Am 16. Oktober leitet Hans bereits mit bestem Erfolg, die erste Oper: »Die Regimentstochter«. Binnen zehn Tagen führt er viermal den Dirigentenstab im Züricher Theater. Mit Ritter zusammen erhält er monatlich 50 Gulden Gehalt. Sie wohnen vier Treppen hoch und frühstücken, um den teureren Kaffee zu sparen, eigenhändig zubereitete Wassersuppe. Ihr Mittagsmahl verzehren sie bei Wagner, dessen Frau sich liebevoll ihrer annimmt. Wiederholt tritt Bülow auch als Klavierspieler in Konzerten auf. An einem Theaterstreit scheitert jedoch schon im Dezember die Weiterführung der begonnenen Tätigkeit. Mit ihm zugleich tritt Wagner von der Oberleitung zurück. In St. Gallen aber bietet sich alsbald Ersatz. Hier arbeitet er selbständig als Musikdirektor, trotz eines aus Dilettanten zusammengesetzten Orchesters, tapfer bis zu Ablauf der Saison fort. »Er hat fast aus nichts eine Oper geschaffen«, berichtet der erfreute Vater nach einem Besuch, bei dem er den »Freischütz« gehört hatte. »Hans dirigierte, ohne die Partitur anzusehen, in jeder Beziehung als Meister«.

Die Mutter aber zürnte. Vergebens rechtfertigt sich Hans der Schwester gegenüber! »Daß ich die größte künstlerische Erscheinung unseres Jahrhunderts und vielleicht noch von hoher welthistorischer Bedeutung erkannt habe, hat in mir Ambition, Selbstgefühl, Lebenstrieb geweckt. Es wurde mir klar, daß ich ein Geisteigener dieses Mannes sein könnte, sein Schüler, sein Apostel zu werden vermöchte, und mit einem solchen Ziele schien mir das Leben lebenswert«. Erst als Hans – nachdem er in einem Züricher Konzert, in dem Wagner die Eroica aufführt, die Lisztsche Bearbeitung der »Tannhäuser«-Ouvertüre gespielt – seine St, Gallener Tätigkeit abgeschlossen hat, wendet sich Franziska ihrem Sohne wieder zu.

Nach Weimar wies ihn Wagners Rat, damit er bei Liszt seine pianistische Ausbildung vollende. Dorthin führte ihn im Juni 1851 sein Weg. Er kam zur rechten Zeit, um der musikalischen Glanzepoche froh zu werden, mit der Liszts Genius der klassischen Musenstätte ein reichliches Jahrzehnt hindurch zu dem seltenen Glück einer zweiten Hochblüte verhalf. Dank Liszt ward Weimar der Ausgangspunkt der großen musikalischen Bewegung, die sich an seinen und Wagners Namen knüpft. Staunend blickte man auf Liszts epochemachende, neue Kunstideale verkündende Wirksamkeit als Orchesterleiter im Konzert und Theater, als Begründer einer großen Pianistenschule, wie als Tonschöpfer, auf sein beispiellos kühnes Eintreten für die angefeindeten Wagner und Berlioz, für die noch vielumstrittenen Schumann, Chopin, Franz, für die noch unbekannten Raff, Cornelius, Rubinstein, Lassen und andere. Wer den Flügelschlag einer neuen Zeit rauschen hören, ihren lebendigen Odem spüren wollte, kam herbei. Wo sah die Welt ein ähnliches Zusammenströmen edler Geister aus allen Gebieten des Wissens und der Kunst, aller Größen der Zeit, Männer und Frauen, wie damals in den Tagen der Weimarer »Altenburg«, des weltberühmten Musenhofes Liszts und der Fürstin Wittgenstein? Wie hatte nicht auch Hans von Bülow, der Mitbewohner der Altenburg, sich elektrisiert fühlen müssen, da er sich in diesen hochgestimmten Kreis aufgenommen sah? Liszt zieht ihn an sich, er beschäftigt sich mit seinem Spiel, seinen Kompositionen, »Ich bin auf der Altenburg à peu près erster Minister«, schreibt er im März 1852 seiner Mutter. Seine Devise ist »honnête et exalté«. Er lernt den ihn besonders anziehenden Berlioz und ungezählte bedeutende Künstler und Menschen kennen. Dionys Pruckner, Karl Klindworth, Alexander Winterberger, Hans von Bronsart, später Peter Cornelius, Tausig sind seine Mitschüler. Den Stuttgarter Freund Raff findet er wieder, mit Joachim, dem jungen Konzertmeister der Hofkapelle, wie mit deren Solovioloncellisten Coßmann schließt er sich eng zusammen. Er findet Schülerinnen, erregt als Mitarbeiter an Brendels »Neuer Zeitschrift für Musik«, vornehmlich durch seine Polemik gegen die Liszt- und Wagnerfeindlichen »Grenzboten« und einen etwas hahnebüchenen Angriff auf Henriette Sontag, Sensation und debütiert am 22. Juni 1852 bei Gelegenheit des von Liszt geleiteten Musikfestes in Ballenstedt mit dem Klavierpart von Beethovens Chorphantasie vor einer größeren Öffentlichkeit.

