Der Mond ist aufgegangen

Der Mond ist aufgegangen wurde 1790 vom Matthias Claudius als religiöses Abendlied geschrieben. Vertont wurde es noch im selben Jahr vom Hofkapellmeister Johann Abraham Peter Schulz.

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Musiknoten zum Lied - Der Mond ist aufgegangen

Der Mond ist aufgegangen,
die goldnen Sternlein prangen
am Himmel hell und klar;
der Wald steht schwarz und schweiget,
und aus den Wiesen steiget
der weiße Nebel wunderbar.

Wie ist die Welt so stille
und in der Dämmrung Hülle
so traulich und so hold,
als eine stille Kammer,
wo ihr des Tages Jammer
verschlafen und vergessen sollt!

Seht ihr den Mond dort stehen?
Er ist nur halb zu sehen,
und ist doch rund und schön!
So sind wohl manche Sachen,
die wir getrost verlachen,
weil unsre Augen sie nicht sehen.

Wir stolze Menschenkinder
sind eitel arme Sünder
und wissen gar nicht viel;
wir spinnen Luftgespinste
und suchen viele Künste
und kommen weiter von dem Ziel.

Gott, laß dein Heil uns schauen,
auf nichts Vergänglichs trauen,
nicht Eitelkeit uns freun;
laß uns einfältig werden
und vor dir hier auf Erden
wie Kinder fromm und fröhlich sein!

Wollst endlich sonder Grämen
Aus dieser Welt uns nehmen
Durch einen sanften Tod!
Und, wenn du uns genommen,
Laß uns in Himmel kommen,
Du unser Herr und unser Gott!

So legt euch denn ihr Brüder
in Gottes Namen nieder.
Kalt ist der Abendhauch.
Verschon uns, Gott, mit Strafen
und laß uns ruhig schlafen
und unsern kranken Nachbarn auch.

Der Mond ist aufgegangen ist die Anfangszeile eines Gedichts, das der Hamburger Dichter Matthias Claudius (1749-1815) im Jahr 1779 unter dem Titel Abendlied im Musen Almanach für 1779 veröffentlicht, aber wohl schon ein Jahr früher geschrieben hat. Als Lied ist es heute nur noch unter seiner Anfangszeile Der Mond ist aufgegangen bekannt.

Im Jahr 1790 veröffentlichte Johann Abraham Peter Schulz (1747-1800) eine Vertonung des Gedichts in der Sammlung Lieder im Volkston, bey dem Claviere zu singen. Mit der Melodie von Schulz steht das Lied auch im Evangelischen Gesangsbuch (EG 482) und seit 2013 auch im katholischen Gotteslob (Nr. 93). Das war aber nicht immer so. Noch bis ins 20. Jahrhundert hinein wurde das Lied meistens mit der Melodie von Heinrich Isaac verknüpft, nach der auch das Abendlied Nun ruhen alle Wälder gesungen wird, denn auch auf diese Melodie kann das Abendlied gesungen werden. Dies war kein Zufall, denn Paul Gerhardts (1607-1676) Gedicht aus dem Jahre 1647 war wohl eine Vorlage für das Gedicht von Matthias Claudius, das auch als christliches Gedicht aufgefasst wird.

Das Abendlied gehört heute zu den beliebtesten deutschen Gesangstexten. Der Schriftsteller Florian Russi hat es als eines der schönsten Zeugnisse um Religiosität und Menschlichkeit bezeichnet: Das Lied ist Unterrichtsstoff in den Schulen - und doch kennen die meisten von uns nur noch die ersten Zeilen auswendig:

Der Mond ist aufgegangen,
die goldnen Sternlein prangen
am Himmel hell und klar;

Bei den Worten des ersten Verses, Der Mond ist aufgegangen, kommt uns zuerst der Begriff Kinder- und Schlaflied in den Sinn. Und die letzten drei Verse des Gedichts scheinen dies zu untermauern:

Verschon uns, Gott, mit Strafen
und laß uns ruhig schlafen
und unsern kranken Nachbarn auch.

