesen sich zumal die Instrumentalisten. Ein Musikchor von sieben Personen: vier Stadtpfeifer und drei Kunstgeiger, war Alles, was ihm die Stadt zur Lösung seiner idealen Aufgabe und Aufführung seiner eigenen mächtigen Werke beim Gottesdienste zu Gebote stellte. Er mußte zur Ergänzung des Sängerchors die Studenten, zur unumgänglichen Vervollständigung des Instrumentalkörpers seine Schüler heranziehen und sie außer im Gesang auch im Orgel-, Clavier- und Violinspiel unterweisen. Trotz alledem konnte nach Bach's Tode im Leipziger Rathe das Wort laut werden: »Herr Bach wäre zwar wol ein großer Musikus, aber kein Schulmann gewesen«. Er selbst legte auf sein Lehramt viel geringeres Gewicht als auf sein städtisches Musikdirectorat, wie er denn auch mit Vorliebe den Titel Director Musices führte. Nichtsdestoweniger war ihm ein hohes pädagogisches Talent zu eigen, und wenn ihn seine natürliche Reizbarkeit und Leidenschaftlichkeit weniger zur Bildung größerer und zumal undisciplinirter Massen befähigte, so erzielte er bei Leitung einzelner strebsamer Schüler um so schönere Resultate. Eine ganze Reihe hervorragender Künstler – Allen voran seine Söhne Friedemann und Philipp Emanuel, sein Schwiegersohn Altnikol, Ziegler, Agricola, Kirnberger, Vogler, Gerber, Homilius, Johann Ludwig Krebs – gingen aus seiner Schule hervor und durften ihm den größten Theil ihres Rufes danken. Schmückte ihn doch neben seinem nach dem Höchsten verlangenden gewaltigen Geist zugleich die entsagende Selbstlosigkeit, welche das eigene überragende Können in den Dienst des schwächeren Mitmenschen zu stellen bereit ist. Die Worte, die er auf das Titelblatt seines »Orgelbüchleins«, einer köstlichen Sammlung von Choralbearbeitungen, schrieb: »Dem höchsten Gott allein zu Ehren, dem Nächsten draus sich zu belehren«, deuten zur Genüge darauf hin, welche Pflichten er sich durch seinen Genius auferlegt fühlte. So sind denn in der That viele seiner Clavier- und Orgelstücke für seine Schüler eigens niedergeschrieben. Mit Freundlichkeit und Geduld neigte der sonst so ernste strenge Mann sich zu ihnen herab und war unermüdlich, sie zum Fleiß und Eifer anzuspornen. »Ich habe fleißig sein müssen«, pflegte er zu ihrer Aufmunterung zu sagen; »wer es gleichfalls ist, wird eben so weit kommen«. Im Urtheil über Andere war er mild und nachsichtig. Das schloß nicht aus, daß er untüchtige Kunstleistungen zuweilen in heftigster Weise rügte. Ohne Bedenken jagte er einen ungehorsamen Schüler mitten im Gottesdienst lärmend vom Chore fort, ja dem Organisten der Thomaskirche, der durch irgend ein Versehen sein empfindliches Künstlerohr beleidigte, warf er einmal zornig seine Perrücke mit den Worten an den Kopf: »Er hätte lieber sollen ein Schuhflicker werden!«

