Nächst Wagner und Liszt hat kein anderer Musiker in den letzten vier Jahrzehnten des vergangenen Jahrhunderts das allgemeine Interesse gleicherweise beschäftigt als Hans von Bülow. Mit beiden, den führenden Geistern der großen neuzeitlichen Musikbewegung, stand er in engster Fühlung. Als ihr tapferster Jünger, ihr schlagfertigster Kampfgenosse, schloß er sich ihnen an. Nicht wie sie war er ein schöpferischer Genius. Die Gottesgabe bildnerischer Kraft, gestaltender Phantasie hatte die Vorsehung, so reich sie ihn beschenkt hatte, an ihm gespart. Er war ein reflektiver, kein inspirierter Geist. Vor der blitzenden Schärfe seines kritischen Verstandes wichen die zarten Duftgebilde der Inspiration zurück. Nichts lag ihm ferner, als die Dämmerwelt der Träume, die der dichterischen Einbildung hold ist. Seine pointierte, alle Details erhellende Kunst verlangte das klare Tageslicht. Darum fand er zu den umschleierten Tongestalten Schumanns kein intimeres Verhältnis, während er der monumentalen Tonsprache Beethovens ihre tiefsten Geheimnisse ablauschte – wie dies in höherem Grade am Klavier nur Liszt, an der Spitze des Orchesters nur diesem und Wagner gegeben schien. Zum Denker, nicht zum Dichter, zum Meister der Analyse, der Reproduktion schuf Bülow die Natur. Als solcher war er ein Genie von eigenartiger, imponierender Größe, das künstlerisch erziehend auf die Mitwelt wirkte. Der erzieherische Zug seines künstlerischen Charakters ward, dank dem von seinem Meister überkommenen Wahlspruch »Génie oblige« für ihn bestimmend, und indem er dessen Ausübung zur Mission seines Lebens erhob, wurde er der größte musikalische Erzieher, den wir besessen haben.

Mit dieser an seine Persönlichkeit gebundenen und mit ihr dahingehenden großartigen erzieherischen Wirkung mußte er sich als Lebensresultat begnügen; denn die Werke, die er zurückließ, die literarischen wie die musikalischen – seine instruktiven Bearbeitungen klassischer Meisterschöpfungen, vor allem seine Beethovenausgabe ausgenommen – werden nicht weit in die Zukunft reichen. Die klavieristischen Meisterwerke aller Epochen trug er im Kopfe mit sich, jeden Augenblick bereit, die anspruchsvollsten Aufgaben von Bach bis zur Jetztzeit mustergültig zu lösen. Wäre er selbstschöpferisch gewesen, er hätte schwerlich diese Anpassungsfähigkeit an die verschiedensten Musikerindividualitäten besessen. Die fabelhafte Ausbildung seines Gedächtnisses gestattete ihm, dem souveränen Beherrscher seines Instrumentes, zugleich, die kompliziertesten dramatischen und symphonischen Tonschöpfungen auswendig zu dirigieren. Seine Technik war von nahezu unfehlbarer Sicherheit, seine Detaillierung aller Charakterzüge des vermittelten Stücks von durchsichtiger Klarheit, die Ausdauer seiner Nervenkraft um so bewunderungswürdiger, als er seine Leistungen einem schwach gebauten, durch und durch nervösen Körper abgewann. Mit ihm lag sein unbesiegbarer Wille lebenslang heroisch im Kampfe, zu beklagen war nur, daß dieser starke, aber exzentrische, sich in Extremen bewegende Geist sich selbst, wie den Idealen seiner Jugend und seiner Mannesjahre, nicht die Treue wahrte, daß er, sei es auch durch tragische Lebensverhältnisse aus seiner Bahn geworfen, in den letzten Jahrzehnten verleugnete, was ihm einst heilig gewesen, um plötzlich als Evangelium zu verkünden, was er bis dahin gering geschätzt hatte. So erlebten seine Zeitgenossen an ihm das Schauspiel, den leidenschaftlichsten Propagandisten des musikalischen Fortschritts aus einmal unter dessen Feinden zu finden, ihn beflissen zu sehen, einer sich historisch vollziehenden kulturellen Entwicklung innerhalb seiner Einflußsphäre Einhalt zu gebieten. Wie sehr er zum Reaktionär geworden war, wie weit er in seiner Aberkennung des einst als groß von ihm Erkannten ging, darüber haben uns mit unerbittlicher Deutlichkeit erst seine Briefe völlig aufgeklärt, denen wir nach dieser Seite hin eine minder ausgiebige Veröffentlichung gewünscht hätten.