Doch das eigentliche Thema des Gedichts ist der Glaube an und das Vertrauen in Gott und dessen Wirken. Claudius zeichnet ein Stimmungsbild, das mit dem Widerspruch von Glauben und Wissen spielt.

Die ersten beiden Strophen malen noch ein romantisch verklärtes Bild der Welt, das uns beruhigen soll. Die stille und dunkle Welt soll uns ein Gefühl der Geborgenheit und der Ruhe vermitteln. Wir sollen »des Tages Jammer verschlafen und vergessen« denn, so die Intention Claudius‘, Gott wird uns schon beschützen, wir müssen ihm nur vertrauen und an ihn und seine Macht glauben.

Das Wissen um das Nichtwissen

Vertrauen in Gott, glauben an Gottes Macht? Das war schon immer ein mentaler Balanceakt. Denn einerseits sehen wir die Welt mit unseren Augen, erkunden sie und lernen die Gesetze der Natur zu verstehen. Andererseits können wir unseren Augen nicht vertrauen und unseren Gedanken auch nicht. Wir glauben, etwas zu sehen. Doch ist die Welt wirklich so wie wir sie sehen?

Als Matthias Claudius sein Abendlied dichtete, befand sich Europa in der zweiten Hälfte der Epoche der Aufklärung, in der die Menschen anfingen ihre Existenz zu hinterfragen und glaubten, durch rationales Denken alles erklären zu können. Es herrschte Optimismus, Selbstvertrauen und der Glaube daran, dass man alles wissenschaftlich auf- und erklären könne.

Claudius hielt seinen Mitbürgern einen Spiegel vor und zeigte ihnen mit einfachsten Mitteln ihre Grenzen auf. In der dritten Strophe zertrümmert Claudius den Glauben an das, was wir zu sehen meinen:

Seht ihr den Mond dort stehen?
Er ist nur halb zu sehen,
und ist doch rund und schön!

Von der Erde aus betrachtet ist der Mond eine Scheibe, obwohl er eine Kugel ist. Doch das können wir von der Erde aus nicht wirklich sehen, wir sehen aufgrund der Entfernung lediglich den Umriss der Kugel als Kreis. Claudius folgert daraus:

So sind wohl manche Sachen,
die wir getrost verlachen,
weil unsre Augen sie nicht sehen

Und damit sät Claudius Zweifel am Erkenntnishorizont seiner Mitmenschen. Wenn wir unseren Augen nicht trauen können, können wir dann unseren Gedanken trauen? »Ich weiß, dass ich nichts weiß« hieß es schon in der Antike.

Wie der Mond, den man von der Erde aus nicht ganz sieht, der aber doch da ist, gibt es Dinge über die der Mensch lacht, die er nicht ernst nimmt, weil er sie nicht sehen kann:

So sind wohl manche Sachen,
die wir getrost verlachen,
weil unsre Augen sie nicht sehen.

Doch wem und was sollen wir vertrauen? Für Matthias Claudius gibt es darauf nur eine Antwort: Gott! Er glaubt and Gottes Macht und Wirken und daran, dass wir ohne ihn nichts ist und nichts sein kann. Dieser tiefe Glaube durchzieht das Lied Der Mond ist aufgegangen, es hält uns einen Spiegel vor, der uns zeigen soll, dass unser Wissen und Wirken begrenzt ist.

Wir stolze Menschenkinder
sind eitel arme Sünder
und wissen gar nicht viel

Wir sehen Gott zwar nicht, aber ist er deshalb nicht existent? Für Claudius ist die Antwort klar. Sein Gedicht beginnt mit der Feststellung »Der Mond ist aufgegangen«, wir sind müde, brauchen Erholung. Doch wir müssen uns keine Sorgen machen, denn Gott wacht über uns während wir schlafen. Drum: »So legt euch denn ihr Brüder in Gottes Namen nieder.«

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Tom Borg, 25. August 2023

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