Frühjahr und Sommer 1833 fanden Mendelssohn schon wieder in London. Seine in Berlin vollendete A-Dur-Symphonie (die italienische, op. 90) brachte er im philharmonischen Konzert zur Aufführung. Dann unterbrach er seinen englischen Aufenthalt, um einer Einladung zur Direktion des rheinischen Musikfestes nach Düsseldorf zu folgen. Das Ergebnis war ein so allgemein befriedigendes, daß man ihn dort dauernd zu fesseln wünschte und für vorläufig drei Jahre als städtischen Musikdirektor engagierte. Er siedelte im Herbst nach der rheinischen Künstlerstadt über.

Seine amtliche Wirksamkeit daselbst erstreckte sich auf die Direktion des Gesangvereins, der Winterkonzerte und der Kirchenmusik. Dazu übernahm er mit Immermann gemeinschaftlich die Leitung einer Reihe von Theateraufführungen, sogenannter »Mustervorstellungen«. Während aber seine gesellschaftliche Stellung durch das erneute Zusammentreffen mit den ihm schon von Italien her befreundeten Meistern der Akademie eine ebenso angenehme war, als die städtischerseits von ihm bekleidete, entsprach seine Tätigkeit am Theater seinen Neigungen in so geringem Grade, daß er sich nach kurzer Zeit von derselben zurückzog. Nur einige wenige der erwähnten Mustervorstellungen dirigierte er; dann überwarf er sich mit Immermann, der, seiner Meinung nach, das Schauspiel auf Kosten der Oper bevorzugen wollte, indes Immermann Mendelssohn den umgekehrten Vorwurf machte, und legte seine Stelle als Musikintendant des Düsseldorfer Theaters nieder. Dichter und Musiker konnten einander nicht verstehen.[1] Zwar ließ sich letzterer durch die Bitten des Komitees bewegen, noch einige weitere Aufführungen zu leiten, sein Verhältnis zu Immermann aber blieb dauernd gestört, und an den ihm lästigen Verwaltungsgeschäften nahm er fernerhin keinen Anteil mehr. Sehr gemißbilligt ward dieser Schritt des jungen Künstlers von seinem Vater, dem, wie er selbst schrieb, die dramatische Karriere seines Sohnes »sehr am Herzen lag«. Ihm wollte es nicht eingehen, daß Felix' Abneigung gegen das Bühnenwesen in seinem Talent und Charakter begründet sein sollte, und das fortgesetzt ergebnislose Suchen eines Operntextes betrachtete er nur als eine Folge nicht genügenden Eifers in dieser Beziehung. Und doch leitete Mendelssohn hierin sicher sein künstlerischer Instinkt. Während sich ihm jede andere Kunstform leicht und ungezwungen ergab, widerstrebte diese eine realistischste von allen dem Vermögen seiner der »rauhen Wirklichkeit abgekehrten« Natur, ob ihn auch Zeit seines Lebens das Verlangen nach dramatischem Gestalten nicht verließ. Gerade die Düsseldorfer Episode mit dem sich seinerseits deutlich kundgebenden Widerwillen gegen den Bühnenmechanismus bezeugt dies zur Genüge, wie es durch einen späteren Versuch des weiteren beglaubigt wird.

