Äußerst interessant ist Wagners im Oktober 1854 gefälltes Urteil über das 1853 entstandene, 1866 umgearbeitete Werk [1]. Einige besonders charakteristische Sätze seien ihm entnommen: »Deine Erfindung hat mich sogleich betroffen. Deine Gabe hierfür ist unverkennbar stark ... Die thematische Struktur in Anlage und Ausführung ist groß und übersichtlich ... Die Charakteristik der Motive ist deutlich ... Wenn ein Musikstück Stimmung hat, so ist es dieses: daß es eine gräßliche Stimmung ist, ist eine andere Sache ... Ich kann somit nicht anders als Dir Meisterschaft zusprechen, so daß ich der Meinung bin, Du kannst alles machen, was Du willst. Wenn ich dagegen – in bezug auf das Formelle – ein gründliches Bedenken habe, so ist es Dein Verhalten zum harmonischen Wohlklang ... Ich weiß gewiß aus Erfahrung, daß es Gegenstände auch der musikalischen Darstellung gibt, die gar nicht anders auszudrücken sind, als daß man für sie auch harmonische Momente auffindet, die dem Ohre des musikalischen Philisters verletzend vorkommen müssen. Erkannte ich dies beim eigenen Arbeiten, so leitete mich zugleich auch immer ein ganz bestimmter Trieb, die harmonische Härte soviel wie möglich wiederum zu verdecken und endlich so zu stellen, daß sie als solche (meinem Gefühle nach) endlich gar nicht mehr empfunden werden sollte. Nun kann ich noch nicht die Empfindung los werden, als ob es Dir fast entgegengesetzt ginge, nämlich als ob es Dir recht darauf ankäme, daß die Härte als Härte empfunden werde, und am übelsten tritt mir das da hervor, wo ich die ganze Empfindung sich eigentlich bloß in dieser Härte kundgeben sehe ... Ich falle in meine alte Schwäche zurück, die mich glauben macht, daß die Kunst eben darin bestehe, gerade die seltsamsten, ungewöhnlichsten Empfindungen dem Hörer so mitzuteilen, daß seine Aufmerksamkeit nicht durch das Material des Gehöres abgelenkt werde.«

Der Uhlands Dichtung nachgeschaffenen Orchesterballade »Sängers Fluch« rühmte Louis Köhler »Vertiefung in den poetischen Stoff bei Wahrung aller rein musikalischen Bedingungen« nach, und Liszt nennt sie »vornehm, frappant, sympathisch und stolz geformt«. Ihre »chevalereske Haltung, das Aparte und Nervöse ihres Stils entzücken« ihn, und er mahnt Bülow, seine eigenen Werke »nicht zu verleumden« [2]. Ihre Form geht, ohne Anlehnung an ein Vorbild, unmittelbar aus Uhlands Gedicht hervor, dem sie sich in klarer Gliederung anschließt, die Hauptmomente durch thematische Behandlung zusammenfassend. Glücklich in der Erfindung, meisterlich im formalen Aufbau wie in der Instrumentation, war, scheint es, nur die übergroße Zurückhaltung des Komponisten ihrer weiteren Verbreitung hinderlich. Immerhin hat sie mehr wie andere seiner Werke den Weg in die Konzertsäle gefunden. Nach ihrer erstmaligen, von lebenden Bildern begleiteten Aufführung im Berliner Viktoriatheater, am 30. Januar 1863, schrieb Bülow an Julius Stern: »Ich habe geglaubt, das Möglichste von Zahmheit geliefert zu haben. Aber der ›Effekt‹ zeigte mir heute, daß ich mein musikalisches 1793 nie werde ganz verleugnen können.«

