In seinem op. 1 ist Brahms schon er selbst, und was ihm im emsigen Studium deutscher Kunst der Vergangenheit zugeflossen, hat er mit der ihn kennzeichnenden Assimilierungskraft in sich verarbeitet und in eigene Münze umgeprägt. Eine kühne, gewaltige Sprache redet der junge Geist, wie sie an Beethoven erinnert; während ein leises Traumleben, ein unendlich feines Gefühlsgewebe, ein poetisierendes Element, von dem er sich später lossagte, auf Wahlverwandtschaft mit Schumann hindeutet. Noch ungebändigt ergießt sich der Strom der Leidenschaft, ein starkes, fast übermütiges Kraftgefühl macht sich geltend, eine Freiheit des Gestaltens, die der Form wie spielend gebietet und sich in den verwickeltsten thematischen Verschlingungen und kontrapunktischen Künsten ergeht, welche letztere jedoch nirgends als Selbstzweck erscheinen. Die eigene Art, wie Brahms die alte kontrapunktische Kunst der modernen Vollgriffigkeit verbindet, den doppelten Kontrapunkten und Imitationen Füllstimmen hinzufügt, macht seine Klaviertechnik so schwierig und gibt ihr den kompakten Charakter, der zuweilen ans Schwülstige streift und so häufigem Tadel begegnete. Das beobachten wir schon an den frühesten Werken; auch die harmonischen Härten, die melodische Umschleierung, die rauhen und gezwungenen Tonverbindungen, die aus der seltsamen Laune entspringen, das Widerstrebende zusammenzuzwingen und den Genuß der mit peinlichster Sorgfalt von ihm durchgebildeten Tonorganismen durch dichtes Flechtwerk der Gedanken zu erschweren.

Von gefaßterem Wesen als die stürmische C-dur-Sonate bezeugt sich die zweite, Clara Schumann gewidmete in Fis-moll op. 2. Interessant ist die thematische Einheit sämtlicher Sätze, deren Einzelmotive alle einem Grundthema entnommen sind, das erst im letzten Satze zur vollen Durchführung und melodischen Ausgestaltung kommt. Es beschränkt ihm dies aber nirgends den gesanglichen Reichtum, und nur das aufmerksame Ohr vernimmt die Verwandtschaft, die innerhalb der Fülle dieser Melodien waltet.

Eine dichterische Interpretation verlangt die romantische dritte Sonate in F-moll op. 5, zumal das Andante. Es bekennt sich offen zum Genre der Programmusik und trägt ein poetisches Motto an der Stirn; aber auch ohne dasselbe würden wir einen der schönsten Liebesgesänge erkennen, wie sie je in Tönen laut geworden. In dem als »Rückblick« bezeichneten Intermezzo hat es sein sinniges, nur dunkler gefärbtes Gegenstück. Als echt Brahmssche Züge fallen schon hier der lange doppelte Orgelpunkt in der Coda des Andante, das unbestimmte Schweben zwischen Dur und Moll, die häufige Folge von Dreiklängen auf.

Bülow – der erste, der ein Brahmssches Stück öffentlich vortrug – spielte den ersten Satz der C-dur-Sonate am 1. März 1854 in Hamburg, wie er sich später, nachdem seine anfänglich geringe Schätzung des »brütenden Brahms« in eine Art Vergötterung umgeschlagen war, auch der ihm besonders werten F-moll-Sonate annahm. Von jüngeren Pianisten hat sich besonders der Lisztschüler Bertrand Roth in Dresden durch Vorführung aller drei Sonaten verdient gemacht.