Wie lange sein der Übertreibung wie dem Wechsel unterworfener Charakter seiner späten überschwänglichen Brahms-Verehrung standgehalten, ob eine verstimmende Erfahrung, eine schon aus seinen Briefen ersichtliche Enttäuschung sie nicht früher oder später verscheucht haben würde, wäre ihm ein längeres Erdendasein zugemessen gewesen – wer will es sagen? Bei Bülow bedeutete die Stimmung alles. Er hatte nicht nur Stimmungen, die Stimmungen hatten ihn. Daher war er der Mann der Überraschungen, daher erklären sich die Widersprüche in ihm. Edel und großsinnig bis zur Aufopferung, konnte er mitunter auch kleinlich sein. Immer zur Opposition aufgelegt, ja sie häufig als eine Art Sport betreibend, herausfordernd polemisch, sarkastisch, war er doch selbst leicht verletzt. »Hyperempfindlich« hat man seine »unbeherrschte Nervennatur« genannt, die, wie mit Elektrizität geladen, beständig nach Entladung zu dürsten schien. War doch sein ganzes Nervensystem überreizt, sein Herz wundgerieben. »Die Saiten meines Innern sind zerrissen, nicht nur verstimmt«, durfte er klagen. Zur Stunde von bezaubernder Liebenswürdigkeit, konnte er in der nächsten ätzende Schärfe zeigen, »Heute, ›zu Tode betrübt‹, morgen ›himmelhoch kalauernd‹ – das ist nun einmal mein unveränderlicher Charakter«, stellt er sich selbst als Zeugnis aus. Seine Gentlemansart hinderte ihn nicht an gelegentlichen Rücksichtslosigkeiten und schroffen Ausfällen. Sein aristokratischer Sinn schloß demokratische Ideen nicht aus. Seine schneidige Logik schützte ihn nicht vor sprunghaftem, explosiven Wesen. Tyrannisiert wurde er von seinem unwiderstehlichen sprühenden Witz. Einen seiner blitzenden Einfälle – gleichviel auf wessen Kosten er ging – zu unterdrücken, schien ihm unmöglich. Da schonte er keinen, andere so wenig als sich selbst. Mit der Vornehmheit seiner Natur vertrug sich ein gewisses Sensationsbedürfnis, mit seinem Wahrheitsdrang eine gelegentliche Pose, häufig auch etwas Geschraubtes im schriftlichen Ausdruck, wie die Gewohnheit, den besten Teil seines Wesens hinter einer Tarnkappe zu verbergen.

Charakteristisch schreibt ihm einmal hierüber Karl Hillebrand: »Du versteckst die gesunde Originalität und Kraft Deiner natürlichen Gedanken und Empfindungen unter allerlei weithergeholten bizarren Arabesken, Paradoxen, Spielereien usw., die dann die Esel für das Wirkliche halten, während das doch erst nach Abkratzen der Palimpseste zu finden ist. Warum aber machst Du ihnen so viel Mühe? Oder denkst Du, nur wir Eingeweihten brauchen zu wissen, was im Grunde ist?«

In Bülows Briefen – die freilich eben richtig verstanden sein wollen – wird uns ein lebendiges Selbstporträt überliefert. Sie lehren uns den Schreibenden unvergleichlich besser kennen, als was in Gestalt von Kompositionen oder kritischen Schriften seiner Feder entfloß. Als bedeutende Äußerungen eines großen eigenartigen Charakters, eines kraftvollen impulsiven Temperamentes und sprühenden Esprits, führen sie, zugleich auf die musikalische Zeitgeschichte helle Lichter werfend, uns durch seinen Lebens- und Leidensgang hindurch. Folgen wir diesem letzteren an der Hand seiner Briefe, die, von seiner Witwe, Frau Marie von Bülow, in sieben Bänden herausgegeben und durch einleitende und verbindende Erläuterungen und Mitteilungen zu einem zusammenhängenden Lebensbild gestaltet worden sind [1].