Es gab Zeiten, wo Bülow sich mit Opernplänen trug und in Richard Pohl den Dichter eines »Merlin« zu finden hoffte, dem er tönendes Leben zu verleihen sich sehnte, »Eine Oper – Gestalten – Menschen – Halbgötter, einen Satan? Welch rasende Wollust!« ruft er im Juli 1858 in einem Brief an den Freund aus. Zehn Jahre später (24. August 1868) äußert er resigniert zu Cornelius: »Tue, wie Dir derjenige rät, der ›faute de mieux‹, d. h. weil er dem Schaffen entsagen mußte, sich aufs Wirken für schönes Geschaffene gelegt hat«. Und nach einem weiteren Jahrzehnt ungefähr bekennt er Hans von Bronsart, daß »die Überzeugung von seiner Impotenz fest und tief« sei. Sich zu überschätzen lag ihm fern – lieber unterschätzte er sich. Wohl aber entschlüpft ihm noch später, als seine Feder 1883 zu der sehr von ihm verehrten Baronin Overbeck spricht, ein Wort der Bitternis! »Vielleicht – es ist eine Ewigkeit her – sprühte auch in mir einst ein Funke; aber er wurde in dem Meer von Begeisterung, das für Wagner und seinen Schwiegervater in mir wogte, untergetaucht und ertränkt. Heute vermag ich weder Enthusiasmus auszuströmen, noch blieben mir Glaube oder ein Ideal, das ich anbeten konnte.«

Ungleich dankbarer als Bülows Kompositionen nahm man seine Ausgaben älterer Meisterwerke der Klavierliteratur auf. Mit Recht erblickt man in ihnen, in denen er uns Händel, Scarlatti, Gluck, Weber, Mendelssohn, Chopin (letzteren in vorzüglichen Erläuterungen seiner Etüden) und andere nahe bringt, auch Cramers Etüden in Auswahl neu vorlegt, Muster sorgsamster Studien und tiefen Denkens. Die Höhe seines künstlerischen Erkennens, Empfindens und Könnens erschließt uns insbesondere seine wundervolle Ausgabe der Beethovenschen Klavierwerke op. 53 bis 129, Sie gehört zum Besten, was die Beethovenforschung geleistet hat. Sind Bülow doch auch Beethovens Sonaten »das musikalische Neue Testament«, wie er in Bachs »Wohltemperiertem Klavier« das »Alte Testament« ehrt. Seine Beethovenausgabe widmete er »dem Meister Franz Liszt«, den er in einer Anmerkung als »den unerreichtesten Beethovenkenner der Welt« bezeichnet, »als Frucht seiner Lehre«. Liszts Urteil über dieselbe lautete, daß sie »ein Dutzend von Konservatorien an Belehrung aufwiege«.

Die große Wandlung im Schicksal Richard Wagners, die der idealgesinnte junge König Ludwig II. von Bayern alsbald nach seiner Thronbesteigung herbeigeführt hatte, griff auch in Bülows Leben entscheidend ein. Der tief leidende Zustand, in dem dieser im Juli 1864 in Starnberg bei Wagner eintraf, ließ es letzteren, wie er Eliza Wille mitteilt, als dringlich erachten, den Freund »aus seiner wahnsinnig aufreibenden Kunstbeschäftigung zu reißen und ihm ein edleres Feld zu verschaffen. Es gelang leicht, den jungen König – für ihn war es wiederum sehr wichtig – zur Anstellung Bülows als seinen Vorspieler zu bewegen. Ich hoffe nun Bülow hier für immer bei mir zu haben. Beiden habe ich für uns alle nur ein Erlösungsmittel in Aussicht gestellt: höchstes gemeinsames Kunstschaffen und -Wirken.«