Einzelne Züge dieser Erstlingswerke: die thematische Einheit der zweiten Sonate, das poetisierende Element, das sie mit ihren zwei Schwestern in C-dur und F-moll gemein hat, würden auf eine Annäherung an Liszt und die neudeutsche Schule schließen lassen, wüßte man nicht, in welch demonstrativen Gegensatz sich Brahms zu dem Weimarer Meister stellte. Die in der Musikgeschichte ohne Beispiel dastehende »Erklärung« vom März 1860, die er mit Joachim, Scholz und Grimm vereint gegen die Neudeutschen richtete, die aber durch vorzeitige Bekanntmachung in dem Berliner »Echo« um die beabsichtigte Wirkung gebracht wurde und ihren Urhebern nur Spott eintrug, ist ein beklagenswertes Zeugnis dafür, daß ihm, wie seiner Zeit überhaupt, für die künstlerische und menschliche Größe Liszts das Verständnis abging. Die Härten und Schroffheiten seines Wesens, über die selbst die von ihm so hochverehrte und ihm so dankbar zugeneigte Clara Schumann sich beklagt, standen augenscheinlich in zu starkem Gegensatz zu der weltmännisch abgeklärten Weise Liszts, auch abgesehen von den verschiedenen Wegen, die beider künstlerische Ideale gingen. Die Mißbilligung des großen Weimarer Künstlers gehörte überdies zum Dogma der Schumannianer, – ein seltsamer Dank dafür, daß dieser von früh an tatkräftig für Schumann eingetreten war und noch während dessen verhängnisvoller Krankheit für ihn und seine Frau aufs neue ritterlich eintrat.

Auf die Kunde von der Erkrankung Schumanns war Brahms, um ihm und den Seinen nahe zu sein, 1854 nach Düsseldorf übergesiedelt, von wo aus er den unglücklichen Freund des öfteren in der Heilanstalt zu Endenich besuchte. Seiner Sorge und Trauer um ihn gibt er in Variationen über ein Thema von ihm (Albumblatt aus op. 99), die er als sein op. 9 Clara widmet, Ausdruck. Ihr Schmerz ist der seine. So schreibt nach Schumanns Hingang die Witwe am 23. August 1856 an ihre Freundin Emilie List: »Brahms ist mein liebster, treuester Beistand; er hat mich seit dem Beginn von Roberts Krankheit nicht verlassen, alles mit mir durchlebt und gelitten« [1]. Mit ihr und Joachim oder Stockhausen gibt er auch Konzerte, und ihren Kindern widmet er »Volkskinderlieder«, die seinen Namen bescheiden verschweigen. Da sein Wunsch, sich Schumanns Amt in Düsseldorf übertragen zu sehen, unerfüllt bleibt, auch Clara ihren rheinischen Wohnsitz mit Berlin vertauscht, folgt er im September 1857 einer Berufung nach Detmold als Pianist und Leiter eines bei den Hofkonzerten mitwirkenden Gesangvereins und ist daselbst bis 1860 tätig. Hier entstehen, nachdem er lange nichts vernehmen ließ, seine zwei Orchesterserenaden op. 11 und op. 16, sein B-dur-Sextett op. 18, die zuerst, wie im Aufblick zu Mozarts Lichtgestalt, einen helleren Ton anschlagen; sodann das dämonisch-gewaltige Klavierkonzert in D-moll, der ergreifende Begräbnisgesang op. 13, die Frauengesänge mit Harfe und Hörnern op. 17, die Marienlieder op. 22.

Vorübergehend lebt er danach in Hamburg, wo er die Klaviervariationen op. 23 und op. 24, die Klavierquartette G-moll und A-dur op. 25 und 26, die ersten Magelonenlieder, sowie das pathetische F-moll-Klavierquintett op. 34 schreibt, das sich vom Streichquintett zur Sonate für zwei Klaviere umwandelt, bevor es seine endgültige Gestalt empfängt, und nun den Werken beizählt, die ihres Schöpfers Individualität am lautersten widerspiegeln.