Im Februar des folgenden Jahres erteilt ihm sein Meister den Reisesegen. Doch ungeachtet der zahlreichen Empfehlungsbriefe, die er ihm nach Österreich auf den Weg gibt, und in deren einem es heißt: »Ich erblicke in ihm meinen legitimen Nachfolger, meinen Erben von Gottes und seines Talentes Gnaden«, bringen die ersten im März in Wien gegebenen Konzerte seinem Schützling nur bittere Enttäuschungen: leeren Saal, kargen Beifall, ungünstige Kritiken, erhebliche Kosten. Bülows Briefe zeigen ihn in verzweifelter Lage. Erfreulicher verlief sein Auftreten in Preßburg und Pest, – aber auch hier ließen ihn die gehofften Einnahmen im Stich. Bedeutende Erfolge erspielte er sich erst im September im Dresdner Hoftheater, sowie bei dem von Liszt dirigierten Karlsruher Musikfest, obwohl er durch den kurz zuvor erfahrenen Tod seines Vaters in schmerzlichste Erregung versetzt worden war.

Die festlichen Karlsruher Tage erhielten noch ein besonders festliches Nachspiel durch einen Ausflug nach Basel, wo Liszt ein Zusammentreffen mit Wagner verabredet hatte. Dahin gaben ihm die Fürstin Wittgenstein und ihre Tochter Prinzessin Marie samt Bülow, Joachim, Cornelius, Pruckner, Reményi und Richard Pohl das Geleite. Wagner las ihnen seine »Walküre« vor. Sein von den Damen erbetener Vortrag auch der übrigen Teile der »Nibelungen«-Dichtung erfolgte erst in Paris; denn er hatte die Bedingung daran geknüpft, daß sie an der von ihm und Liszt beabsichtigten Reise dahin teilnahmen. Damals kreuzte die jugendliche Cosima Liszt, seine nachmalige Gattin, zum ersten Male die Wege des Dichterkomponisten. Bülow mit seinen Gefährten wandte sich nach zwei in Basel genossenen »schönen Tagen, wo Liszt mit ihm in Kirschwasser Brüderschaft trank«, heimwärts.