Die gleiche Pflichttreue und Gewissenhaftigkeit, die ihn im Verhältniß zu seinen Schülern charakterisirt, übte er auch im eigenen Hause. Auch in ihm war der rege Familiensinn seines Geschlechtes lebendig und gab sich in fürsorglicher Liebe für seine Angehörigen und Verwandten kund. Mit einem nothleidenden Vetter hatte er schon in Arnstadt sein karges Einkommen getheilt, und den letzten Willen einer Verwandten hielt er pietätvoll gegen den eigenen Vortheil und die habsüchtigen Bemühungen Anderer aufrecht. Seine Kinder erzog er mit vieler Sorgfalt und stattete sie mit der soliden Allgemeinbildung aus, die ihn selber auszeichnete. Um seinem ältesten Sohn, dem reichbegabten Friedemann, wie es scheint, eine Weihnachtsfreude damit zu machen, ließ er den Dreizehnjährigen bereits im December 1723 auf der Universität einschreiben, und auf seinen öfteren Wanderungen nach Dresden, wo am glanzreichen Hofe August des Starken auch die Musik und zumal die italienische Oper mit Hasse und Faustina blühte und glänzte, mußte ihn sein Liebling immer begleiten. »Friedemann, wollen wir nicht die schönen Dresdener Liederchen einmal wieder hören?« mit diesen Worten pflegte ihn der Vater aufzufordern. Denn so verschiedene, ihr entgegengesetzte Wege ihn auch sein Ideal gehen hieß, Bach selber wußte ohne Zweifel, daß er ohne die Oper nicht geworden wäre, was er war. Die Berücksichtigung derselben selbst im Kirchenstile dünkte ihm eine berechtigte Forderung der Zeit. Nicht nur ihre Formen, auch die reicheren Mittel des Ausdruckes für Seelenstimmungen, für Lust und Leid, wie sie die Musik erst im Theater lernte, hatte er in der That durch sie gewonnen, durch sie die subjectivsten Regungen der Seele belauschen gelernt. Wir wissen, trotz einigen in dramatischer Form gehaltenen weltlichen Compositionen, von keiner Oper, die Bach geschrieben hätte; aber wir bewundern ihn als geistlichen Dramatiker, obgleich er durch ein vorwaltendes Allgemeingefühl stets den kirchlichen Charakter seiner Tondichtungen bewahrt. So erscheint er zugleich als geistlicher Lehrer, als Prediger. Musikalische Homilien hat Ambros seine Cantaten genannt. »Palestrina betet in seinen Tönen, – Bach predigt und er predigt gewaltig«, sagt er. Schon in seinen Instrumentalwerken stellt er sich seinen Themen gegenüber wie ein Dialectiker, ein tiefsinnig forschender Philosoph dar. In seinen Kirchencompositionen führen ihn nun vollends seine Texte zur direct ausgesprochenen Lehre hin. In dem Jahrhundert freilich, in dem Bach lebte, war es um die Poesie schlimm bestellt. Die Wunden, die der dreißigjährige Krieg Deutschland geschlagen, bluteten auch in seinem Culturleben noch fort, die Sprache war einerseits verwildert, andererseits durch den Schwulst der schlesischen Dichterschule und die Empfindelei des Pietismus versüßlicht. Demnach leiden auch Bach's Texte, die er meist den Arbeiten Neumeister's, Franck's und Henrici's (Picander's) entnahm, an den Gebrechen ihrer Zeit. Vieles Schwache, Geschmacklose findet sich darunter, ja hier und dort (in den Sologesängen) muß selbst die Musik das Veraltete der Worte entgelten und ihrer Zeit den Tribut zahlen. Doch das ist Vereinzeltes. Im Ganzen weiß der schöpferische Geist des Meisters auch den flachsten Text zu vertiefen und zu verklären, ihn zu einer künstlerischen Einheit zu ordnen und uns somit auch über den empfindlichen Contrast abgeschmackter Verse und der daneben wirkenden Urkraft des Bibelwortes harmonisch hinweg zu bringen.