Im September 1862 kommt er nach Wien. Tief kränkt es ihn, daß seine Vaterstadt, in der er sich gern dauernd niedergelassen hätte, ihn bei Wahl eines Dirigenten der Philharmonischen Konzerte übergeht, daß er »unbehaust, unbeweibt, unbeamtet« weiterleben muß. Doch lebhaft angezogen von der Heimatstätte klassischer Musik, wo Natur und Volk ihn gleicherweise anmuten und ihn bald ein Kreis befreundeter Geister umgibt, nimmt er dort 1863 die Stellung eines Chormeisters der Singakademie, 1872 die eines artistischen Direktors der Gesellschaft der Musikfreunde an. Schon nach Ablauf einer Saison aber entledigte er sich der ersten, nach Verlauf dreier Winter der zweiten Würde und Bürde, ohne sich darum von Wien zu trennen. Er verstand sich fortan zu keinerlei Banden, auch zu denen der Ehe nicht. Seinem Schaffen gehörte ausschließlich sein Leben, und mit ihm war es ihm heiliger Ernst. An seinen Genius glaubten zunächst außer ihm selber nur wenige. Auch in Wien, wo er sich zuerst im November im Quartett Hellmesberger und in einem eigenen Konzert hören ließ, lief zuvörderst der Pianist dem Komponisten den Rang ab. Der später so feurig für ihn eintretende Hanslick spricht von »einem Nebelflor grübelnder Reflexion«, findet die Themen des A-dur-Quartetts trocken und nüchtern und vermißt den großen, fortströmenden Zug der Entwicklung [2]. Dafür rühmt der Wiener Korrespondent der Leipziger »Allgemeinen Musikalischen Zeitung«: »Die geistige Beseelung seiner Vorträge ist unbeschreiblich; sie tut sich in dem edlen, echt poetischen Grundton des Ganzen wie in der Fülle von Details kund, die, so ungesucht sie sind, von zwanzig Virtuosen kaum einem einfallen«.

In Wahrheit hatte Brahms wenig vom eigentlichen Virtuosen. Das Klavierspiel war ihm lediglich Mittel zum Zweck. Seine Vortragsweise stand in enger Abhängigkeit von seiner Stimmung. Fühlte er sich disponiert, so war seine Darstellung inspiriert, höchst energisch, voll Größe und Wärme der Auffassung. »Einen gewaltigen Spieler« nennt ihn Philipp Spitta [3]. »Er hat«, sagt er, »seine eigene Art von Technik und ist in ihrem Bereiche sehr erfinderisch. Ihr Charakter prägt sich mehr nach dem Kraftvollen hin aus als nach dem Zarten. Vollgriffigkeit, weite Spannungen, kühne Sprünge, eine große Gewandtheit und Ausdauer in Terzen-, Sexten- und Oktaven-Gangwerk, Unabhängigkeit der Hände und Finger, auch im rhythmisch-verzwicktesten polyphonen Geflecht, sind einige ihrer Haupteigenschaften.«

Selbstverständlich war für die Popularisierung seiner eigenen Schöpfungen seine Verdolmetschung von unberechenbarem Vorteil. Sie fanden in ihm einen ausgezeichneten Vermittler. Trotzdem konnte es geschehen, daß, als er am 27. Januar 1859 im Gewandhaus zu Leipzig sein damals noch ungedrucktes D-moll-Konzert op. 15 vorgetragen hatte, ein Referent der »Signale« dasselbe als ein »zu Grabe getragenes« Produkt von »wahrhaft trostloser Öde und Dürre,« als »ein dreiviertelstundenlanges Würgen und Wühlen, eine ungegorene Masse mit einem Dessert von schreiendsten Dissonanzen und mißlautendsten Klängen« bezeichnete. Selbst die fortschrittliche »Neue Zeitschrift für Musik«, die »gegen die wenig achtbare Weise der Beurteilung« des in Frage stehenden Werkes »Protest einlegt«, betont, wenn schon sie seinem dichterischen Gehalt Gerechtigkeit angedeihen läßt, »die Mängel der äußeren Erscheinung«. Und doch richtet sich Brahms in ebendiesem Konzert zu einer Größe auf, die auch durch seine späteren Taten nicht wesentlich überschritten worden ist. Es steht im schroffen Gegensatze zu den Werken, die seine nächste Umgebung bilden. Neben den heiteren, idyllischen Charakteren der Serenaden und des Sextetts erhebt es sich als eine düstere Nachtgestalt, ein Gemälde voll entfesselter Leidenschaft und verzweifelten Kampfes um Sein und Nichtsein. In wilden Schmerzensrufen macht sich die gequälte Seele Luft; graus und schauerlich tönt ihr Gesang, rührend, wie unter der Last heimlicher Tränen, hinwiederum ihre leise Klage. Erst im zweiten Satze waltet Friede und selige Ruhe: Benedictus qui venit in nomine Domini lautet seine Überschrift in der Originalpartitur. Es ist auch eine Art Kirchenszene voll Andacht und frommer Weihe. Als der am populärsten gehaltene Teil tritt das Rondo Finale hervor, das sich gegen das Ende hin zu dithyrambischem Schwunge steigert.