Hans von Bülow ging aus einem alten, in Mecklenburg-Schwerin ansässigen Adelsgeschlecht hervor, das in dem im Kreise Gadebusch gelegenen Gute Bülow seinen Stammsitz hat. Es führt, laut Heinrich Reimanns unvollendet hinterlassener Biographie des Künstlers [2], seinen Stammbaum bis in die zweite Hälfte des zwölften Jahrhunderts zurück, und zwar weist dieser die Abstammung Hans von Bülows von dem ältesten bekannt gewordenen Vorfahren: Ritter Gottfried von Bülow, nach. Der Großvater von Hans, Ernst von Bülow, trat als Major in sächsische Militärdienste. An den Feldzügen 1812 und 1813 beteiligt und in der Schlacht bei Smolensk verwundet, trug er den sächsischen Heinrichs- und den französischen Orden der Ehrenlegion davon. Beim Übergang der sächsischen Armee zu den Verbündeten nahm er, ein glühender Verehrer Napoleons, seinen Abschied. »Ihm war es unmöglich«, so lesen wir, »dem Sinkenden die Treue zu brechen und mit einer neuen Uniform zugleich eine neue Gesinnung anzunehmen.«

In Dresden, wo er bis an seinen Tod (1842) mit seiner Gattin lebte, ließ sich 1828 auch sein Sohn Eduard (1803-1853) als Schriftsteller nieder. Als solcher hat er sich vornehmlich durch Herausgabe des »Novellenbuchs« und einer Übersetzung von Manzonis »Promessi sposi« einen Namen von gutem Klaug erworben; doch war, wie später bei seinem Sohn, nicht die produktive, sondern die reproduktive Tätigkeit seine stärkste Seite. Er wurde, sich mit Franziska Stoll vermählend, die bei ihrer Schwester, der Kammerrätin Frege in Leipzig, eine Heimat gefunden hatte, der Vater des am 8. Januar 1830 geborenen genialen Musikers Hans. Die Gegensätze im Charakter beider Gatten: die phantastische, nervös unruhvolle Art Eduard von Bülows, die Reizbarkeit und leidenschaftliche Heftigkeit seiner Erwählten, seine freiheitlichen, ihre Ultrakonservativen Tendenzen, seine antiklerikale, ihre religiöse Richtung, die sie nach lebenslanger Vorliebe für den Katholizismus diesem schließlich noch als Achtzigerin zuführte, boten freilich für die Dauer ihres ehelichen Glücks geringe Gewähr. Dazu bedrohte die Ermangelung einer festen Lebensstellung des Mannes, die Unsicherheit und Unzulänglichkeit seiner Einnahmen, bei Unstetheit der Lebensführung und einem lebhaften Reisetrieb seinerseits von vornherein die häusliche Harmonie. Der gesellschaftliche Kreis, in dem sich das junge Paar bewegte, war ein anregender und erlesener. Der Freund Eduards: der Dichter Ludwig Tieck, Baron Lüttichau, der Intendant des Hoftheaters, und seine geist- und anmutvolle Gattin, Gräfin Hahn-Hahn, Graf und Gräfin Baudissin, der Physiolog Carus bildeten dessen hervorragendste Elemente.