Noch im November des Jahres siedelte Bülow mit Gattin und zwei kleinen Töchtern nach München über. »Ich verhehle mir keineswegs die Schwierigkeiten und Unannehmlichkeiten, die meiner dort warten können«, hatte er vorausgesagt. »Aber nach einem Rosenbette lechze ich nicht, nur nach einem möglichen Terrain, einem weniger sterilen und sterilisierenden als dem hiesigen.« Ungleich mehr der Dornen als der Rosen hatte jedoch auch München für ihn bereit. Wohl gab ihm die »neue Ära«, die durch Wagner und ihn musikalisch herbeigeführt wurde, zu großen Taten Gelegenheit. Seine Autorität begründete er in der bayrischen Hauptstadt, indem er sich auf Wunsch des Königs in einem von der Hofkapelle im Odeon veranstalteten Konzerte am 25. Dezember produzierte. Er spielte außer Beethovens Es-dur-Konzert Soli von Mozart und Bach, »um den zahlreichen Heulern über die Invasion von Zukunftsmusik die Mäuler zu stopfen«. Bald zeigte es sich: es galt den Geschmack des Publikums erst zu erziehen. »Wir Neulinge, Wagner, Cornelius und meine Wenigkeit«, läßt Bülow sich aus, »sind für München Luxus. Mendelssohns Oratorien sind hier noch nouveautés inédites, von Schumann kaum die populärsten Arbeiten bekannt.« Seine Pflichten erkennt er »in exklusiver Konzentration auf die Wagnersche Aufgabe«, und mitten hineingestellt in dieselbe sieht er sich durch die ihm übertragene Einstudierung und Leitung von »Tristan und Isolde«, deren Aufführung der König befiehlt. Hat er schon zuvor, nach Wagners Zeugnis, »mit Herstellung eines spielbaren Klavierauszuges das Unmögliche geleistet«, so vollbringt er durch Verlebendigung dieser ihm »bis zum Auswendigwissen jedes kleinsten Bruchteils vertrauten Partitur« auf der Bühne sein größtes Meisterstück. Bülow sieht in ihr, die München am 10. Juni 1865 mit dem Sängerpaar Schnorr in den Titelrollen beschert wird, »das wichtigste künstlerische Ereignis des Jahrhunderts«. »Wir sind alle wie im Traume«, schreibt er. Und Wagner erklärt durch die Darstellung sein Ideal für erreicht. Noch drei Wiederholungen erlebt das einzigartige Wunderwerk. Dann wird Schnorr, der unvergleichliche Sänger des Tristan, der noch in einem »geheimen« Konzert für den König mitgewirkt hat, in dem Szenen aus »Rheingold«, »Walküre«, »Siegfried« und »Meistersinger« zur Aufführung gekommen waren, plötzlich in Dresden von der Welt genommen. Auf Jahre hinaus verstummt ist wieder die hehrste Tontragödie.

Auch der »Fliegende Holländer« geht unter Bülows Taktstock über die Münchner Bühne, und die Privatkonzerte des Königs werden von ihm geleitet. Inzwischen nehmen Angriffe auf Wagner und seine Anhänger, denen die »Allgemeine Zeitung« bereitwillig ihre Spalten öffnet, einen immer breiteren Umfang an. Der herrliche Plan eines von Semper in München zu erbauenden Wagner-Festspielhauses wird demzufolge zu Wasser. Höfische, politische und klerikale Parteien beeifern sich unter dem Vorgeben, daß Wagner sich demagogischer Umtriebe, der Verschwendung auf Kosten des Königs, wie überhaupt eines schädlichen Einflusses auf seinen hohen Gönner schuldig mache, den Meister zu stürzen, und glauben triumphieren zu dürfen, als sie Ludwig II. die Einwilligung zu einem zeitweisen Fortgang Wagners von München abgedrängt haben. In Genf zunächst, dann weiter in Triebschen bei Luzern gibt sich der Verleumdete nun in Ruhe der Vollendung seiner großen Arbeiten hin. Besuche Bülows und der Seinen bringen Licht und Leben in seine Zurückgezogenheit,