Man hat das Konzert eine neunte Symphonie mit Klavier genannt, und in der Tat legen die Ähnlichkeit der Stimmung, die riesigen Verhältnisse der Anlage im ersten Satz einen Vergleich beider Werke nahe. In kolossaleren Dimensionen als dies Brahmssche Maestoso ward kein anderer Konzertsatz auferbaut. Statt der üblichen zwei Hauptthemen kommen deren fünf darin zur Verarbeitung. Die ganze Tondichtung macht eher einen symphonischen als einen konzertmäßigen Eindruck; wuchs sie doch auch aus einer 1854 entworfenen viersätzigen Symphonie heraus, die aus der Vorstellung von Schumanns Selbstmordversuch hervorgegangen, aber am Finalsatz gescheitert war. Das Scherzo wurde getilgt, die Klavierstimme und das abschließende Rondo hinzugeschrieben. So ist denn auch in diesem Konzert nichts von Phrase und bloßem Figurenwerk, nichts Äußerliches – alles ist von innen heraus geboren. Auf brillante Passageneffekte, auf gefällige, leicht sich einprägende Motive, kurz auf Dankbarkeit im landläufigen Sinne muß verzichten, wer sich diesem tiefen und neuartigen Kunstwerk befreunden will.

Dies und die Schwierigkeit der Klavierpartie hat es veranlaßt, daß es als ein so seltener Gast in unseren Konzertprogrammen begrüßt wird. Zuerst vom Komponisten in die Öffentlichkeit eingeführt, haben sich nachmals Clara Schumann – die neben den Tonschöpfungen ihres Gatten mit Vorliebe die ihres Freundes Johannes spielte, die sie auch vor andern kennen lernte –, Theodor Kirchner, Leschetizki, Mary Krebs, Wilhelmine Clauß-Szarvady und später Bülow und d'Albert seiner angenommen. Es ist von Rechts wegen kein Konzert für Frauenhände. Nur die stärksten Spieler können ihm geistig und technisch beikommen.

Auch das zweite Klavierkonzert in B-dur op. 83, das Brahms zu Weihnachten 1881 – also 22 Jahre nach dem ersten – den Wienern im Philharmonischen Konzert eigenhändig bescherte, durfte man als Symphonie mit obligatem Klavier bezeichnen. Denn nicht nur daß es über die übliche dreisätzige Form seiner Gattung zur Viersätzigkeit der Symphonie hinausgreift: das virtuose Element tritt darin, trotz den großen Schwierigkeiten des Klavierparts, ganz zurück. Nur wenige Soli sind diesem zu selbständiger Aussprache gegönnt, im übrigen verschmilzt er völlig mit dem Orchester. Gleich seinem älteren Geschwister ist auch dies Konzert in weiten Dimensionen gestaltet. Der mächtigen Tragik jenes gegenüber aber behauptet es ein freundlicheres, wenn auch allenthalben das ernste, schwer zu fassende Brahmssche Wesen und steigert sich erst im letzten Satze zu unmittelbarerer Wirkung.