Der Erstgeborene des Hauses – dem drei Jahre später eine Tochter, Isabella, später Gattin des preußischen Generalkonsuls in London Viktor von Bojanowski, folgte – war ein überaus schwächliches Kind, das am Leben zu erhalten man kaum hoffen durfte. Doch mußte er, wie die Herausgeberin der Briefe erzählt, frühzeitig anfangen zu lernen und mit vier Jahren schon seinem Vater allsonnabendlich sämtliche Specktersche Fabeln und allerlei Sprüchlein hersagen, auch bei der Mutter bald den Unterricht im Französischen beginnen. In der Schule kam er, wie später auf dem Gymnasium, bei aller Kränklichkeit seinen Pflichten so tüchtig nach, daß er die meisten seiner Mitschüler überflügelte. Von musikalischen Anlagen war bis zum neunten Jahre keine Spur bemerkbar. »Aber infolge einer gefährlichen Gehirnentzündung, der fünften, die das schwächliche Kind zu überstehen hatte [3], erwachte plötzlich seine Neigung zur Tonwelt, die sich, wie alles bei ihm, so energisch entwickelte, daß er im elften Jahre schon das Beethovensche C-moll-Trio mit Begleitung spielen konnte. Auch die Fertigkeit im Blattlesen war bei dem Kinde schon erstaunlich, doch dachte man nicht daran, ihn zum Künstler auszubilden, wenngleich sein musikalischer Fleiß und Eifer nicht minder bedeutend als sein Talent sich zeigte.« So belehrt uns Richard Pohl, der langjährige Freund Bülows, in einer biographischen Skizze, zu der er von letzterem selbst die Angaben empfing [4].

Den ersten Musikunterricht erteilte ihm der Violoncellist Kammermusikus Hänsel, der mit seiner Mutter häufig zu musizieren pflegte. Doch löste ihn 1841 die vortreffliche Lehrerin Fräulein Cäcilie Schmiedel ab. Mit einer Mitschülerin aus damaliger Zeit, Miß Jessie Taylor, später Frau Laussot und in zweiter Ehe die Gattin des bedeutenden Kulturhistorikers Karl Hillebrand, schloß der eifrige Musikjünger lebenslange Freundschaft. Nachdem sich Fräulein Schmiedel mit dem Sohn des Weimarer Hofkapellmeisters Eberwein verheiratet hatte, wurde Hans 1844 auch von diesem in Harmonie und Kontrapunkt unterwiesen, bis man ihn im darauffolgenden Jahre der Führung Friedrich Wiecks, des Vaters von Clara Schumann und Marie Wieck, übergab, was, nach Pohl, »seine künstlerische Ausbildung in kurzer Zeit sehr wesentlich förderte. Durch diesen trefflichen Meister wurde ihm jene seine Empfindung für äußerste Korrektheit des Vortrags eingeflößt, die Bülows Spiel in so seltenem Grade auszeichnet. Als H. Litolff zu jener Zeit sich in Dresden aufhielt, nahm Bülow – mit dessen Mutter der Künstler befreundet war – auch bei diesem einigen Unterricht. Hier war es der genialisierende Einfluß des Romantikers, der auf den jungen, damals fünfzehnjährigen Pianisten anregend wirkte«.

Reiche musikalische Eindrücke trugen ihm – wie schon die Briefe aus seiner Kinderzeit berichten – seine alljährlichen Ferienbesuche im Hause seines Onkels Kammerrat Frege in Leipzig ein. Dessen Sohn Woldemar, Professor der Rechte an der Universität, hatte die gefeierte Sängerin Livia Gerhardt heimgeführt und bewohnte nun mit ihr und seinen Eltern gemeinsam die Räume des gegenwärtig, gleich vielen ehrwürdigen Bauten Leipzigs, verschwundenen Familienhauses in der Bahnhofstraße, das damit zur bevorzugtesten Vereinigungsstätte der musikalischen Gesellschaft Leipzigs geworden war. Nicht nur, daß der kindliche Gast den poesievollen Gesang seiner Kousine Livia, der er später auch Lieder widmete, begleiten durfte, er wurde durch sie auch ihren nächsten Freunden, Mendelssohn und Clara Schumann, zugeführt, hörte sie spielen und mußte vor ihnen seine Künste zeigen. Mendelssohn studierte ihm sogar zwei seiner Stücke ein. Auch von Moritz Hauptmann, dem berühmten Theoretiker, erhielt er Unterricht, und viele bedeutende Künstler lernte er kennen.