Bülow harrt weiter heldenmütig in München aus. Den sich nun mit verdoppelter Wucht gegen ihn, den Vertreter Wagners, häufenden Anfeindungen bietet er tapfer die Stirn. Ein gerichtliches Nachspiel, das aus ihnen hervorgeht, endet selbstverständlich, und zwar in beiden Instanzen, zu seinen Gunsten. Er leitet, während der zukunftsfeindliche Franz Lachner, wenn auch seit 1865 beurlaubt, doch offiziell bis 1868 Hofkapellmeister bleibt, auf Befehl des Königs dessen Privatkonzerte, führt darin unter anderem Liszts »Heilige Elisabeth« auf, bereitet, nachdem er den »Fliegenden Holländer« zur Darstellung gebracht, auch »Lohengrin« und »Tannhäuser« vor, trifft dazwischen in Pest und Amsterdam, wo es den Werken seines Meisters und Schwiegervaters gilt, mit diesem zusammen, – erbittet aber endlich, der beständigen Ehrenkränkungen seitens der Münchner Feinde müde, im Juni 1866 seine Entlassung.

Der zwischen Preußen und Österreich ausbrechende Krieg findet Bülow in Triebschen bei Wagner. Von dort schreibt er am 21. Juni: »An einem Orte, wo ich so Unsägliches für mich, für Wagner gelitten, kann ich mit allergeringster Lebenslust selbst nicht weiter verweilen«. Im Oktober siedelt er zeitweilig nach Basel über, daselbst unterrichtend und Konzerte gebend. Der Januar 1867 bringt ihm, alsbald nach Fürst Hohenlohes Eintritt in das bayrische Ministerpräsidium an von der Pfordtens Stelle, die Ernennung zum bayrischen Hofkapellmeister im außerordentlichen Dienst, der im März die zum Ritter des Michaelsordens, im April die zum Direktor der in München neu zu organisierenden königlichen Musikschule folgt. Der Ruf seines Königs führt Bülow wieder nach dessen Residenz.

Noch ist Lachner nicht vom Amte zurückgetreten und sieht sich durch seine Partei demonstrative Huldigungen dargebracht. Doch »Lohengrin« und »Tannhäuser« werden unter Bülows Feldherrnstab lebendig. »Er spielt ihn«, schreibt Cornelius in bezug auf »Lohengrin«, »wie eine der großen Sonaten von Beethoven.« Auch der »Holländer« wird wieder aufgenommen. Der Unermüdliche bildet die ihm anvertraute Bühne zu einer Musteranstalt aus, in der die wertvollsten Neuschöpfungen der letzten Jahrzehnte neben den klassischen Opern durch ihn zu stilvoller Wiedergabe gelangen. Vorspielen beim König, große Konzerte mit Liszts »Tasso«, »Mazeppa«, »Heiliger Elisabeth«, dazu die Neuorganisierung der Musikschule, die er binnen kurzem zu staunenswerter Leistungsfähigkeit erhebt und der er selbst seine kostbare Lehrkraft widmet, geben seiner rastlosen Tätigkeit Abwechslung. Am 21. Juni 1868 wird die Welt Zeuge einer neuen Großtat: Wagners in der Stille Triebschens beendete »Meistersinger« treten unter Führung Bülows ans Licht. In der Loge des Königs, an dessen Seite, wohnt der Dichterkomponist der Ausführung bei und nimmt, sich von der Loge aus verbeugend, die Jubelausbrüche des Publikums entgegen. Auch die zweite Vorstellung bedeutete, laut Bülow, einen »beispiellosen Erfolg«. Er blieb auch den weiteren Wiederholungen treu. Wagner kehrte in sein stilles Seeheim zurück.