Fünf vollständige Jahrgänge von Kirchen-Cantaten auf alle Sonn- und Festtage, nach Spitta's Berechnung in Summa 295, hat Bach hinterlassen. Davon entfallen laut Ersterem etwa 266 auf die 27 Jahre seiner Leipziger Wirksamkeit. Doch nur gegen 210 blieben uns davon erhalten, und nicht gar lange ist es her, daß wir erst begannen, sie lebendig in Besitz zu nehmen. Hierhin und dorthin verstreut, unter hundertjährigem Staub begraben lagen die Schätze, die der tonreiche Meister Jahr für Jahr angesammelt und, nachdem sie den Zweck gottesdienstlicher Erbauung erfüllt, still bei Seite gelegt hatte. Erst neuerdings erwecken hauptsächlich die in's Leben getretenen Bachvereine sie wieder zu Sang und Klang, und Werke unvergänglichen Werthes, wie »Ein' feste Burg«, »Ach, wie flüchtig«, »Bleib' bei uns«, »O ewiges Feuer«, »Gott der Herr ist Schirm und Schild«, »Sie werden aus Saba Alle kommen« etc. etc., werden dem staunenden Hörer als etwas Altes und doch Neues geboten. Eine leicht genießbare Kost allerdings gewähren sie nicht. Wie Bach's große Schöpfungen namentlich in der Weise der Stimmbehandlung den Ausführenden Schwierigkeiten bieten, die nur mit wahrer Selbstverleugnung und Hingabe überwunden werden können, so berührt die ruhelose Polyphonie ihres Stils ein durch homophone Musik erzogenes Ohr zunächst mehr fremdartig als anziehend. Nicht passiv darf sich der Hörer dem bloßen sinnlichen Eindruck überlassen; er muß der Gedanken- und Formenentwickelung aufmerksam nachgehen, nicht eine einzelne Stimme oder Melodie, sondern die Vielheit derselben verfolgen, um sich in diesen kühnen Tongebäuden zurecht zu finden und ihrer Herrlichkeit gewahr zu werden. Oder verbergen sich unter der scheinbaren Einförmigkeit seines Fugenstils nicht Wunder der Erfindung und Wissenschaft? Im freien contrapunktischen Stimmengewebe reichster Polyphonie hat Bach das Höchste erreicht und die ihm vorangegangene Periode der Tonkunst durch seine Thaten zum Abschluß gebracht. Die Meisterschaft der Arbeit aber ist ihm nur Mittel, nie Zweck; nicht um ihrer selbst willen, nur im Dienste der Idee verwendet er sie. »Ohne Bedenken kann man es wol als Regel aufstellen: je tiefsinniger Bach in seinen formalen Combinationen auftritt, desto sicherer läßt sich darauf rechnen, daß hinter dem ungewöhnlichen Ausdruck ein eben so überraschender Gedanke verborgen liegt. In der Cantate »Ein' feste Burg« umschließt der Meister wie mit einem eisernen Gürtel den ersten Chor durch die canonische Führung der Choralmelodie. Oboen und Fundamentalbaß vollziehen diese kunstreiche Aufgabe, und zwar so, daß sie die äußersten Grenzen der Höhe und Tiefe des Satzes bestimmen. Innerhalb dieses strengen Gefüges bewegen sich Gesangstimmen und Orchester in völliger Freiheit, die melodischen Formen des Cantus firmus theils nachahmend, theils umschreibend. Man hat vielfach und mit Recht das große Kunststück einer solchen Anlage und Durchführung angestaunt – ist aber der hochsymbolische Sinn, den Bach sicherlich mit diesen außergewöhnlichen Mitteln beabsichtigte, weniger der größten Theilnahme werth? Konnte die »feste Burg« in architectonischer Hinsicht gewaltiger umgrenzt, durch Tonmaterial erhabener ausgebaut werden?« So hören wir Robert Franz in seinem Aufsatz »über Bach'sche Kirchencantaten«.[3] Er, einer der feinsten Kenner Bach'scher Kunst, hat sich ohnehin durch seine Bearbeitungen von Bach's Werken ein nicht genug zu schätzendes Verdienst um Verbreitung und Zugänglichmachung derselben erworben. Nicht in vollendeter Gestalt bekanntlich liegen die uns überkommenen Originalpartituren des Meisters vor. Sie enthalten, gleich denjenigen Händel's, vornehmlich in den Solonummern viele nicht völlig ausgeführte, sondern blos skizzirte Theile, zu deren Ergänzung und Ausfüllung die Orgel accompagnirend hinzutreten mußte. Bei der Gewohnheit des Componisten, die Aufführung seines Werkes von Letzterer aus persönlich zu leiten, genügte die karge Andeutung eines bezifferten Basses, um mit der in virtuoser Weise von ihm geübten Improvisationskunst dem Ganzen bei der jedesmaligen Vorführung die erforderliche Abrundung und harmonische Vollendung zu geben. Für uns Nachkommende indeß ist diese unvollständige ursprüngliche Fassung nicht wol brauchbar, sie erheischt zwingend eine Bearbeitung, wie sie beispielsweise auch Mozart und Mendelssohn Händel'schen Oratorien zu Theil werden ließen. Der pietät- und mühevollen Wiederherstellung derartiger Partituren nun hat Franz den hingebendsten Eifer gewidmet und als eine dem Autor congeniale Natur sie durch seine stilgemäßen polyphonen Ergänzungen für Orgel und Orchester mit seinem künstlerischen Sinn dem Verständniß der Gegenwart möglichst nahe gerückt.