Das große musikalische Ereignis seiner Jugend, das bestimmend in sein Leben eingriff, aber war die Erstlingsaufführung von Wagners »Rienzi« im Dresdner Hoftheater, der der Zwölfjährige am 20. Oktober 1842 beiwohnte. Von diesem Tage an wurde er, wie er selbst sagt, »Wagnerianer«. Schluchzend ward er sich – so erzählte er seiner Tochter, Frau Daniela Thode – nur des einen Gefühls bewußt, »sich diesem Manne unter die Füße zu werfen«. Im Mittelpunkt seines Interesses stand fortan Richard Wagner, der am 2. Februar 1843 in sein neues Amt als königlich sächsischer Kapellmeister feierlich eingeführt wurde. Zu welch nie wieder erreichter Höhe er die Dresdner Oper führte, der Wilhelmine Schröder-Devrient und Johanna Wagner, die Nichte Richards, Tichatschek und Mitterwurzer in der Vollkraft ihres Wirkens angehörten; zu welch ausgezeichneten Leistungen er die Kapelle befeuerte, dessen wurde der junge Hans ein begeisterter Zeuge. Die glanzvollen Darbietungen Gluckscher und Weberscher Opern, die Uraufführung des die ganze musikalische Welt in Aufregung versetzenden »Tannhäuser« am 19. Oktober 1845 durfte er als neue Kunstoffenbarungen in sich aufnehmen. Er hatte im Februar 1844 auch Liszt das Es-dur-Konzert von Beethoven spielen hören und seine Bekanntschaft nach einer »Rienzi«-Vorstellung, durch Lola Montez bei ihm im Hotel de Saxe eingeführt, gemacht. Zum höchsten Erlebnis aber gestaltete sich ihm Wagners großartige Leitung der neunten Symphonie Beethovens. Dem über alles verehrten Meister persönlich nahen zu dürfen, dahin ging nun sein glühendes Verlangen. Wie beneidete er seinen Schulfreunden Karl und Alexander Ritter – deren edelsinnige Mutter Wagner nachmals in Zeiten der Verbannung vor bitterster Not schützte – das Glück, ihn zu kennen! Und wirklich ward ihm, wie wir durch Pohl erfahren, die ersehnte persönliche Bekanntschaft zuteil, und es gelang ihm, ein Stammbuchblatt von Wagners Hand zu erlangen. Vom 29. Juli 1846 aus Groß-Graupe bei Pirna, Wagners damaligem Sommeraufenthalt, datiert, lautet es: »Glimmt für die Kunst in Ihnen eine echte, reine Glut, so wird die schöne Flamme Ihnen sicher einst entbrennen; das Wissen aber ist es, was diese Glut zur kräftigen Flamme nährt und läutert«. Dies Wort wurde zum Wahrspruch in Bülows Leben.

Mittlerweile war in seinem Elternhause der Entschluß gefaßt worden, im Herbst nach Stuttgart überzusiedeln. Seit Eduard von Bülow durch Berufung Tiecks nach Berlin im Jahre 1841 des unmittelbaren Umgangs mit seinem Freund verlustig gegangen war, wollte es ihm in Dresden nicht mehr behagen. Die Hoffnung, sich in der süddeutschen Residenz für seine literarische Tätigkeit lohnendere Aussichten eröffnet zu sehen, war es wohl, die ihn zur Wahl dieses Aufenthaltsortes bestimmte. Seine Frau und sein Sohn trennten sich schwer von den ihnen liebgewordenen Verhältnissen. Doch knüpften sich auch in ihrem neuen Wohnsitz rasch angenehme Beziehungen. Insbesondere wußte Hans sich den Verkehr mit Bernhard Molique, damaligem Hofkonzertmeister in Stuttgart, sowie mit Joachim Raff, dem er in lebenslanger Freundschaft verbunden blieb, nutzbar zu machen. Den Besuch des Gymnasiums fortsetzend, spielte und komponierte er eifrig. Mehrere seiner neuen Arbeiten sandte er Karl Ritter nach Dresden. Dieser gab sie Wagner zur Beurteilung. Bald darauf, im September 1847, ging ihm ein Paket Ritterscher Kompositionen und mit ihnen ein Brief Wagners zu. Darin schrieb ihm der angebetete Meister: »Ihre Arbeiten, lieber Herr von Bülow, haben mir viel Freude gemacht; ich wollte sie Ihrem Freunde Ritter nicht zurückgeben, ohne sie mit einem ermunternden Zuruf an Sie zu begleiten. Eine Kritik füge ich dem nicht bei. Sie werden auch ohne mich noch genug Kritik erfahren, und ich fühle mich um so weniger geneigt, Schwächen und Dinge, die mir nicht gefallen haben, aufzuzählen, als ich aus allem übrigen ersehe, daß Sie schon bald vollkommen imstande sein werden, Ihre früheren Versuche selbst zu kritisieren. Fahren Sie fort und lassen Sie mich bald wieder etwas sehen«.