Im Frühjahr 1869 befahl Ludwig II. für den 25. August, seinen Geburtstag, die Aufführung des »Rheingold«. Die Einzelvorführung eines Teils aus seinem großen Nibelungenwerk widerstrebte Wagners Prinzipien. Gleichwohl schrieb er am 18. Mai dem Kabinettssekretär des Königs, Hofrat von Düfflipp: »Ich habe kein Recht, meinem erhabenen Wohltäter, in dessen einzigem Schutze ich Ruhe und Arbeitsmuße gefunden habe, irgendwie entgegenzutreten, wenn Er hier meine Arbeiten vorführen lassen will« [3]. Nur erklärte er seinen Entschluß, sich selber nie wieder an irgendwelchen Kunstunternehmungen in München oder anderswo zu beteiligen. Er stattete den von ihm selbst herangebildeten und unter Bülow in München tätigen Musikdirektor Hans Richter mit genauesten Anweisungen für den musikalischen Teil der Aufführung aus. Doch erklärte dieser, Wagners Werk in der mangelhaften Inszenierung, wie sich dieselbe in der Hauptprobe herausstellte, nicht dirigieren zu können, und nahm seine Entlassung. Erst nach neuen Konflikten ging es am 22. September in Szene. Bülow stand nicht mehr an der Spitze der Kapelle. Er hatte bereits am 8. Juni sein Abschiedsgesuch eingereicht und, wie er mit dem »Tristan« seine Tätigkeit im Münchner Hoftheater begonnen hatte, dieselbe mit ihm nun auch am 22. Juni 1869 beschlossen. In diese Zeit fällt die Trennung von seiner Gattin. »Ironischer«, sagt er, »konnte das Schicksal nicht mit mir spielen, als mich zwingen, München in demjenigen Augenblicke zu verlassen, den zu genießen ich fähig gewesen sein würde, eine Reise um die Welt zu machen!« Übervoll ist nun das Maß seiner Münchner Leiden.

Er kehrt Deutschland im September den Rücken. In Florenz will er »den Versuch einer Selbst-Renaissance« unternehmen, und seine ehemalige Dresdner Mitschülerin aus seiner Lehrzeit bei Fräulein Schmiedel, Frau Jessie Laussot, die er hier findet, hilft ihm zum Gelingen. Die geistig bedeutende, hervorragend musikalische Frau, die Begründerin und Leiterin der Società Cherubini in der Arnostadt, von der Bülow rühmt, sie sei »ein weit besserer Kapellmeister als er«, nimmt sich aufs fürsorglichste seiner an. »Was wäre ich heute ohne Sie, ohne Ihre Freundschaft?« ruft er ihr an seinem Geburtstag am 8. Januar 1870 zu. »Einzig und allein Sie haben mir wieder Freude und Lust an der Tonwelt eingeflößt.«

Der »chrétien errant«, wie er sich nennt, gewinnt auch im Süden rasch Boden, den seine Freundin für ihn vorbereitet hat. Mit ihr vereint dirigiert er die Società Cherubini, läßt sich's angelegen sein, das Verständnis für deutsche Musik im Lande der Schönheit zu fördern. Die Aristokratie bemüht sich um seinen Unterricht; Konzerten, die er auf Einladung der Società del Quartetto auch auf Mailand ausdehnt, dankt ein ungeheurer Erfolg. Man trägt ihm die Leitung der Scala, der großen Mailänder Oper, an. In Petersburg begehrt man ihn an Rubinsteins Stelle. Auch die Direktion des Wiener Konservatoriums und der Konzerte der »Gesellschaft der Musikfreunde« steht ihm offen, ohne daß ihn eins dieser Anerbieten reizte. Hatte er doch auch schon früher den Vorschlag Pasdeloups, die musikalische Führung des Pariser Théâtre Lyrique zu übernehmen, abgelehnt, wie er später die »Diktatur« der Warschauer Oper und die Kapellmeisterschaft der Mannheimer Nationaloper, die er erst angestrebt hatte, zurückwies.

Während der Florentiner Zeit brachte Bülow seine schon erwähnte klassische Beethovenausgabe zum Abschluß. Nach Mitteilung Frau von Bülows äußerte Friedrich Nietzsche über diesen »Interpretationsversuch«, wie Bülow ihn nennt, »daß in der ganzen philologischen Literatur nicht ein Werk existiere, daß sich an Tiefe und kritischer Schärfe dieser Ausgabe an die Seite stellen könne«.

