Seit der moderne Subjektivismus in die Musik gekommen ist und die Individualität nach Geltung im Kunstwerk strebt, hat sich an die Stelle des absolut Schönen ein relativ Schönes, an die des allgemeinen Kunstideals ein besonderes, persönliches gestellt. Der moderne Künstler will aus sich selbst, aus seinem eigensten Kreise heraus, nicht von diesem losgelöst, begriffen werden. Früher war dies anders. Das persönliche Leben unserer älteren klassischen Meister tritt nirgends in das von ihnen gebildete Kunstwerk herein; der darzustellende Gegenstand selbst erfüllt sie so ganz, daß sie sich ihm mit einer naiven Schaffenslust hingeben, wie sie späteren Geschlechtern völlig abhanden gekommen ist. Beethoven zuerst führte den Schmerz in die Musik ein und verhalf dem tiefen, rein menschlichen Unbefriedigtsein, dem Ringen nach übersinnlichem Ausdruck zu einer berechtigten Stellung. Von dem gleichmäßigen, ruhigen Licht, der reinen, durchsichtigen Atmosphäre, die die Gebilde seiner Vorgänger ausstrahlen, von der Insichabgeschlossenheit der Werke Haydns und Mozarts zumal, ihrer »Harmonie in den Schranken der Endlichkeit«, mußten die seinen sich naturgemäß entfernen, deren Wesen die »aufgeschlossene Unendlichkeit« ist. Wie aber Beethoven, der Vollender der Klassizität, zuerst neben dem Objekt ein Subjekt gegenständlich machte, dessen Verständnis für den Genuß des ersteren Bedingnis ward, so hat das ihm nachgeborene Kunstgeschlecht – die Romantiker – jenen Subjektivismus allmählich derart ausgebildet, daß er zum Übergewicht über das absolut Formschöne gelangte.

Dem Verständnis des Kunstwerks selber ist dies freilich nicht förderlich gewesen. Je individueller und eigentümlicher dasselbe geartet ist, um so enger wird sich der Kreis derer ziehen, deren Empfinden sich in Übereinstimmung mit dem darin niedergelegten Gefühlsinhalt findet; um so vielseitigerer Widerspruch auch wird seiner Verbreitung begegnen, sobald das Sichhineinleben und -hineinarbeiten in eine künstlerische Individualität als eine unberechtigte Forderung zurückgewiesen wird. Das hat, gleich manchem andern, Johannes Brahms mit Schmerzen erfahren. Groß und rein war seine Kunst und keusch und gewaltig. Als ein Priester des Schönen waltete er in Treuen seines Amtes. Mit ihm, der aus den Romantikern hervorgegangen war, ging der letzte Klassiker, der letzte große Vertreter der absoluten Musik unter den Zeitgenossen, von hinnen. Er war ein Letzter demnach, kein Erster. Eine große Epoche schloß mit ihm in Größe ab; er eröffnete keine neue. Keine neuen Reiche tat er uns auf, und die »neuen Bahnen«, die er nach Schumanns Weissagung ging, sind nicht im Sinn einer revolutionären Erscheinung zu verstehen. Brahms war eine konservative Natur. Er gliederte sich fest an Überliefertes an, wenn auch nirgends, ohne es auf seine Weise geistig und technisch als ein Neues fortzubilden.