[4]

Ueber Bach's Art zu arbeiten hören wir, daß er wol häufig änderte und besserte, nicht aber in der Weise, wie z.B. Beethoven es gethan, viel skizzirte und die Grundidee mannigfach umgestaltete und verwarf. Die Manuscripte seiner Hand verrathen Sorgfalt und Sauberkeit. Daß er vielfach ältere Compositionen neuen Zwecken dienstbar machte, wurde bereits erwähnt, nicht minder auf seine unvergleichliche Improvisationskunst hingewiesen. Willkür kennt er nicht, aus einem gemeinsamen Mittelpunkt scheint Alles entsprungen, in strengster Form alle Leidenschaft des Empfindens gebändigt. Trotz einer an's Unglaubliche grenzenden polyphonischen Virtuosität läßt er sich doch nicht zum Schaden seines Ideals von ihr beherrschen; auch in den complicirtesten Formen und ungeachtet der Wucht und Massenhaftigkeit seiner Gestaltungen bleibt er groß und klar. Das Wort von der flüssigen Architectur gilt von seiner Musik mehr als von der irgend eines Anderen. Seine Harmonik ist kühn und scheut keine Härten; der Gang seiner Stimmen zeigt inmitten seiner Gebundenheit große Lebendigkeit und Freiheit. Seine Modulation ist im Allgemeinen sehr maßvoll, erzielt aber, wo es ihm darauf ankommt – wie im Präludium zur großen G-moll-Fuge und der wundersamen »chromatischen Phantasie« – durch eine geniale Chromatik und Enharmonik die gewaltigsten Wirkungen. Tief und innig ist seine Melodik, mannigfaltig und complicirt seine Rhythmik, seine Declamation im Recitativ voll melodischen Ausdruckes und dabei meist voll schöner Uebereinstimmung zwischen Wort und Ton. Seine Instrumentation ist, wo sie in volle Wirksamkeit tritt, charakteristisch und an geeigneter Stelle – so beispielsweise in der Einleitung der Cantate »Gott der Herr ist Schirm und Schild«, oder des Weihnachtsoratoriums »Jauchzet, frohlocket« – oft von hellem Glanze, auch wenn sie selten eine gewisse Herbigkeit ablegt, wie Bach denn mit Vorliebe dunkele Seelenstimmungen schildert und den Gegensatz zwischen den Leiden dieses irdischen und den Freuden jenes seligen Lebens betont. Die schwierigsten Aufgaben bringt seine Behandlung des Vocalen mit sich. Wie er allenthalben in seinen Productionen hohe und höchste Anforderungen an den Ausführenden stellt, so gehen seine Zumuthungen an die mit den Instrumenten fortwährend in Wetteifer gebrachte Menschenstimme so weit, daß von Seiten der Sänger oft Klagen laut wurden und ihm der Vorwurf der »Grausamkeit« nicht erspart geblieben ist. Man vergleiche nur seine Arien und Chöre, seine unerhört schwierigen Motetten! Nur die gewiegtesten Sänger dürfen es wagen, sich (mindestens ohne stützende Orgelbegleitung) mit den Letzteren zu befassen, soll anders ihnen und dem Hörer Genuß daraus erwachsen. Wahre Pracht- und Wunderwerke aber sind uns in ihnen, die er, gleich der großen Ueberzahl seiner Cantaten, für seinen Thomanerchor schrieb, doch leider nur in bescheidener Zahl auf uns vererbte, zu eigen gegeben. (Es genüge hier auf »Jesu, meine Freude«, »Singet dem Herrn ein neues Lied«, »Fürchte dich nicht«, »Komm, Jesu, komm« hinzuweisen!) Auch sie wurzeln, wie seine Cantaten, von denen sie sich selbständig losgelöst zu haben scheinen, und wie alle seine Instrumentalcompositionen, in seiner Orgelkunst. Findet sich jedoch in jenen Ersteren und vornehmlich in den früheren derselben Manches, was mehr als Formel des Zeitstils, als aus innerer Nothwendigkeit entstand, so erscheint hier Alles aus seiner eigensten Kunstherausgeboren, Alles echter, lauterster Bach.