Die kritische Schärfe Bülows kennen zu lernen, bot sich Nietzsche noch andere Gelegenheit. Zum Dank für »den erhabensten Kunsteindruck seines Lebens«, den ihm Bülows Direktion des »Tristan« erschlossen hatte, sandte der Philosoph dem Musiker eine eigene Komposition, In des letzteren Antwort vom 24. Juli 1872 heißt es: »Ihre Manfred-Meditation ist das Extremste von phantastischer Extravaganz, das Unerquicklichste und Antimusikalischste, was mir seit lange von Aufzeichnungen auf Notenpapier zu Gesicht gekommen ist. Mehrmals mußte ich mich fragen: ist das Ganze ein Scherz, haben Sie vielleicht eine Parodie der sogenannten Zukunftsmusik beabsichtigt? Ist es mit Bewußtsein, daß Sie allen Regeln der Tonverbindung, von der höheren Syntax bis zur gewöhnlichen Rechtschreibung, ununterbrochen hohnsprechen? Abgesehen vom psychologischen Interesse – denn in Ihrem musikalischen Fieberprodukte ist ein ungewöhnlicher, bei aller Verirrung distinguierter Geist zu spüren – hat Ihre Meditation vom musikalischen Standpunkte aus nur den Wert eines Verbrechens in der moralischen Welt. Vom apollinischen Elemente habe ich keine Spur entdecken können, und das dionysische anlangend, habe ich, offen gestanden, mehr an den lendemain eines Bacchanals als an dieses selbst denken müssen. Haben Sie wirklich einen leidenschaftlichen Drang, sich in der Tonsprache zu äußern, so ist es unerläßlich, die ersten Elemente dieser Sprache sich anzueignen: eine in Erinnerungsschwelgerei an Wagnersche Klänge taumelnde Phantasie ist keine Produktionsbasis.«

Diese inoffizielle Kritik Bülows kennzeichnet seine kritische Art. Sie kommt naturgemäß in seinen Schriften zu Worte, von denen seine Gattin uns eine Auswahl vorgelegt hat [4]. Man suche in ihnen keine planvollen, methodischen Kundgebungen. Bunt zusammengemischt, Kinder jeweiliger Stimmungen, in ihrem Entstehen vielfach von der Laune des Zufalls oder dem Zufall der Laune bestimmt, sprechen sie zu uns. So widerruft der Autor selber in einem späteren Briefe an Verdi den Angriff, zu dem er sich, verstimmt durch »die ungerechtfertigt optimistischen Ansichten über italienische Kulturfähigkeit«, in seinem Artikel »Musikalisches aus Italien« gegen »den Verderber des italienischen Kunstgeschmacks«, »den Attila der Kehlen« hatte verleiten lassen. Einem inneren Bedürfen offenbar ist die warme Würdigung Tausigs entsprungen. Neben diesem edeln Denkstein erscheint vieles andere fragmentarisch. Es enthält Polemisches und Kritisches – vornehmlich aus der Zeit der Kämpfe um die neudeutsche Schule –, Theater- und Konzertberichte, Besprechungen neuer Kompositionen. Humoristische Reisebriefe aus den siebziger und achtziger Jahren schließen sich an. Geistig blitzt und wetterleuchtet es mehr oder weniger in allem, was Bülow sagt oder schreibt. An Wert und Bedeutung aber stehen die Briefe den Schriften weit voran. –

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Anmerkungen:

  1. Nach den »Bayreuther Blättern« vom Mai 1900 in H. v. Bülows Briefen V wiedergegeben.
  2. La Mara, Briefwechsel zwischen Liszt u. Bülow. Nr. 143. Leipzig, Breitkopf & Härtel 1898.
  3. H. v. Bülow, Briefe IV.
  4. Leipzig, Breitkopf & Härtel 1896.
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