Wo man singet, lass dich ruhig nieder

Wo man singet, da lass dich ruhig nieder dichtete Johann Gottfried Seume 1804.

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Musiknoten zum Lied - Wo man singet, lass dich ruhig nieder

Wo man singet, da lass dich ruhig nieder,
ohne Furcht was man im Lande glaubt;
wo man singet, wird kein Mensch beraubt,
böse Menschen haben keine Lieder.

Mit Gesange weiht dem schönen Leben
jede Mutter ihren Liebling ein,
trägt ihn lächelnd in den Maienhain,
ihm das erste Wiegenlied zu geben.

Mit Gesang eilet in dem lenze
rasch der Knabe von des Meisters Hand,
und die Schwester flicht am Wiesenrand
mit Gesang dem Gaukler Blumenkränze.

Mit Gesang spricht des Jünglings Lieb',
was in Worten unaussprechlich war,
und der Freundin Herz wird offenbar
im Gesange, den kein Dichter schrieb.

Männer hangen an der Jungfrau Blicken;
aber wenn ein himmlischer Gesang
seelenvoll der Zauberin gelang,
strömt aus ihrem Strahlenkreis Entzücken.

Mit dem Liede, das die Weisen sangen,
sitzen Greise froh vor ihrer Tür,
fürchten weder Lanzen noch Visier;
vor dem Liede beben die Tyrannen.

Mit dem Liede greif der Mann zum Schwerte,
wenn es Freiheit gilt und Fug und Recht,
steht und trotzt dem eisernen Geschlecht
und begräbt sich dann im eignen Werte.

Wenn der Becher mit dem Traubenblute
unter Rosen uns're Stunden kürzt,
und die Weisheit uns're Freude würzt,
macht ein Lied den Wein zum Göttergute.

Des Gesanges Seelenleitung bringet
jede Last der Arbeit schneller heim,
mächtig vorwärts geht der Tugend Keim;
weh' dem Lande, wo man nicht mehr singet!

Johann Gottfried Seumes Text erschien erstmals 1804 in der "Zeitung für die elegante Welt" als Gedicht "Die Gesänge". Allerdings lautete die ursprüngliche Version:

Wo man singet, lass dich ruhig nieder,
Ohne Furcht, was man im Lande glaubt,
Wo man singet, wird kein Mensch beraubt,
Bösewichter haben keine Lieder.

Diesen Vierzeiler verkürzte der Volksmund zu dem inzwischen sprichwörtlichen Zweizeiler

Wo man singet, da lass dich ruhig nieder,
Böse Menschen haben keine Lieder.

Wo man singet, lass dich ruhig nieder. Diese Aufforderung, sich in Gemeinschaft und positiver Atmosphäre zu engagieren, wurde inzwischen zu einem Sprichwort das suggeriert, dass das Singen von Liedern und das gemeinsame Musizieren in der Regel mit positiven Emotionen und Gemeinschaftsgefühl verbunden ist. An einem Ort, an dem gesungen wird, kann man sich demnach beruhigt niederlassen und eine angenehme Zeit verbringen.

Im krassen Gegensatz dazu steht der zweite Teil des Sprichworts der die These aufstellt, dass Menschen, die negative Einstellungen haben oder dazu neigen, Ärger zu machen, sich selten oder gar nicht an solchen positiven Gemeinschaftsaktivitäten beteiligen. Dies widerspricht aber aller Lebenserfahrung. Auch »böse Menschen« lieben Geselligkeit und grölen lautstark irgendwelche Lieder.

Und doch steckt in diesen Zeilen auch ein Körnchen Wahrheit. Singen, so wie Seume es meinte, ist mehr als angetrunken irgendwelche angesagten Hits zu grölen. Singen mit anderen ist eine Gemeinschaftsaktion, ein Lebensstil. Man trifft sich mit anderen Menschen, um gemeinsam Zeit zu verbringen, sei es singend oder plaudernd. Es ist ein Lebensstil, sich in positiven Umgebungen und mit positiven Menschen zu umgeben, um ein erfüllteres und glücklicheres Leben zu führen. Umgekehrt hindern uns negative Menschen und Umgebungen eher daran, unsere Träume und Ziele zu erreichen. Es geht also nicht um das reine Singen, sondern um die positive Wirkung auf die Stimmung, die Singen haben kann.

Wo man singet, lass dich ruhig nieder erinnert uns daran, dass wir uns in Umgebungen aufhalten sollten, die uns Freude bereiten, wo wir uns wohlfühlen. Musik und Gesang als Quelle von Freude und Gemeinschaft. Diese Funktion hat Musik in allen Gesellschaftsformen; in allen Kulturen singen Menschen miteinander bei Festen und fröhlichen Anlässen.

Doch wo viel Licht, da ist auch viel Schatten. Mit Musik marschierte mancher Soldat in den Krieg und auch Diktatoren wissen um die Macht der Musik. Aber es sangen auch Sklaven auf Baumwollfeldern und auch die Insassen des Konzentrationslager Börgermoor als Moorsoldaten, denen die Musik Trost gab.

Das komplette Gedicht »Der Gesang« von Johann Gottfried Seume umfasst 25 Strophen und ist auf Deutsche Gedichtebibliothek online verfügbar.

Tom Borg, 21. April 2023

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