Seine Zeit beherrschen kann freilich nur einer, der aus ihrem Geist herausgeboren wird, der ihren Odem und Herzschlag verklärt im Kunstwerk wiedergibt und den Flügelschlag der Zukunft ahnungsvoll rauschen hört. Darum hieß, der den höchsten Ausdruck der Zeit in Töne faßte und ihr seinen Stempel aufdrückte, nicht Brahms, sondern Wagner, und unter seinem Zeichen, nicht unter dem Brahms', stand das Musikleben in der letzten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts. Mehr der Vergangenheit als der Gegenwart und Zukunft wandte sich Brahms' Genius zu; in ihr hatte er seine Wurzeln, aus ihr zog er, ob auch der Gegenwart mit seinen Lebenssäften verwachsen, reichste Nahrung. Innerhalb der klassischen Formen fand sein Schaffen sich heimisch. Ihre Grenzen zu durchbrechen hat es ihn nie verlangt. Er war kein Original-, kein Universalgenie im Sinne Bachs und Beethovens, seiner leuchtenden Vorbilder, auch wenn ihm Bülow als »drittem großen B« die Stelle neben jenen zuerkannt sehen wollte; und an Beethovens Weltideen gemessen, erscheint sein Denken und Empfinden in engere, individuellere Schranken gebannt. Aber was er in Tönen aussprach – gleichviel in welcher Gestalt, denn er beherrschte jegliche Form mit zielbewußter Meisterschaft, und die Ausdrucksmittel dreier Musikjahrhunderte waren ihm geläufig –, war Geist von seinem Geist, Leben von seinem Leben. Seine starke, durchaus männliche Individualität gibt allem ihr eigenstes Gepräge. Seine Sprache ist herb, oft rätselhaft; er redet niemand zu Gefallen. Wie der Geist es ihm eingibt, so kündet er's. Schmeichelnder Wohllaut, Süße des Klangs kommen ihm schwer über die Lippen. Er sei überhaupt kein Melodiker, meinte Louis Ehlert von ihm, »d. h, kein Musiker, bei dem die Melodie einen souveränen Platz einnimmt«. Seine Melodien haben etwas Verschämtes; sie strömen selten frei und warm aus voller Brust heraus. Lieber zeigen sie sich halb verhüllt, aus einem dichten Gestrüpp wuchtiger Akkorde und Begleitungsfiguren gleichsam nur verstohlen hervorlugend. Wie ist der norddeutsche Brahms hier der Antipode der naiven sangesfrohen Österreicher Mozart und Schubert, deren blühende Melodiewesen gleicherweise in seelische wie in sinnliche Schönheit getaucht und inniger Herzenswärme voll sind!

Als eine seiner hervorstechendsten Eigenschaften fällt Brahms' Herrschaft in Ausspinnung des thematischen Gehaltes in die Augen. Daher auch der erstaunliche Reichtum an Gestaltungskraft und energischem Leben in Behandlung der von ihm bevorzugten Variationenform. Seine Harmonik ist in neuen Wendungen ergiebig und in ihrer Eigenartigkeit interessant, oft auch eigensinnig und trotzig, keine Härte scheuend. Ein sie charakterisierender ernster, strenger Zug macht sie für das Kirchliche besonders geeignet. Überraschende Wirkungen sichert Brahms sich durch Verwendung der alten Kirchentonarten; wogegen er sich der heutigestags dominierenden Chromatik und Enharmonik nur sparsam bedient. Äußerst vielgestaltig ist seine Rhythmik. Er liebt die Synkope, die rhythmischen Verschiebungen, das Hineinspielen des geraden Taktes in den ungeraden, die Kombination der verschiedensten Taktarten. In der Instrumentierung kennzeichnet ihn ersichtliche Mäßigung. Auch das Kolorit scheint sozusagen auf die Innerlichkeit seiner Musik gestimmt; die Klangwirkung tritt in den Hintergrund. Das verhindert ihn nicht, zuweilen neue und originelle Klangverbindungen zu erfinden, wie beispielsweise in den Frauenchören mit Harfe und Hörnern, dem Horn- und dem Klarinettentrio.

Mit allen Gattungen seiner Kunst stand Brahms auf vertrautem Fuße, mit jenen beiden nur nicht, die Liszt und Wagner sich zur Domäne auserlesen hatten: dem Oratorium und der Oper. In seinem »Rinaldo«, auf den er selbst großen Wert gelegt haben soll, wiewohl man ihn kaum seinen besten Taten beizählen wird, streifte er einmal das eine Gebiet; aber es kam nicht zu einer näheren Berührung. Zum musikalischen Drama, mit dessen Neugestaltung durch Wagner er sich wenig befreundete, knüpfte er, vielleicht unwillkürlich dem Gesetze seiner Natur gehorchend, keine Beziehungen an. Oft trat, wie sein Biograph Max Kalbeck, dem wir manches entnehmen, erzählt[1], die Frage an ihn heran; aber er fand keinen Text, der ihm völlig zusagte. Wohl lagen ihm, laut der Mitteilungen des Dichters J. V. Widmann [2], Gozzis Märchen »König Hirsch« und das von diesem bearbeitete Calderonsche »Laute Geheimnis« längere Zeit als geeignete Stoffe im Sinn, die der schweizerische Freund für ihn zubereiten sollte. Schließlich schrieb er ihm jedoch im Januar 1888, zu seinen »Prinzipien« gehöre: »keine Oper und keine Heirat mehr zu versuchen«.