Angemessene Schätzung seiner Künstlerschaft begegnete ihm im Norden Deutschlands, wo man ihn im Winter 1853-54 in Berlin, Bremen, Hamburg, Braunschweig kennen lernte. Kurze Zeit ließ er sich dann im nächsten Winter das Amt eines Vorspielers und Musiklehrers in einem polnischen Grafenhause in Chocieszewice in der Provinz Posen aufbürden. Doch entschlüpfte er ihm schnell; denn kaum ließ er sich im Dezember wieder in Berlin hören, als ihn der Theoretiker Marx mit richtigem Blick als »Klavierspielprofessor« für das von ihm und Julius Stern geleitete Konservatorium gewann, dessen Mitbegründer Theodor Kullak sich von ihnen trennte. Damit hat Bülow, wie er sagt, »nun endlich den einen Fuß in den Steigbügel hineingebracht«. Im April 1855 tritt er seine Lehrtätigkeit an. Schon im Mai erhält er die Aufforderung der Prinzessin von Preußen, ihrer Tochter Prinzessin Luise – der nachmaligen Großherzogin von Baden – während ihres Berliner Aufenthaltes täglich eine Klavierstunde zu geben. »Die Prinzessin-Mutter«, schreibt er, »hat mich mit Liebenswürdigkeit überhäuft – mir zu Ehren eine Matinee bei sich veranstaltet, weil sie gefunden, ›daß ich noch zu wenig bekannt in Berlin sei und daher bekannter zu machen‹, – und zu dieser Matinee eine große Anzahl anderer Hoheiten mit deren Gefolge gebeten, auch künstlerische Größen wie Meyerbeer, den Hofmaler Hensel usw.« Auch die Herzogin von Sagan lädt ihn ein, bei Gelegenheit eines Besuchs des Prinzen und der Prinzessin von Preußen zu ihr nach Sagan zu kommen und dem Prinzenpaar vorzuspielen. Vorbei ist nun die Zeit der schweren Sorgen, und vor seiner Tür steht wenn auch nicht das Glück – für das seine Natur nicht angelegt ist –, so doch der Ruhm.

Neun Jahre lag Bülow der übernommenen Lehrtätigkeit ob. Er blieb ihr treu, auch als Marx aus der Direktion des Konservatoriums ausschied, diese Stern allein überlassend. Tief und groß erfaßte er seinen Lehrberuf. Mit welcher Gewissenhaftigkeit er ihn ausübte, dafür erbringen die Berichte und Zeugnistabellen, die seine Gattin dem dritten Briefband beifügte, einen imponierenden Beleg. Die Genauigkeit und Klarheit, die jede seiner Darbietungen am Flügel wie im Orchester auszeichnete, zeitigte, in Verbindung mit seiner hohen geistigen Potenz, auch bei seinem Unterricht so ersichtliche Früchte, daß alle, die ihn genossen, freudig bekennen, wieviel sie ihm danken.

Selbstverständlich blieb Bülows Arbeitsfeld nicht auf das Lehren beschränkt. Auch auswärts vielfach auftretend, veranstaltete er mit Laub und Wohlers Triosoireen, in denen er den Berlinern allerhand Neues zu kosten gab und mit Liszts H-moll-Sonate seine neudeutsche Propaganda begann. Zuvor schon hatte er Stern veranlaßt, in seinen Orchesterkonzerten mit einem »aufrührerischen« Liszt-Abend (Dezember 1855) vorzugehen, in dem »Préludes- und »Tasso« samt dem 13. Psalm und einem Ave-Maria vorgeführt wurden und Bülow das Es-dur-Konzert spielte. Dies letztere glanzvolle Stück, dessen Hauptthema Liszt scherzend die Worte unterlegte: »Das versteht ihr alle nicht!«, wurde eins der Schlachtrosse Bülows, mit dem er an exponierter Stelle, wie im Leipziger Gewandhaus, als Liszt am 26. Februar 1857 seine symphonischen Dichtungen »Préludes« und »Mazeppa« dirigierte, und bei dem vom Meister geleiteten Aachener Musikfest im Juni 1857 debütierte, um es weiter unzählige Male hören zu lassen.