Einige Monate später, am 1. Januar 1848, trat Hans in einem Abonnementkonzert der Hofkapelle zum Besten des Witwen- und Waisenfonds als Klavierspieler erstmals vor die Öffentlichkeit. Als erstes und einziges Stück trug er, ungezählten späteren Konzerten damit präludierend, eine Klavierphantasie Freund Raffs vor. Sechs Wochen darnach, am 14. März, spielte er wiederum in einem der Abonnementkonzerte, nun zum ersten Male mit Orchester, Mendelssohns D-moll-Konzert. Mit Glück bestand er darauf im April sein Abiturientenexamen. Noch im selben Monat bezog er die Universität Leipzig und damit für längere Zeit das gastliche Fregesche Haus, das ihn schon so oft beherbergt hatte, zu dem er gleichwohl in jener Zeit politischer und künstlerischer Gärung, bei seinen dem Fortschritt huldigenden Prinzipien, in immer unverhüllbareren Gegensatz gerät. Seine radikalen Regungen wie seine Wagnerbegeisterung werden gemißbilligt, sein Verkehr mit jungen gleichfühlenden Genossen eingeschränkt. »Rücksichten zwingen ihm das Leben eines Musterphilisters auf«. Er hört philosophische, geschichtliche und germanistische Vorlesungen und fühlt sich herzlich unglücklich. Zur Musik rief ihn die innere Stimme gebieterisch. Der starre Wille seiner seine künstlerische Begabung als etwas Nebensächliches betrachtenden Mutter aber forderte seine juristische Vorbereitung für das Verwaltungsfach oder für die diplomatische Laufbahn. Dem fügte er sich, ob auch schwer, doch gehorsam.

Zwischen seinen Eltern war indessen die Scheidung vereinbart worden. So kehrten denn Mutter und Tochter nach ihrer alten Heimat Dresden zurück, während der Vater sich nach Berlin wandte, wo sich ihm literarische Beschäftigung bot. Kurze Zeit nach der im Herbst 1849 erfolgten Scheidung vermählte er sich mit einer Freundin Franziskas, Gräfin Louise von Bülow-Dennewitz, der geist- und gemütvollen Tochter des aus dem Befreiungskriege bekannten Helden. Mit ihr lebte er in glücklichster Ehe und ward eines sorglosen Lebens froh. Die Beziehungen zu seiner ersten Gattin wurden in Frieden weiter gepflegt. Schloß Ötlishausen, ein kleines Gut, das sich die Neuvermählten im schweizerischen Thurgau erwarben, sah nicht nur Franziskas Kinder, Hans und Isa, sondern auch sie selbst unter seinen Gästen.