Eben diese Motetten erregten die begeisterte Bewunderung Mozart's, der Bach bis dahin nur als Instrumentalcomponisten kannte, als Cantor Doles sie ihm im Jahre 1789 zeigte. »Da ist doch einmal etwas, woraus sich was lernen läßt!« rief er voll Freude aus, indem er sich in das Studium der geschriebenen Stimmen vertiefte. Sie waren auch die einzigen von Bach's Vocalwerken, die zu keiner Zeit völlig aus dem Musikleben verschwanden. In Leipzig und an anderen Orten ihres sächsischen Vaterlandes wenigstens wurden sie hin und wieder gesungen. In weitere Kreise aber drangen auch sie nicht hinaus. Selbst Beethoven gründete seine Verehrung des »Urvaters der Harmonie« und sein bekanntes Wort: »Das ist kein Bach, sondern ein Meer«, nur auf die Orgel- und Clavierstücke, welche die damalige Zeit von ihm kannte. Sogar das Werk, das Bach unter allen seinen Künstlerthaten am werthesten hielt: die Matthäuspassion, hatte man völlig aus den Augen verloren, bis Felix Mendelssohn es gerade hundert Jahre nach seinem Geburtstag (1829) gleichsam neu entdeckte.

Als eine fruchtbare Atmosphäre übrigens erwies sich Leipzig für unseren Meister, mochten auch seinem Berufe daselbst die Dornen nicht fehlen. Ein großes Werk nach dem anderen entsprang seinem Geiste, mit vollen Händen spendete er köstlichste Gaben. So traten in den ersten sieben Jahren seiner Cantoren-Thätigkeit neben einer Fülle von Cantaten sein großes Magnificat und die Passionsmusiken an das Licht. Zur Verherrlichung des Weihnachtsfestes wurde das Erstere (der Lobgesang der Maria auf lateinischen Text) geschrieben, das zu den erhabensten Eingebungen seines Genius zählt. Es spiegelt in seiner durch deutsche Texteinlagen erweiterten Form, wie sie der Tonsetzer von seinem Vorgänger Kuhnau übernahm, den alten, dazumal noch in Leipzig populären Brauch: die Vorgänge der heiligen Nacht zur Christmette dramatisch aufzuführen, im idealen Bilde wieder. In ungleich weiterem Rahmen als dies durch seine knappen, concentrirten Formen unter Bach's großen Kirchencompositionen hervorstechende Werk breiten sich seine Passionen aus.