Ein wahrhaft unabhängiger Charakter, um äußeren Vorteil und Bequemlichkeit des Lebens ebensowenig wie um Fürstengunst und den Beifall der Menge besorgt, stellte er die höchsten Anforderungen allzeit an sich, und seine Selbstkritik tat sich nie genug. Das C-moll-Streichquartett, das sein op. 1 werden sollte, gab er erst 1873 mit dem in A-moll als op. 51 heraus. Das Allegro des Klavierquartetts in C-moll, das als op. 60 erschien, reicht in die Düsseldorfer Zeit 1854-56 zurück. Bereits 1853 und 1854 lagen auch eine Geigensonate und eine Symphonie von ihm vor; aber noch ein Vierteljahrhundert fast ließ er vergehen, bevor die Welt ihn als Symphoniker kennen lernte und eine Violinsonate von ihm in die Hand bekam.

Bewunderungswürdig vollendet ist seine Technik. Ein Meister der Kontrapunktik, wie er wenige seinesgleichen fand, handhabt er mit Vorliebe die strengen Formen seiner Kunst. Gern greift er zum Kanon und zu anderen Bildungen des imitatorischen Stils zurück, wie um seinem Liebling Sebastian, mit dem er die polyphone Schreibweise, die die melodische Erfindung überwiegende harmonische und kontrapunktische Kunst gemein hat, eine Huldigung darzubringen. Dank einem imponierenden Wissen und Können spielt er mit den erdenklichsten Schwierigkeiten, denen gegenüber seine Kraft nur wächst, und verwebt seinen Werken geheimnisvolle Feinheiten, welche die Freude des Kenners sind.

Der Mangel an Durchsichtigkeit, das Schwerlastende, Tiefsinnige seiner Tonsprache, die Richtung auf das Reflektive, Subjektive, die sich häufig zum Grüblerischen steigert und in das Gebiet verliert, wo die Spekulation die Inspiration, der Denker den Dichter hinter sich zurückläßt, – sie begründen die Schwierigkeit des Verständnisses Brahmsscher Tonpoesie. Seine Muse ist eine spröde Schöne, sie will ernsthaft umworben sein. Sie spottet des einmaligen Hörens, mit dem so viele unserer Musikfreunde sich einem Kunstwerk gegenüber abfinden zu können meinen, um darüber abzuurteilen. Mehr mit der Seele als mit dem Ohr muß man ihr lauschen, so sehr hat sie sich ihres sinnlichen Charakters begeben und in einer transzendentalen Welt ihre Heimat. Brahms fragt wenig nach Sinnenreiz. Verstandesnatur, wie er vorwiegend ist, faßt er seine Kunst von der geistigsten Seite und beschwört – man denke an seine Chorkompositionen – gern höchste Dinge und Fragen herauf. Er hat demgemäß nichts Blendendes, Berückendes, nichts gewaltsam mit sich Fortreißendes. Seinem Kunstausdruck ist eine gewisse Zurückhaltung und Strenge, eine Schwerblütigkeit eigen, die ihn meist vor vollem Ausbruch der Leidenschaft bewahrt. Doch kann er auch wild und stürmisch sein. Er gefällt sich in gebrochenen Lichtern, jenem wechselnden Schillern zwischen Freude und Schmerz. Mit den dunkelsten Tinten malt er seine ergreifendsten Bilder. Mag aber seiner in sich geschlossenen, echt norddeutschen Natur immerhin die unmittelbar zündende, elektrisch treffende Kraft mangeln: die, welche den Schlüssel zur Geheimschrift seines Wesens gefunden – und ihrer sind viele jetzt –, zieht er mit sicherer Gewalt in seine Zauberkreise. Wer ihn einmal ins Herz aufgenommen, wird nicht wieder von ihm lassen können. Und es lohnt sich, bei ihm in die Tiefe zu steigen, denn immer neue Schönheiten sieht man da aufblühen. Man muß ihn eben kennen, um ihn zu lieben, wie man ihn freilich auch lieben muß, um ihn recht zu verstehen.