Wie seit 150 Jahren fast alle unsere bedeutendsten Tonmeister, ist Brahms – wir erfuhren es bereits vom Klavier ausgegangen und hat sich, als der große Klavierspieler, der er war, nicht nur seine eigene Klaviertechnik, sondern auch seinen besonderen Klavierstil gebildet, der der Männlichkeit und Kraft seines Spiels wie seines Schaffens entsprach. Ausgezeichnetes und Besonderes gab er in den 1862 entstandenen zwei- und vierhändigen Variationenwerken op. 21, 24, 35 und 23. Op. 24, die berühmten Händel-Variationen – 25 an der Zahl, ohne die abschließende Fuge –, wurde von Wiener Stimmen geradezu das »chef d'œuvre« der Klavierkompositionen Brahms' und der Gegenwart überhaupt« genannt. Der Reichtum an verändernder Kraft, die Phantasiefülle, die eine unendliche Mannigfaltigkeit von Figuren, Bildern und Ideen aus dem schlichten Thema hervorzaubert, setzen uns in Staunen, so oft wir uns dem Werk gegenüber sehen.

Mehr der innersten Seele des Komponisten ist sein op. 23 entflossen: eine Huldigung, die er dem Andenken Schumanns darbringt. »Variationen über ein Thema von Robert Schumann, dessen Tochter Julie gewidmet,« nennt es sich. Es ist dies dasselbe Thema, das Schumann vor seinem unheilvollen Sturz in den Rhein beschäftigte und von dem er wähnte, es sei ihm von Schubert und Mendelssohn aus dem Jenseits gesandt worden. Man muß das wissen, um die Blumen alle deuten zu können, die Brahms zum Kranze windet für den Unvergeßlichen. Alle Stimmungen des Schmerzes tönen darin aus, von den sanften Äußerungen der Wehmut bis zum herben Klagelaut; aber auch der »Trost in Tränen« fehlt nicht, und als er dem Freunde im Trauermarsch gleichsam das letzte Geleit gegeben, schließt er, wie in der erlösenden Gewißheit, daß er nun droben im Lichte wandle.

Wie Schumann liebt es auch Brahms, allerlei in seine Tonbilder hineinzugeheimnissen; es ist viel mehr Poesie in dieser »absoluten Musik«, als man sich träumen läßt. Sein scharfer Kunstverstand, seine immer rege Selbstkritik behüten ihn jedoch vor dem Überhandnehmen überschwenglicher Stimmungen gleicherweise wie vor den rückhaltlosen Ausbrüchen seines Empfindens. Es ist eine gewisse Scheu in Brahms, von seinen innersten Erlebnissen zu reden; er zieht einen Schleier vor das Allerheiligste seiner Seele. So begnügt er sich namentlich in seinen Liedern oft mit bloßen Andeutungen, mit nur halb Ausgesprochenem, dem Interpreten die Ergänzung überlassend.