bis in das frühe Mittelalter zurück reicht der alte Kirchenbrauch, die Passionsgeschichte nach den Worten der Evangelisten während der Charwoche mit vertheilten Rollen am Altare abzusingen und, um sie der gläubigen Gemeinde möglichst zu Gemüthe zu führen, in primitiver Weise dramatisch darzustellen. Den erzählenden Theil sang ein Priester »choraliter« (ohne rhythmische Eintheilung im Einzelnen, nur mit abgetheilten Phrasen), Andere übernahmen gleicherweise die Reden Christi und der übrigen Personen; die Volksmenge (turba) wurde durch einen Chor vertreten. Später als die geistlichen Schauspiele und Mysterien sich mittlerweile aus der schlichten liturgischen Passion entwickelt und selbständig von ihr abgezweigt hatten, kam das Scenische der Vorführung allmälig in Wegfall. Um das Ganze mehr musikalisch einzurahmen, fügte man meist zu Anfang eine für Chorcomponirte Ueberschrift (»Das Leiden unsers Herrn Jesu Christi, wie es uns das Evangelium beschreibet«) und am Schluß einen kurzen chorischen Dank-, Bitt- oder Lobgesang hinzu, darin der religiösen Empfindung und Betrachtung Raum gegeben war. Daneben kam mit der wachsenden Ausbildung des mehrstimmigen Gesanges auch eine durchgehends chorische, motettenartige Composition des lateinischen Passionstextes, sowie endlich eine dritte Behandlung auf, in welcher die Erzählung des Evangelisten im Choralton recitirt wird, das Uebrige aber mehrstimmig gesetzt ist. All' diesen verschiedenen Formen wies mit Anwendung deutschen Textes auch die protestantische Kirche in ihrem Passionscultus eine Stelle an. Sie erfuhren durch von der Gemeinde oder vom Sängerchor gesungene Choräle, durch Instrumentalbegleitung und -Einleitung, durch allerhand aus der Oper und dem italienischen Oratorium entnommene Elemente weiterhin mannigfache Bereicherungen. Dabei verweltlichten sie mit Aufnahme der freien Dichtung, die sich mit Bibelwort und Kirchenlied vermischte, indessen mehr und mehr; das Kirchliche trat in den Hintergrund.

Ein so buntes Vielerlei fand Bach vor und seine geniale Kraft gestaltete aus ihm eine Schöpfung von hoher künstlerischer Einheit. Die Keime zu seinem Kunstwerke wol finden sich in den vier Passionen (1665 und 66), den »Sieben Worten Christi am Kreuz«, der »Historia der fröhlichen und siegreichen Auferstehung unsers einigen Erlösers und Seligmachers Jesu Christi« (1623) von Heinrich Schütz, dem größten deutschen Tonmeister des siebzehnten Jahrhunderts, vorgebildet. Man muß sie, die ersten oratorischen Werke, welche in die Handlung eingreifende Chöre in wahrem Oratorienstil enthalten, kennen, um zu verstehen, was gleich Händel auch Bach diesem seinem größten deutschen Vorgänger dankt. Doch sind sie eben nur die Keime, die der Schöpfer der Matthäuspassion zu höchster Blüte entfaltet und die sich zu seinen Thaten wie Verheißung zur Erfüllung verhalten. An Stelle der knappen Schütz'schen Formen, welche die Chöre in gedrängtester Fassung bringen, in denen die Arie fehlt und das neugewonnene Recitativ nur hier und dort statt des alten einförmig psalmodirenden Tones hervorbricht, dehnt sich nun ein in großartigen Verhältnissen angelegter Bau. Mächtige Eingangs- und Schlußchöre, Choräle als Mittelpunkt des Ganzen, Recitative voll reich melodischen und dabei sprachgemäßen, oft dramatischen Ausdruckes, betrachtende Arien und Chorsätze, welche den Gang der Handlung nach jeder Scene unterbrechen und das Gefühl der Gemeinde wie Einzelempfindungen voll austönen; dazu eine belebte Instrumentalsprache – so treten uns die Werke entgegen, in denen wir die höchsten Erscheinungen auf dem Gebiete protestantischer Kirchenmusik ehren und lieben.

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Anmerkungen:

  1. Ueber J.S. Bach's Leben, Kunst und Kunstwerke. Leipzig, Hoffmeister & Kühnel. 1802.
  2. Als Erfinder werden die Musiker Werkmeister und Neidhardt genannt.
  3. Neue Zeitschrift für Musik. Jahrg. 47. Nr. 5.
  4. Ausführlicheres hierüber siehe: La Mara, Musikalische Studienköpfe. Bd. 3. (Robert Franz.) 4. Aufl. Leipzig, Schmidt & Günther.
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