Einem niedersächsischen Geschlecht entstammend, kam Johannes Brahms am 7. Mai 1833 in Hamburg auf die Welt. Sein Urgroßvater war Tischler in Brunsbüttel, sein Großvater Gastwirt und Kaufmann in dem holsteinischen Städtchen Heide gewesen. Dessen daselbst 1806 geborener Sohn Johann Jakob, der Vater von Johannes, war, einem unwiderstehlichen Triebe folgend, unter die Musiker gegangen und hatte, wie wir bei Kalbeck lesen, sich selbst vom musikalischen Handwerker zum Künstler heraufgebildet. Sein Sohn Johannes nennt ihn in einem an uns gerichteten Schreiben vom November 1874 pietätvoll einen »vortrefflichen Musiker, auf allen Orchesterinstrumenten geübt, auf manchen ausgezeichnet. Beschäftigt war er in Konzerten, Theater etc., wie eben andere gute Musiker. Er und meine Mutter, Christiane geb. Nissen, waren ausgezeichnete brave Menschen von schönster Herzensbildung.« Nüchterner beurteilt Eduard Marxsen [3], der berühmte Lehrer von Johannes, in eingehenden brieflichen Mitteilungen an uns (vom 6. März 1874) Johann Jakob als einen »gewöhnlichen Musiker, der mehrere Streich- und Blasinstrumente spielte, behufs Tanz- und Unterhaltungsmusik. Im Anfang der 50 war er mehrere Jahre dritter Kontrabassist im Stadttheater-Orchester. Im übrigen war er ein höchst rechtschaffener Charakter, beschränkten Geistes und von großer Gutmütigkeit. Die Mutter war ebenfalls ein rechtlicher Charakter, zwar ohne jegliche Bildung, aber, wie man zu sagen pflegt, von mehr natürlichem Verstand wie ihr Mann.«

Mit großer Zärtlichkeit hing Johannes an den Eltern und eifrig war er bemüht, sobald er es vermochte, die unzulänglichen Mittel der Seinen mit seiner jungen Kraft mehren zu helfen, indem er den Vater im Orchester vertrat, oder mit ihm gemeinsam, oder auch selbständig zum Tanz oder bei Unterhaltungen ausspielte, auch später für den Verleger Cranz Phantasien und Potpourris anfertigte, die unter dem Namen Marks oder Würth an die Öffentlichkeit kamen. Wuchsen doch mit ihm noch eine ältere Schwester Elise und ein jüngerer Bruder Fritz – nachmals ein sehr gesuchter Musiklehrer in Hamburg – auf. Für das Taschengeld, das sich der in erster Kindheit zarte und versonnene Knabe nebenbei noch verdiente, kaufte er sich lernbegierig Bücher. Als Frau Christiane, die siebzehn Jahre älter war als ihr Mann, sich in ihrem letzten Lebensjahre aber noch von ihm getrennt hatte, im Februar 1865 das Zeitliche segnete, schloß der 60jährige Johann Jakob 1866 eine zweite Ehe. Diesmal wählte er sich eine achtzehn Jahre jüngere Gefährtin, eine Witwe Karoline Schnack, die ihm, bis er 1872 derselben Krankheit wie später sein Sohn Johannes erlag, eine treue Pflegerin wurde und sich demgemäß der Schätzung und tätigen Dankbarkeit des letzteren erfreute. Sie und ihr Sohn Fritz Schnack, Uhrmacher seines Zeichens, betrauerten, da Schwester und Bruder von Johannes schon vor ihm dahingegangen waren, als einzige Hinterbliebene dessen Hinscheiden.

»Über den Studiengang von Johannes«, schreibt uns Marxsen, »ist folgendes zu berichten.