Damals nahmen die Preßfeldzüge Bülows ihren Anfang. Da seine Leistungen unanfechtbar waren, griff man die Komponisten an, deren Schöpfungen er Gehör verschaffte. Der bei fortwährendem Kränkeln doppelt reizbare junge Heißsporn blieb, mit scharfer Zunge und spitzer Feder bewaffnet, die Antwort nicht schuldig. Herausfordernd bezeichnete er die Berliner Kritik (unter Anspielung auf Wüerst, Engel, Gumprecht) als »lahm, bucklig und blind«. Als dagegen Wilhelm Rust, der als erste Bachautorität anerkannte langjährige Herausgeber der großen Bachausgabe und spätere Leipziger Thomaskantor, bei Besprechung eines Bachvortrags von Bülow verschiedenes ausgestellt hatte, besuchte letzterer ihn sofort und bat, ihm eine Anleitung zum richtigen Nachspiel zu geben, die ihm bereitwilligst erteilt wurde [1]. Daß der mit seiner Kunst ganz in Bach wurzelnde Rust es vor mehr denn fünfzig Jahren mit seinen Idealen vereinbar fand, dem von seinen Berliner, Leipziger und Allerwelts-Kollegen verfemten Tonschöpfer Liszt warmes Verständnis entgegenzubringen, ihm sogar eine Sonate: »Beethoven« zuzueignen, soll ihm unvergessen bleiben, wie sich überhaupt die Musik gelehrten Berlins, Weitzmann, Dehn, Marx, gleich dem Königsberger Louis Köhler und dem Prager Ambros, am ehesten zu Liszt bekannten.

Sowohl durch Klavierabende, in denen Bülow – wie sein Meister Liszt dies zuerst gewagt hatte – das mit Vorliebe historisch angeordnete Programm allein bestritt, als in Orchesterkonzerten, die er veranstaltete, war er mit äußerster Selbstlosigkeit bemüht, den Hauptvertretern der verpönten Zukunftsmusik, Berlioz, Liszt, Wagner, Boden zu gewinnen. Der heftigen Opposition, die ihm dafür lohnte, wußte er, wenn auch nicht eben in gemäßigter Weise, zu begegnen. Als in einem seiner Orchesterkonzerte, am 14. Januar 1859, nach Liszts symphonischer Dichtung »Die Ideale« – wie früher an gleicher Stelle nach Wagners »Faust-Ouvertüre« – Zischlaute hörbar wurden, »trat«, wie seine Mutter schreibt, »zu unser aller Entsetzen Hans ganz vor ans Orchester und sprach laut: ›Ich bitte die Zischenden, den Saal zu verlassen, es ist hier nicht üblich, zu zischen‹ ... Man erwartete eine Explosion, die jedoch nicht erfolgte.« In der Presse aber ging ein Sturm los. Wohl schwieg, als in einem späteren Konzert Bülows, am 27. Februar, Liszt selbst sein Werk dirigierte, jede Opposition, ja das Publikum war, laut Franziska von Bülow, begeistert. Selbst die Freunde Bülows aber konnten ihr Bedenken gegen sein Vorgehen nicht unterdrücken. Tausig schrieb damals an Liszt: »Ich muß gestehen, sein Benehmen war mir etwas zu revoltierend, und ich hatte es für viel würdiger seinerseits gefunden, wenn er die Leute hätte zischen lassen ... Diese Schroffheit verdirbt alles«. [2] Auch Pauline Biardot, die Liszt befreundete große Sängerin und seine einstige Schülerin, ließ einen Mahnruf an den Meister ergehen. »Ich bin glücklich«, schreibt sie ihm am 14. März 1859, »daß Sie selbst der Aufführung Ihrer ›Ideal‹ in Berlin präsidiert haben. Ich zweifle nicht, daß das Publikum alles, was Sie ihm in eigener Person darbieten, stets günstig aufnehmen wird, – aber ich bin immer in Sorge, sobald Hans von Bülow und die anderen Fanatiker sich damit befassen. Überspannt, unduldsam, ja bis zur Grobheit heftig, wie sie oft sind, bringen sie der Sache, der sie nützen wollen, nur den größten Schaden. Skandalszenen, die sie hervorrufen, geben ihrer Person etwas Lächerliches, das unwillkürlich dann auf ihre Sache, also die Ihre, zurückfällt«. [3]