Dabei ist Brahms indessen auch eine große Bestimmtheit und Energie der Ausdrucksweise eigen. Als Kind der modernen Reflexionsbildung besitzt er in hohem Grade die Fähigkeit des Charakterisierens, wenn das charakteristische Element bei ihm auch zumeist dem Fundament der musikalischen Entwicklung eingefügt erscheint. Allem, was er schreibt, ist bei aller individuellen Verschiedenheit untereinander eine nur ihm eigentümliche Physiognomie aufgeprägt, die es von den Werken aller andern Tonsetzer deutlich unterscheidet. Sehr bemerkenswert ist bei ihm die Kunst der Themenbildung. Ohne allen phrasenhaften Schmuck, nur vermittelst weniger Noten versetzen seine Themen den Empfänglichen alsbald in die entsprechende Stimmung; jeder Ton darin ist melodisch und rhythmisch wichtig und für den Charakter des Ganzen wesentlich. Mit der ihm eigenen Weise, direkt und ohne Umschweif auf sein Ziel loszugehen, hängt auch die rasche Art seiner Modulation zusammen. Ehe man sich's versieht, ist er mit einem Mal in der entferntesten Tonart angelangt, und ebenso plötzlich sehen wir ihn wieder im alten Gleise, um bald darauf wieder nach einem neuen ungeahnten Seitenwege auszubiegen. Indem er jeden leitereigenen Akkord beliebig als tonischen auffaßt und umgekehrt, eröffnet sich ihm eine unendliche Fülle von modulatorischen Wendungen. Die konventionellen Übergänge und Brücken meidet er; des Trugschlusses bedient er sich gern und häufig. Die Neigung zur Ausweichung nach der Unterdominant, sowie seine Vorliebe für Diatonik und leitereigene Dreiklangsverbindungen geben seiner Harmonik den ihr eigenen herben und strengen Zug. Seiner pikanten, oft nicht wenig komplizierten Rhythmik wurde schon gedacht.

Daß er, trotz des in unseren Tagen in der Luft liegenden Charakterisierungs-Strebens, in erster Linie spezifischer Musiker ist, bezeugt neben seiner Vorliebe für Kammermusik und seinen orchestralen Arbeiten insbesondere seine Stellung zum Lied und zu der Vokalmusik überhaupt. So sehr auch seine musikalische Ausdrucksweise durch die Rücksicht auf die textliche Grundlage bedingt erscheint, so ist doch immer ein merkliches Übergewicht der ersteren über die letztere fühlbar, und wie Mozart es von der Oper will, daß »die Poesie der Musik gehorsame Tochter sei«, so macht es auch Brahms zum Gesetz seiner Vokalkompositionen. Anders als Schumann, der die poetische Intention zur Hauptsache erhebt, anders auch als Robert Franz, der ein völliges Gleichmaß zwischen Wort- und Tongedicht erstrebt, nähert Brahms sich im Lied mehr der Schubertschen Auffassung, indem er das rein Musikalische in den Vordergrund stellt. Dem melodischen Flusse muß sich die Deklamation fügen, sich mitunter auch eine Textwiederholung, einen Akzent gefallen lassen, die nicht im Wesen der Dichtung liegen.

Von der schlichten Strophenweise bis zu dem in breitem Rahmen ausgeführten Gesang hat er das Lied mit gleicher Liebe gepflegt und auch in ihm den eigenen Ton gefunden. Er fand ihn früh. Schon das erste Lied, das er veröffentlichte, das aus einem leidenschaftlichen Herzen herausgesungene, vielgehörte »O versenk' dein Leid«, blickt es uns nicht mit seinen eigenen Augen an? Das darf wohl mehr oder weniger von den nahe an zweihundert Liedern gelten – die von ihm bearbeiteten Volkslieder nicht eingeschlossen –, die wir ihm danken.

In der Wahl der Texte verfährt er fein und eigenartig. Wir begegnen bei ihm Dichternamen, die wir bis dahin selten oder nie eine musikalische Verbindung eingehen sahen. Paul Fleming, Hölty, Voß, Klaus Groth, Hebbel, Kopisch, Platen, Halm, Schack, Gottfried Keller, Candidus, vor allen anderen Daumer haben ihn zum Sange angeregt; auch aus »Des Knaben Wunderhorn«, aus Heyses »Italienischem Liederbuch«, aus böhmischen Volksliedern ist ihm manche Frucht erwachsen. Von den sonst bevorzugten Dichterlieblingen unserer Musiker treffen wir bei ihm Goethe und Uhland, nur vereinzelt Eichendorff, Heine, Geibel. Tieck hat er fünfzehn »Romanzen aus der Magelone« als op. 33 in Tönen nachgedichtet und einer Poesie, die inmitten des antiquierten Märchens wohl rettungslos der Vergessenheit anheimgefallen sein würde, zu dauernder Bedeutung verholfen. Durch Stockhausen, dem die großgeformten Gesänge gewidmet sind, wurden sie in die Öffentlichkeit eingeführt. Doch hört man selten die ganze Folge, obwohl sie sich den Zyklen Beethovens, Schuberts, Schumanns anschließen darf.