In das dritte Halbjahr der akademischen Studienzeit von Hans fällt der Dresdner Maiaufstand, der Wagner in die Flucht treibt und seinen jungen Verehrer darob in Sorge versetzt. Zu Liszt, Wagners Schutzgeist, unternimmt er zu Pfingsten einen Ausflug nach Weimar. Der große Meister empfängt ihn mit der ihn charakterisierenden Güte, läßt ihn spielen, läßt ein von ihm komponiertes Quartett zweimal bei sich aufführen, ermuntert ihn und spielt ihm selber vor. Bülow ist beglückt. »Er ist ein ganz vollkommener Mensch«, schreibt er der Mutter. »Liszts Spiel und sein Wesen haben mich vollkommen entzückt und begeistert«. In der Probe vom »Fidelio« ist er »ganz hingerissen von seiner bewundernswürdigen Direktion«. »Der langentbehrte Umgang mit zum Teil ausgezeichneten Künstlern, an der Spitze den Repräsentanten der Kunst, tut ihm unbeschreiblich wohl«. Dennoch bleibt es bei Fortsetzung des juristischen Brotstudiums. Zu diesem Zweck zieht er im Herbst 1849 nach Berlin, wohin Mutter und Schwester ihn für ein halbes Jahr begleiten. Aber der lang erduldete Zwang rächt sich. Seine Wagnerbegeisterung will sich Luft machen. Da sich ihm kein anderes Blatt öffnet, erblicken seine ersten schriftstellerischen Leistungen in einem demokratischen Organ: der »Abendpost«, in Gestalt von Berichten über Wagners neueste Züricher Schriften, sowie allerlei musikalische und literarische Besprechungen, das Tageslicht. Zum Glück läßt auch die endliche Befreiung des Musikers in ihm nicht lang mehr auf sich warten. Der »Lohengrin«, bei dessen denkwürdiger Erstaufführung durch Liszt in Weimar am 28. August 1850 er gegenwärtig ist, bringt ihm die Erlösung. Nun steht es in ihm fest, daß er nach beendigten Universitätsstudien sich der Musik in die Arme werfen müsse. Doch noch rascher kommt er ans Ziel. Bei einem Septemberbesuch in Ötlishausen überrascht ihn Wagners Vorschlag, »nächsten Winter unter seiner Leitung praktische Studien in Zürich zu machen und abwechselnd mit Ritter daselbst die Oper zu dirigieren«.

Schwere Kämpfe folgen. Vater wie Mutter verhalten sich ablehnend, obwohl Wagner und Liszt brieflich in überzeugendster Weise für Hans das Wort nehmen. Da macht ein Schreiben Wagners, das Karl Ritter Hans überbringt, allem Zögern ein Ende. Über Nacht ist Hans aus Schloß Ötlishausen entschwunden. Zu Fuß wandert er mit dem Freunde zwei Tage lang zu Wagner nach Zürich. Dem Vater, der, sein Ziel erratend, ihm nacheilt, wirft er sich zu Füßen und fleht ihn an, ihn Musiker werden zu lassen. Unter Vorbehalt des Einverständnisses Franziskas, erteilt dieser nun seine Zustimmung. Besänftigend schreibt Wagner im Oktober 1850 noch einmal an Eduard von Bülow und faßt sein Urteil über dessen Sohn schließlich in den Worten zusammen: »Ich muß es dahingestellt sein lassen, ob es Sie erfreut, wenn Sie jetzt durch mich erfahren, daß Ihr Sohn mich durch die Stufe, auf die er bereits als Künstler gelangt ist, wahrhaft überrascht hat, daß ich in ihm einen ganz außerordentlich befähigten und schnell entwickelten Künstler erkannt habe, und so große Hoffnungen auf ihn setze, daß ich – verzeihen Sie mir! – Ihre mir etwa zugezogene Ungeneigtheit für jetzt gegen den Gewinn dieser Hoffnung mit in den Kauf nehme, da ich weiß, daß auch diese Ungeneigtheit durch Gewährung des Erfolges sich gewiß verlieren wird. Ja, ich weiß, Sie danken mir einst ebenso sehr, als Sie Ihren Sohn lieben!«

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Anmerkungen:

  1. Leipzig, Breitkopf & Härtel, 1895-1908. Sein Briefwechsel mit Liszt, von La Mara herausgegeben, erschien ebenda 1898.
  2. Herausgegeben von Prof. Heinr. Meisner, Berlin, Harmonie 1908.
  3. So erzählte seine Mutter; die Ärzte bezweifelten jedoch nachmals die Richtigkeit dessen.
  4. Illustrierte Zeitung vom 29. Mai 1869.
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