Zu jener Zeit schon stand Bülow auf der Höhe pianistischer Meisterschaft, Über sich sah er nur den Unerreichbaren: Liszt, neben sich – da Tausig noch inmitten seiner Sturm- und Drangjahre stand – nur Rubinstein. Diesen, seinen Rivalen, wußte er, dessen vornehme Natur den Neid nicht kannte, hoch zu schätzen. »Rubinstein ist eine gewaltige Individualität und ein großer Kolorist«, schreibt er einmal, und ein andermal an Frau Jessie Laussot: »Glauben Sie mir, mit Ausnahme einiger Werke von Beethoven und anderer höre ich ihn mit mehr (objektivem) Genuß selbst falsch spielen als mich selber richtig. Temperament bleibt doch die Hauptsache, physische Kraft ist auch nicht zu verachten. Wenn ich mich maßvoller, kaukasischer aufführe, so ist das nécessité, nicht vertu.« Nach Liszts Tode war Bülow der vollendetste Virtuos der Welt. Unfehlbare Technik im Dienst des gebildetsten musikalischen und ästhetischen Geschmacks, tiefe Durchdringung aller Charaktere und Stilarten, phänomenales Gedächtnis wiesen ihm die klavieristische Führerrolle zu. Er selbst verschwand hinter dem Kunstwerk; nur um dessen vollkommene Darstellung war es ihm zu tun. In bezug auf ihn schrieb uns Liszt am 25. Oktober 1871: »Seine vollendete Meisterschaft als Virtuos – im schönsten Sinne des Wortes – steht im Zenit. Für ihn paßt Dantes Ausdruck: ein Meister derer, die wissen.«

Mittlerweile hatte sich in Bülows Leben eine wichtige Veränderung vollzogen. Seit dem Herbst 1855 hatte seine zurzeit in Berlin lebende Mutter auf Ersuchen Liszts dessen beide bisher in Paris erzogene Töchter zu ihrer weiteren Ausbildung in ihr Haus genommen. Hans war ihr Lehrer im Klavierspiel. »Diese wunderbaren Mädchen«, bekennt er am 13. Juni 1856 seiner Freundin Frau Laussot, »tragen ihren Namen mit Recht, – voll Talent, Geist und Leben sind sie interessante Erscheinungen, wie mir selten vorgekommen. Ein anderer als ich würde glücklich sein, mit ihnen zu verkehren. Mich geniert ihre offenbare Superiorität, und die Unmöglichkeit, ihnen genügend interessant zu erscheinen, verhindert mich, die Annehmlichkeit ihres Umgangs so zu würdigen, wie ich es möchte.« Ein Jahr später, am 18. August 1857, stand er mit Cosima Liszt, der jüngsten der Schwestern, am Altar der Hedwigskirche in Berlin. Drei Tage zuvor schrieb er an Liszt! »Unmöglich vermag ich Ihnen die Gefühle der Dankbarkeit und Ergebenheit auszusprechen, die mich beseelen, wenn ich des Glückes gedenke, das ich Ihnen von neuem danken soll, wie ich Ihnen ja alles verdanke, was sich in meinem Leben, das ich von Weimar an datiere, Glückliches ereignet hat«.

Auf ihrer Hochzeitsreise nach dem Genfer See besuchten sie Richard Wagner in Zürich und wohnten bei ihm. »Ich wüßte wirklich nichts zu nennen«, steht in einem Briefe Bülows an Stern zu lesen, »was mir solche Wohltat, solche Erquickung gewähren könnte, als das Zusammensein mit dem herrlichen, einzigen Manne, den man wie einen Gott verehren muß. Aus aller Misere des Lebens taue und tauche ich auf in der Nähe dieses Großen und Guten.« Und in einem Schreiben an Brendel: »Wagner ist ein einziger Mensch! Ein so erstaunlicher produktiver Reichtum! Die Nibelungen, wie ich sie jetzt durch ihn kennen lerne, sind ein Werk, von dessen Erhabenheit man sich kaum einen Begriff nach den früheren Opern bilden kann, ein Werk, das, ich möchte sagen, in kommende Jahrhunderte hineinragt. Und dieser gigantische Humor!«