Eine seinen Neigungen ungleich angemessenere, dabei äußerst erfolgreiche Tätigkeit war Mendelssohn bei Leitung der Konzert- und Kirchenmusik in Düsseldorf beschieden. Seinen Bestrebungen gelang es, das musikalische Leben daselbst wie in anderen benachbarten rheinischen Städten auf eine dort bisher noch nicht erlebte Höhe emporzuheben. Zugleich erwies sich seine Stellung als seiner eigenen künstlerischen Entwicklung äußerst förderlich. Nicht allein, daß sein großes Direktionstalent, wie seine Fähigkeit, auch mit minder erlesenen Kräften künstlerische Leistungen zu erzielen, hier vorzugsweise ausgebildet wurde, es bot sich ihm dabei hinlängliche Muße, Neues zu schaffen, und die Gelegenheit, das Neugeschaffene zur Aufführung zu bringen. So lud er einmal sämtliche Orchestermitglieder zu einem Souper ein, um mit ihnen seine neue »Ouvertüre zum Märchen von der schönen Melusine« zu probieren, jene zarte Naturpoesie atmende Tondichtung, die er selbst als »die beste und innerlichste, die er gemacht«, bezeichnet. Von seinen übrigen in Düsseldorf entstandenen Kompositionen sind zunächst ein zweites Heft der Lieder ohne Worte op. 30, die Lieder für eine Singstimme op. 34, und »drei Volkslieder für Chor« (Heines »Tragödie« op. 41) zu erwähnen. In den letztgenannten betritt er zum ersten Male ein Gebiet, auf dem ihm ungewöhnliche Erfolge bestimmt waren. Macht sich schon in seinen Liedern in der häufigen Wiederkehr gewisser harmonischer Wendungen und Formeln, dem Vorwalten der Melodik über die Harmonik, der Gesamtstimmung über die Einzelstimmung ein volkstümliches Element geltend (man denke nur an: »Es ist bestimmt in Gottes Rat«!), so gelangt dasselbe in seinen vierstimmigen Gesängen – ein so salonfähiges Äußere sie tragen – zu noch entschiednerem Ausdruck. Sind nicht beispielsweise »Wer hat dich, du schöner Wald« und »O Täler weit, o Höhen!« längst in den Volksbesitz übergegangen? Hier fühlt er sich in der ihm natürlichen Sphäre, seine Eigenart findet sich nirgend gehemmt, nirgend sieht sie Ansprüche an sich gestellt, die nicht innerhalb der Grenzen ihrer Begabung lägen. Was Mendelssohns einstimmigen Liedern im Vergleich zu denen Schuberts und Schumanns mindere Bedeutung gibt, der schon erwähnte Mangel an Schärfe der Charakteristik und dichterischer Individualisierung, läßt ihn, insofern es mit einem seingebildeten Sinn für Gesamtstimmung Hand in Hand geht, in seinen Chorliedern um so größer erscheinen. Mit ihnen gab er der ganzen Gattung eine neue Basis und führte dieselbe, seine an Bach und Händel geschulte Technik des Chorsatzes verwertend und gleichzeitig seine eigene Individualität, wie den Musikgeist seiner Zeit darin widerspiegelnd, selbst zu hoher Vollendung.

Die hervorragendste schöpferische Tat der Düsseldorfer Epoche: das 1833 begonnene Oratorium »Paulus«, war, obwohl schon rüstig vorwärts geschritten, doch noch nicht zum Abschluß gekommen, als Mendelssohn im Juli 1835, nachdem er zuvor noch das in Köln stattfindende niederrheinische Musikfest geleitet hatte, von Düsseldorf schied, um einem Rufe nach Leipzig als Dirigent der »Gewandhaus-Konzerte« Folge zu leisten. Am 4. Oktober erschien er mit seiner Ouvertüre »Meeresstille und glückliche Fahrt« zum erstenmal vor der Zuhörerschaft derselben und eröffnete damit seine Tätigkeit an einem Orte, dem er hinfort bis an sein frühes Ende mit Liebe angehörte.

Was Mendelssohn dem Musikleben Leipzigs geworden, ist bekannt, und daß dies letztere ihm vor allen seine musikalische Weltberühmtheit dankt. Aus einer Pflegestätte der Tonkunst, die es von alters her gewesen, erhob er es zum Mittelpunkt des deutschen Musiklebens, der als solcher lange Zeit die Oberherrschaft in Deutschland behauptete. Als Dirigent, als Klavierspieler und Komponist, ja später auch als Lehrer gleichzeitig wirkend, war Mendelssohn nicht allein berufen, das seiner Leitung anvertraute alte Kunstinstitut zu ungeahnter Höhe emporzuführen: er ward auch der Bildner des Publikums, der mehr als irgend einer der ihm vorangegangenen Meister, den künstlerischen Sinn desselben vertiefen und verbreiten, den Geschmack läutern und veredeln half. So ist es gekommen, daß die Zeit, in der Mendelssohn in Leipzig lebte und wirkte, noch heute als »die goldene Zeit« in der Erinnerung lebt. Es war die musikalische Glanzepoche Leipzigs, und solch reicher Glanz entströmte ihr, daß die alte Musikstadt noch heute vom Lichte dieser längst untergegangenen Sonne verklärt erscheint.