»Im Jahre 1843 brachte mein Schüler Cossel – ein vorzüglicher Lehrer für Technik und als solcher sehr geachtet und beliebt – den zehnjährigen Knaben zu mir, der zurzeit eine gewöhnliche Volksschule besuchte, die auch bis zur frühzeitigen Konfirmation nicht gewechselt wurde[4], um denselben zu prüfen, ob wohl musikalische Anlagen vorhanden sein möchten. Er spielte mir einige Etüden aus dem ersten Heft von Cramer ^sehr wacker vor. Cossel lobte seinen Fleiß und wünschte, wenn ich Anlagen sähe, daß ich ihn unterrichten möchte. Ich lehnte es aber vorläufig ab, da der bisherige Unterricht ja sehr tüchtig sei und auch wohl noch ferner ausreichen würde. Nach einigen Monaten kam der Vater zu mir, um in Cossels und seinem Namen die Bitte zu wiederholen, worauf ich insoweit einging, daß ich dem Knaben wöchentlich eine Stunde widmen wollte, unter der Bedingung, daß der Unterricht bei Cossel in gewohnter Weise fortgesetzt werde. Dies geschah; aber kaum nach einem Jahr ersuchte mich Cossel dringend, fortan den Unterricht allein zu übernehmen, da der Junge solche Fortschritte mache, daß er sich nicht getraue, ihm irgendwelche Bemerkung zu machen. In der Tat waren die Fortschritte bedeutend, ohne aber ein ungewöhnliches Talent zu verraten, sondern nur das Resultat von großem Fleiß und emsigem Eifer. Von nun an übernahm ich denn allein den Unterricht, und zwar gerne in gedoppelter Hinsicht, einmal, weil ich den Knaben schon liebgewonnen hatte, und sodann im Hinblick auf die Eltern, die für seine Ausbildung keine Opfer bringen konnten. Das Studium im praktischen Spiel ging vortrefflich, und es trat immer mehr Talent zutage. Wie ich aber später auch mit dem Kompositionsunterricht einen Anfang machte, zeigte sich eine seltene Schärfe des Denkens, die mich fesselte, und so unbedeutend auch die ersten Versuche im eigenen Schaffen ausfielen, so mußte ich darin doch einen Geist erkennen, der mir die Überzeugung gab, hier schlummere ein ungewöhnliches, großes, eigenartig-tiefes Talent. Ich ließ mir deshalb keine Mühe und Arbeit verdrießen, dasselbe zu wecken und zu bilden, um dereinst für die Kunst einen Priester heranzuziehen, der in neuer Weise das Hohe, Wahre, ewig Unvergängliche in der Kunst predige, und zwar durch die Tat selbst.«

In einem späteren Briefe ergänzt Marxsen das früher Gesagte: »Das erste selbst arrangierte Konzert gab Brahms im vierzehnten Jahre. Das Programm brachte außer Bach, Beethoven und Mendelssohn auch eine Nummer eigener Komposition: allerliebste Variationen über ein Volkslied, deren eine aus einem höchst gelungen ausgeführten Kanon bestand.« [5] Schon damals beim Kinde also die Vorliebe für das Volkslied, die auch, wie im Andante seines op. 1, Variationen über ein altdeutsches Minnelied, so in op. 2, 5 und 7 zum Ausdruck kommt und der er – seine letzte Herausgabe von sieben Heften deutscher Volkslieder beweist es – bis an sein Ende treu blieb. Schon damals auch seine Hinneigung zu Variation und Kanon, wie ja auch das erste der von ihm veröffentlichten Lieder: »Liebestreu«, op. 3, kanonisch gehalten ist. Und ferner, wie bedeutungsvoll: mit Bach und Beethoven, den Leitsternen seiner Künstlerschaft, tut er seinen ersten Schritt in die Öffentlichkeit.

Weitere Konzerte folgten; »auch unterstützte er«, laut Marxsen, »andere Konzertisten teils mit Solovorträgen, teils mit Begleitung zu Gesang etc. In den letzten paar Jahren vor seinem Weggang von Hamburg trat er aber nicht öffentlich auf, weil mir die Zeit zu kostbar erschien; denn dergleichen Intermezzi stören das Studium manchmal sehr bedeutend. Übrigens hat die Presse sich immer sehr anerkennenswert ausgesprochen über jene ersten Versuche.«

Durch Kalbeck erfahren wir, daß der Knabe schon 1843 eine Art Subskriptionskonzert mit Ausschluß des großen Publikums veranstaltete. Er debütierte dabei so glücklich, daß ein Unternehmer ihn für eine Tournee in Amerika zu gewinnen suchte. Die Eltern zeigten sich nicht abgeneigt. Doch sein verständiger und uneigennütziger Lehrer Cossel erkannte die Gefahr und bestürmte, um das Talent zu retten, eben damals Marxsen, Johannes als Schüler anzunehmen, indem er lieber selber auf die Genugtuung verzichtete, ihn ausschließlich weiter auszubilden.