Liszts ältere Tochter Blandine vermählte sich im Oktober desselben Jahres in Florenz mit dem Pariser Advokaten und nachmaligen Minister Napoleons III. Emile Ollivier, wurde ihrem ehelichen Glück aber durch einen frühen Tod im September 1862 entrissen. Auch das jüngste der Geschwister, der dem Rechtsstudium in Wien obliegende, reichbegabte Daniel, erlag im Dezember 1859 im Hause seiner Schwester, Frau von Bülow in Berlin, einem Brustleiden.

Wagner nennt in einem Brief an Eliza Wille [4] vom 9. September 1864 die Ehe, die »die junge, ganz unerhört seltsam begabte Frau, Liszts wunderbares Ebenbild«, mit Bülow geschlossen hatte, »eine tragische«. Sie wurde zwölf Jahre später gelöst, und Cosima von Bülow, die vom Vater wie vom Gatten gelehrt worden war, in unbegrenzter Verehrung zu Wagner aufzublicken, wurde die Gefährtin des Einsamgewordenen, der mit ihr vereint die Verwirklichung seiner menschlichen wie künstlerischen Ideale erleben durfte.

Doch greifen wir dem Gang der Ereignisse nicht weiter vor! Noch sehen wir Bülow in »der Knechtschaft der Berliner Sandmetropole«. Zwischen Unterrichten und Konzertieren teilt sich sein Wirken. Der Kampf währt fort, aber die Anerkennung steigert sich. Seine geistige Bedeutung macht sich auch außerhalb der Kunstkreise geltend. Unter den Ersten der Zeit sieht er seine Freunde. Dauernd erfreut er sich der Gunst der Prinzessin von Preußen, der späteren deutschen Kaiserin. Er spielt viel bei Hofe und empfängt 1858 das Prädikat eines königlich preußischen Hofpianisten, dem sich einige Jahre darauf der philosophische Doktortitel – eine Auszeichnung seitens der Universität Jena – gesellt. Orden schmücken ihn, wie er sie. Überall begehrt man ihn zu hören. Zu seinen Soireezyklen, seinen Beethoven-, Schubert-, Schumann-, Chopin-, Liszt-Abenden drängt sich die Welt. Er entzückt in Leipzig, Dresden, Löwenberg – wo er beim Fürsten Hohenzollern-Hechingen ein erwünschter Gast ist –, in Prag, Wien, Weimar – bei der dortigen Tonkünstlerversammlung 1861 dirigiert er Liszts »Faust-Symphonie« auswendig –, in Stuttgart, Karlsruhe und allerorten in Deutschland, wie er in Paris – wo er den »Tannhäuser«-Skandal mit erlebt –, in Brüssel, Amsterdam, Petersburg, Moskau Begeisterung und Lorbeeren erntet. Die Eisenbahnfahrten benützt er dazu, Musikstücke lesend auswendig zu lernen, um sie dann »inwendig«, wie er sagt, zu spielen. In Berlin übernimmt er 1863 auch die Leitung der Konzerte der unter dem Protektorat des Fürsten von Hohenzollern neubegründeten »Gesellschaft der Musikfreunde«. Er legt sich ein erdrückendes Übermaß von Verpflichtungen auf. »Ich komme nicht zum Schaffen in dieser Atmosphäre«, klagt er schon im Oktober 1859 dem Freund Cornelius, und an andrer Stelle: »Das verwünschte Klavierspiel, das viele Lektionieren macht mich produktionsunfähig«. Auch in einem späteren, an uns gerichteten Schreiben sagt er: »Virtuos und Komponist können nicht Arm in Arm ernste Kritik in die Schranken fordern«. Hätte gleichwohl ein heiliges Muß in ihm gesprochen, er würde seinem Schöpferdrang Raum geschafft haben.