Die Begleitung ist bei Brahms' Liedern einfacher intentioniert als bei Schumann; das heißt sie will immer untergeordnet sein, wenngleich sie oft zum sehr kunstvollen Gewebe wird und dem Spieler genug zu tun gibt. Mit Tonmalerei geht er sparsam um. Wohl hört man in op. 19 den »Schmied« hämmern, man vernimmt in dem Lied »an die Äolsharfe« die dieser eigenen Harmoniefolgen, auch Naturstimmen, wie das Schluchzen der Nachtigall (op. 46 Nr. 4), das Plätschern der Fontäne (op. 57 Nr. 8), die fallenden Regentropfen op. 58 Nr. 2) tönen an unser Ohr; es ist aber hier mehr symbolisch als realistisch gemeint, mehr psychisch als äußerlich empfunden und wiedergegeben.

Um zu erkennen, wie Brahms oft vermöge der einfachsten Mittel Stimmung und Situation sofort klar anschaulich zu machen weiß, sehe man Schacks »Herbstgefühl« op. 48, oder Hebbels »Vorüber« op. 58, oder das ergreifende »Schwermut« im selben Opus an, wo die einleitenden Es-moll-Akkorde uns das Weh schon vorempfinden lassen, ehe noch die Stimme ihre todestraurige Klage beginnt. Und dann das ganze Daumersche op. 57, von dessen vier ersten Liedern Hermann Kretzschmar einst sagte, man lege das Heft hinweg, als hätte man eine große tragische Oper angehört [4]. Seltsam, daß man gerade diesen Liederperlen so selten im Konzertsaal begegnet, den sich die Brahmssche Lyrik in unserer fortgeschrittenen Zeit doch längst erobert hat! Denn nicht nur die leichter verständlichen früheren Gesänge: »Wie bist du, meine Königin« op. 32, »Von ewiger Liebe«, »Mainacht« op. 43, »Sonntag« op. 47, »Wiegenlied« op. 49, »Meine Liebe ist grün« op. 63, auch die späteren, wie »Feldeinsamkeit« op. 86, »Sapphische Ode« op. 94, »Wie Melodien«, oder das verklärte »Immer leiser wird mein Schlummer« op. 105, werden von Sängern und Sängerinnen mit Vorliebe zum Vortrag gebracht. Ja selbst die »vier ernsten Gesänge« für Baß op. 121, mit denen Brahms, ohne es zu ahnen, von der Kunst und dem Leben Abschied nahm und die, als es galt, den Heimgegangenen zu feiern, vielfach zum Ausdruck der Trauer um ihn wurden, kehren als düstere Gäste häufig wieder. Drei dieser biblischen Monologe im Stil des Requiems sprechen vom Leiden und Sterben der Menschen und klingen echt alttestamentarisch in Resignation aus, die sich keiner Hoffnung getröstet. Nur der letzte verkündet das Evangelium der Liebe aus Pauli Korintherbrief und weist uns »Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei, aber die Liebe ist die größeste unter ihnen«.

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Anmerkungen:

  1. Vgl. Berthold Lißmann, »Clara Schumann«. III. Band. Leipzig, Breitkopf & Härtel 1908.
  2. Vgl. Max Kalbeck, Johannes Brahms II, 1.
  3. »Zur Musik« (S. 423). Berlin, Gebr. Paetel 1892.
  4. Musikalisches Wochenblatt, 1874 Nr. 1-9, 12 u. 13
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