In drangvoller Jugend und dem Kampfe um das tägliche Brot herangereift, trat Brahms im April 1853 seine erste Kunstreise an. Die nächste Veranlassung zu derselben gab die Bekanntschaft des ungarischen Violinvirtuosen Reményi, der in Hamburg viel Glück machte; mit ihm einigte er sich zu einer Konzertreise durch Norddeutschland. In Hannover lernte er Josef Joachim kennen, der sogleich lebhaftes Interesse für ihn faßte und innige freundschaftliche Beziehungen mit ihm anknüpfte, die sich bis zu Brahms' Tod erhalten und in einem eifrigen Briefwechsel ihren Niederschlag gefunden haben. Er wurde auch dem kunstliebenden König von Hannover vorgestellt, der ihn bei sich spielen ließ und ihn den kleinen Beethoven benannte.

»Brahms' Gedächtnis ist so erstaunlich«, schreibt uns Marxsen, »daß es ihm gar nicht einfiel, auf Konzertreisen Noten mitzunehmen. Beethoven und Bach nebst einer großen Anzahl der modernen Konzertpiecen von Thalberg, Liszt, Mendelssohn u. a. waren seinem Gedächtnis fest einverleibt, als er als zwanzigjähriger Jüngling seine erste Reise in die Welt antrat. Bald lernte Brahms auch Liszt in Weimar kennen, der den Außergewöhnlichen erkannte und als solchen ehrte. Während seines mehrwöchentlichen Aufenthaltes alldort wohnte er bei Liszt in dem Palais der Fürstin Wittgenstein. Liszt fand auch sehr viel Freude, die Kompositionen, die Brahms im Manuskript bei sich führte, zu spielen und vorzuspielen.« Besonders die C-dur-Sonate op. 1 errang seinen Beifall.

Nachdem er sich in Weimar von Reményi getrennt, ging Brahms, nach längerem Aufenthalt in Göttingen, wo damals Joachim lebte, nach Düsseldorf zu Robert Schumann, dem er bereits durch Briefe bekannt geworden war. »Das ist der, der kommen mußte«, schrieb dieser an Joachim und gab dem jungen Gast, der den Monat Oktober im tagtäglichen Verkehr mit ihm und seiner Gattin Clara verbrachte, den berühmten Geleitbrief in Gestalt des Artikels »Neue Bahnen« (in der einst von ihm selbst begründeten »Neuen Zeitschrift für Musik« am 28. Oktober 1853) in die Öffentlichkeit mit. Begeistert preist er ihn, der nicht, wie andere, uns »die Meisterschaft in stufenweiser Entfaltung bringe, sondern, der Minerva gleich, vollkommen gepanzert dem Haupte des Kronion entsprang. Und er ist gekommen, ein junges Blut, an dessen Wiege Grazien und Helden Wache hielten. Er heißt Johannes Brahms, kam von Hamburg, dort in dunkler Stille schaffend, aber von einem trefflichen und begeistert zutragenden Lehrer gebildet in den schwierigsten Satzungen der Kunst, mir kurz vorher von einem verehrten bekannten Meister empfohlen. Er trug auch im Äußeren alle Anzeichen an sich, die uns ankündigen: das ist ein Berufener. Am Klavier sitzend, fing er an, wunderbare Regionen zu enthüllen. Wir wurden in immer zauberischere Kreise hineingezogen. Dazu kam ein ganz geniales Spiel, das aus dem Klavier ein Orchester von wehklagenden und laut jubelnden Stimmen machte. Es waren Sonaten, mehr verschleierte Symphonien, – Lieder, deren Poesie man, ohne die Worte zu kennen, verstehen würde, obwohl eine tiefe Gesangsmelodie sich durch alle hindurchzieht, – einzelne Klavierstücke, teilweise dämonischer Natur von der anmutigsten Form, – dann Sonaten für Violine und Klavier, – Quartette für Saiteninstrumente, – und jedes so abweichend vom andern, daß sie jedes verschiedenen Quellen zu entströmen schienen. Und dann schien es, als vereinigte er, als Strom dahinbrausend, alle wie zu einem Wasserfall, über die hinunterstürzenden Wogen den friedlichen Regenbogen tragend und am Ufer von Schmetterlingen umspielt und von Nachtigallenstimmen begleitet. Wenn er seinen Zauberstab dahin senken wird, wo ihm die Mächte der Massen im Chor und Orchester ihre Kräfte leihen, so stehen uns noch wunderbarere Blicke in die Geheimnisse der Geisterwelt bevor. Möchte ihn der höchste Genius dazu stärken, wozu die Voraussetzung da ist, da ihm auch ein anderer Genius, der der Bescheidenheit, innewohnt. Seine Mitgenossen begrüßen ihn bei seinem ersten Gang durch die Welt, wo seiner vielleicht Wunden warten werden, aber auch Lorbeeren und Palmen; wir heißen ihn willkommen als starken Streiter.«