Daß ein Musiker von so glänzendem Geiste wie Bülow nur Geistvolles, Apartes, formsicher Gestaltetes hervorbringen konnte, versteht sich von selbst. Aber seinen Herzschlag vernehmen wir selten in dem von ihm Geschaffenen. Er selber sagt freilich: »Im Grunde gibt's doch keine andere als Verstandesmusik. Die ›Phrase‹ kommt aus dem Gefühl; Gemüt heißt Gedankenlosigkeit.« Seine künstlerische Persönlichkeit kommt weniger melodisch als in gewählter Harmonik zum Ausdruck. Der Wille mehr denn innere Notwendigkeit erscheint bei ihm als treibende Kraft. Darum interessiert, was er gibt, den Musiker, ist es dem musikalischen Feinschmecker eine willkommene Gabe, indes der laienhafte Hörer den zündenden Funken vermißt, der ihn packt. So konnte er als Tonschöpfer nicht populär werden.

»Bülow«, sagt Louis Köhler in einer Besprechung des Klavierstücks »Innocence« [5], ist als Komponist zu schwer verständlich und spielbar, zu ungewöhnlich – niemand spielt ihn. Seine Kompositionen sind in der Tat, auch wenn sie leicht sind, schwer, auch wo sie klar sind, nicht unmittelbar verständlich, und ungewöhnlich auch dann, wenn sie gewöhnlich sind, – die Worte leicht, klar, gewöhnlich, nämlich vom Standpunkte des Herrn von Bülow selbst genommen. Er gehört zu den musikalisch schaffenden Rittern vom Geiste, wie er sich auch nur mit dem Apartesten befaßt und nichts Leichtes, Gewöhnliches zu erdenken vermag. Er verwendet in seinen Kompositionen eine Art geistig destillierten harmonischen Materials, das schon an sich das Interesse auf sich zieht. Es sind dies Erzeugnisse, in welchen selbst die harmonische Spekulation in allerlei fein gesuchten und gefundenen Details ihre Art von Genuß gewährt, aber den besonderen Gusto freilich bei den Spielern voraussetzt.«

Bülows op. 1 ist ein Liederwerk, ebenso sein op. 5 und 8, obgleich er seiner Meinung nach »nicht über eine lyrische Ader verfügen kann«. In op. 1 tritt aus der Reihe der übrigen, die – von der freieren Modulation abgesehen – mehrfach an Schumann und Franz anklingen, das eigenartige, überaus zart gestimmte zweite Lied: »Wie des Mondes Abbild zittert« hervor, dessen leise Sechzehntelbegleitung wie Silberstrahlen über den Wogen zu zittern scheint. In op. 5 reichen wir dem von der Palme träumenden »Fichtenbaum«, nächst ihm dem melodischen »Wunsch« und dem warm empfundenen »Volkslied« den Preis.

Zwei Werke, op. 15 und 29, eignete Bülow gemachtem Chore zu. Die ersten fünf a cappella-Gesänge sind vorwiegend polyphon gehalten. Auf Popularität sind sie schon ihrer nicht leichten Modulation halber nicht angelegt. Am ehesten dürfte sich das »Osterlied« op. 29 Freunde erwecken.