Indessen fand sich der Meister selber so angemutet von seinem neuen Wirkungskreis, daß er sich im Vergleich zu dem eben verlassenen »im Paradiese glaubte«. Die Liebenswürdigkeit seines Wesens, sein Humor, seine geselligen Talente machten ihn binnen kurzem zum Liebling der Gesellschaft, ja die Verehrung für ihn steigerte sich bis zum Kultus. Auch auf das Orchester wirkte er elektrisierend; mehr durch seine Blicke als durch seinen Taktstock unterwarf er sich die einzelnen Orchestermitglieder und machte sie sich in begeisterter Hingebung zu eigen. »Meine Stellung hier«, schreibt er seinem Freund Rosen, »ist von der allerangenehmsten Art. Willige Leute, ein gutes Orchester, – das empfänglichste, dankbarste musikalische Publikum, – dabei gerade so viel zu tun, als mir lieb ist, Gelegenheit, meine neuen Sachen sogleich zu hören; auch hübschen Umgang habe ich vollauf, und das wäre wohl alles, was man zum Glück brauchte, wenn das nicht tiefer säße!« Die letzten Worte beziehen sich auf einen schweren Verlust, der Mendelssohn nur wenige Wochen nach seiner Übersiedelung nach Leipzig traf: den am 19. November 1835 erfolgten plötzlichen Tod seines Vaters, der den harmonischsten Familienkreis seines Hauptes beraubte. »Ich habe an meinem Vater so ganz und gar gehangen«, äußert er, »daß ich nicht weiß, wie ich mein Leben nun fortsetzen werde, weil ich nicht bloß den Vater entbehren muß, sondern auch meinen einzigen ganzen Freund während der letzten Jahre und meinen Lehrer in der Kunst wie im Leben.« Aber er gelobt sich in seinem Sinne weiter zu arbeiten und fortzuschreiten, weil »sein Hauptwunsch das Fortschreiten war«.

Wie treu er an der Betätigung dieses Vorsatzes festgehalten hat, weiß die Welt. Der flüchtigste Blick auf seine Leistungen schon bekundet, daß er ein Recht hatte zu sagen: »Ich habe durchaus nicht eine Philosophie, die mir Bequemlichkeit anrät oder doch wenigstens entschuldigt.« So führte er schon in der ersten Zeit seiner Wirksamkeit in Leipzig manche heilsame Neuerung ein. Während nach der auch hier noch üblichen alten Praxis bisher der Konzertmeister vom ersten Geigenpult aus die Orchesteraufführungen geleitet hatte, übernahm Mendelssohn nun die Direktion derselben aus der Partitur. Auch ließ er sich's angelegen sein, das Publikum mit den Werken neuerer wie älterer Meister – namentlich mit den unbekannteren Schöpfungen Bachs, Handels und Beethovens – bekannt zu machen, und brachte beispielsweise des letzteren neunte Symphonie schon in den ersten Wochen des Jahres 1836 zu wahrhaft epochemachender Aufführung. Gleichzeitig machte er sich durch den Gewinn junger hervorragender Kräfte, wie in erster Linie des ihm nahe befreundeten Geigenvirtuosen Ferdinand David, verdient, der im Februar 1837 als Konzertmeister in das Gewandhausorchester eintrat und mit Mendelssohn gemeinsam die Kammermusikaufführungen zu gleichem Ruf wie die Konzerte brachte, 1873 aber auch dem Leipziger Kunstleben entrissen wurde.[2] Von Mendelssohn angezogen, erschienen auch andere Künstler – so bald nach seiner Ankunft Moscheles und Chopin, wie später Hiller, Gade, Berlioz u. a. – als mehr oder minder flüchtige Gäste in Leipzig. Seinen jüngeren Berufsgenossen war er ein unermüdlicher Freund; wohlwollend im Urteil, hilfreich in Rat und Tat, hat er sich von jeglichem finden lassen, der ihn suchte.