Allgemeines Aufsehen erregte dieser Heroldruf Schumanns in der musikalischen Welt, und »es gab«, schreibt uns Marxsen, »damals wohl nur einen Menschen in der Welt, der davon nicht überrascht war, und dieser bin ich wohl selbst. Ich wußte, was Brahms leistete, wie umfassend, gediegen seine Kenntnisse waren, welch hehres Talent ihm die gütige Vorsehung verliehen, und wie schön es im Aufblühen sich entfaltete. Aber Schumanns Anerkennung und Bewunderung war zugleich auch für mich eine große, große Freude; hatte ich doch dadurch die seltene Genugtuung, daß der Lehrer die rechten Pfade erkannt habe, um dem Talente seine Eigentümlichkeit zu bewahren und es so zur Selbständigkeit heranzubilden.«

Aller Augen richteten sich auf den so hoch Gepriesenen, neue, gewaltige Taten von ihm erwartend. Welchen Künstler hatte auch je ein ähnlicher, weit hinausschallender Willkommengruß gegrüßt? Als er dann im November nach Leipzig kam, bereiteten ihm seine Kunstgenossen daselbst bei Brendel, dem Redakteur der »Neuen Zeitschrift«, einen vielversprechenden Empfang; der anwesende Berlioz schloß ihn, nachdem er ihn gehört, sogar stürmisch in die Arme. Bei seinem öffentlichen Debüt am 17. Dezember im zweiten Abonnement-Quartett des Gewandhauses war nichtsdestoweniger der Erfolg seiner C-dur-Sonate und des Es-moll-Scherzos ein geteilter. Das Erscheinen seiner ersten Werke ans Schumanns Empfehlung bei Breitkopf & Härtel und Senff in Leipzig änderte nichts daran, – der Streit für und wider Brahms drang nur in weitere Kreise. Dabei blieb es auch nach Veröffentlichung der Arbeiten, die den drei ersten Sonaten und Liedern folgten: ein feuriges Klaviertrio op. 8, Variationen über ein Schumannsches Thema op. 9, poetische Balladen für Klavier op. 10. Warum zeigten sie alle auch schon ein auf sich selbst stehendes starkes Ich?

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Anmerkungen:

  1. »Johannes Brahms«. 2 Bde. Berlin, Deutsche Brahms-Gesellschaft.
  2. »Johannes Brahms in Erinnerungen«. Berlin, Gebr. Paetel
  3. Er war Schüler von Seyfried und Karl Maria von Bocklet in Wien und starb, 1806 geboren, 1887 in Altona.
  4. Brahms berichtigte brieflich diese Angabe: »Ich habe keine Volksschule besucht, sondern nacheinander mehrere sehr gute Bürgerschulen«.
  5. Wie sich diese Marxsensche Angabe mit den von Reimann (»Johannes Brahms«, Berlin, Harmonie) u. Kalbeck angeführten Programmen der zwei ersten von Brahms gegebenen Konzerte vertragen soll, wissen wir nicht zu erklären. Vielleicht beruht sie auf einer Verwechslung mit dem vorhergegangenen Subskriptionskonzert.
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