Zwischen den ersten Vokalwerken stehen Klavierkompositionen im vornehmen Salongenre. Der brillante Klaviersatz, die instrumentalen Effekte verraten die Virtuosenhand, der sie entstammen. »Die Rêverie op. 7 gehört zu den hervorragendsten Produkten der modernen Klavierliteratur im gediegensten Sinne«, rühmen die Wiener »Blätter für Theater und Musik«. Die 1859 erschienene »Mazurka-Fantasie« op. 13, ein feines Werk im Chopin-Lisztschen Geiste, zeichnete Liszt durch eine »prachtvolle« Orchesterbearbeitung aus. In ihr und dem Impromptu »Elfenjagd« op. 14 sah der Komponist selbst »einen sehr bedeutenden Fortschritt«, nachdem er sein op. 11, eine Leidenschaft atmende Ballade, – Louis Köhler gegenüber – als »seine bis dato erträglichste Arbeit« bezeichnet hatte. Eleganz und Pikanterie geben »drei charakteristischen Walzern« op. 18 das Gepräge. Als moderner Musiker geht Bülow aufs Charakterisieren aus. Seine Musik soll nicht nur klingen, sie soll auch etwas bedeuten, etwas sagen. Bezeichnend ist die Benennung seiner Stücke, die sich genau mit dem Inhalt deckt. Man sehe daraufhin nur die erwähnte leicht und luftig dahinhuschende »Elfenjagd« oder die graziöse »Lacerta« op. 27 an.

Verschiedene Arbeiten größerer Form: ein Quartett, das Liszt 1851 in Weimar spielen ließ, ein Klaviertrio, eine Sonate, von denen seine Briefe sprechen, hat ihr Schöpfer der Öffentlichkeit vorenthalten. Zwei Duos für Klavier und Geige, die er mit dem damaligen Weimarer Konzertmeister Edmund Singer für Konzertzwecke verfaßte und vortrug, gab er, gleich mancher seiner Arbeiten, keine Opuszahl auf den Weg. Seine numerierten Werke hat er überhaupt nicht über 30 gebracht.

Läßt Bülows Klaviersatz Liszt als sein Vorbild erkennen, so deutet sein Orchestersatz mehr auf Berlioz hin. Dem Orchester schenkte er eine Ouvertüre und einen farbenglänzenden Marsch zu Shakespeares »Julius Cäsar« op. 10, eine Huldigung für Napoleon III. Später fügte er noch Zwischenaktsmusik hinzu. Mit dem Trauerspiel erschien Bülows Musik in München und Pest auf der Bühne, erlebte aber, während sie an letzterem Ort gefiel, an ersterem – wie der Komponist uns schrieb – »beim großen Publikum kaum einen succès d'estime«. Er fällte später selbst in einem Briefe an Raff das wohl nicht gerechtfertigte Verdammungsurteil: »Cäsar war unreif und ist nun – faul«.

Vier Charakterstücke für Orchester op. 23 sind geistreich kombinierte Musik. Sie bekunden die fertige Hand wie die Noblesse dessen, der sie schuf. Zündstoff fürs Publikum enthalten sie nicht.

Die vornehmste Stelle unter des Künstlers Orchesterwerken behaupten die Orchesterphantasie »Nirwana« op. 20 und die Ballade »Des Sängers Fluch« op. 16. Liszt bezeichnete erstere uns gegenüber als »ein äußerst interessant gearbeitetes, mit merkwürdiger Logik konstruiertes Werk«. Beim Hören wirkt es in seinem reflektiven Grundcharakter, in dem Grau in Grau seiner Färbung tief niederdrückend. Es will die Tragik des menschlichen Daseins zum Ausdruck bringen. Kein Lichtblick erhebt uns, kein Aufschwung, kein wohltuender Kontrast belebt diese bei allem Dissonanzenreichtum eintönige Düsternis, die Ausgeburt eines verzweifelten Pessimismus. Der Komponist selbst nennt Nirwana »einen Selbstmordversuch in Tönen«.

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Anmerkungen:

  1. Nach Mitteilungen Rusts an d. Verf.
  2. La Main, Briefe an Liszt. II. Nr. 128, Leipzig, Breitkopf & Härtel.
  3. A. a. O. Nr. 136.
  4. »Fünfzehn Briefe von Richard Wagner.« Berlin, Gebr. Paetel, 1894.
  5. Signale 1879, Nr. 25.
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