Einer so ausgedehnten praktischen Tätigkeit gegenüber erscheint die Beschränkung seiner schöpferischen als natürliche Folge, und so ergab sich als künstlerische Ausbeute der Jahre 1835 und 36 denn auch im wesentlichen nur eine Reihe von »Präludien und Fugen für Pianoforte« op. 35 und die Vollendung des »Paulus«. Gelangt in ersteren schon das Bestreben Mendelssohns zum Ausdruck, die alten Formen mit neuem Geist zu erfüllen und an die Stelle verstandesmäßiger Satzkünste individuelles Leben zu setzen, so kommt dasselbe in ähnlicher Weise im »Paulus« zur Erscheinung. Die Passion Bachs, das Oratorium Händels zeigen sich – wenn auch nicht ohne eine gewisse Stilwidrigkeit miteinander vermischt – verjüngt in dieser aus der Gefühlssphäre des neunzehnten Jahrhunderts herausgewachsenen Schöpfung; so wenig letztere, das Resultat eines von Grazie und Frohmut erfüllten jugendlichen Geistes, sich zu messen vermag an der unergründlichen Tiefe dieses einen und der grandiosen Gewalt jenes andern. Die alte Strenge und Herbheit der Empfindung und Formgebung erscheint gemildert, junger Gefühlsromantik angepaßt. An die Stelle des jene älteren Tonwerke durchdringenden innersten Glaubenslebens ist eine mehr poetische als religiöse Anschauung des Christentums und seiner Verlebendigung im Kunstwerk getreten. Der Gang der Handlung, das Auftreten des Chorals, die Teilung des Chors und der Einzelnen in handelnde und betrachtende Massen und Personen halten sich an das Vorbild der Matthäus-Passion. Eine bevorzugte Stellung ist dem Chor eingeräumt, der nach antikem Muster zumeist nur betrachtend oder mitempfindend eintritt, die Erzählung jedoch nicht wie in der Bachschen Passion (im Evangelisten) personifiziert, sondern unter verschiedene Stimmen verteilt. Herrscht im ganzen ein lyrisches, elegisches Element vor, so entbehrt doch einzelnes nicht der dramatischen Charakteristik. Nur fehlt eine stetig sich entwickelnde, konsequente Steigerung. Bereits mit dem ersten Teil erscheint der Höhepunkt erreicht, und nach der verklärten Stimmung der Stephanus-Episode dämpft sich die Wirkung der folgenden Szenen, trotz schöner musikalischer Einzelzüge und Nummern, fühlbar ab. Dennoch bleibt der »Paulus« eine der edelsten Taten auf dem Gebiet des Oratoriums. »Ein Werk des Friedens und der Liebe« nannte ihn Schumann.

Mendelssohns künstlerische Persönlichkeit war überhaupt ihrem innersten Wesen nach eine friedliche, nicht die eines kühnen Neuerers. Nicht bahnbrechend hat er gewirkt, nicht eine neue Welt ureigener Ideen ans Licht gerufen. Wohl war sein Leben und Streben Fortschritt, doch jener Fortschritt, der sich seinem künstlerischen Bewußtsein als der ihm allein gemäße ergab: ein Fortschritt aus der Gegenwart durch die Vergangenheit hindurch, ein Fortschritt, der zugleich ein Zurückgreifen in sich faßte, mehr ideeller, als formeller Natur, und darum widerstandslos aufgenommen, während neue Formen sich erst mühsam Boden gewinnen müssen. Ob auch vielfältig nachgeahmt von kleineren Geistern, hat doch keiner derselben seine Bahnen in Wahrheit weiter zu führen vermocht. Die Vermittlung alten und neuen Geistes war ihm beschieden; den späteren Meistern blieb die undankbarere, vielbestrittene Aufgabe vorbehalten, einen den Empfindungen und Anschauungen einer jüngeren Generation entsprechenden Ausdruck, eine aus ihrem Geiste sich herausgestaltende Form erst zu schaffen.

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Anmerkungen:

  1. Siehe Fellner, »Geschichte einer deutschen Musterbühne. Immermanns Leitung des Stadttheaters zu Düsseldorf.« Stuttgart, Cotta. 1888.
  2. Die Beziehungen beider Künstler beleuchtet Julius Eckardts »Ferd. David und die Familie Mendelssohn Bartholdy«, Leipzig, Duncker & Humblot. 1888.
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