Zum neuen Jahr

(Zwischen dem Alten, zwischen dem Neuen)

Zum neuen Jahr ist ein Gedicht von Johann Wolfgang von Goethe in der Vertonung von Johann Friedrich Reichardt

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Musiknoten zum Lied - Zum neuen Jahr

Zwischen dem Alten
zwischen dem Neuen,
hier uns zu freuen
schenkt uns das Glück,
und das Vergangne
heißt mit Vertrauen
vorwärts zu schauen,
schauen zurück.

Stunden der Plage,
leider, sie scheiden
Treue von Leiden,
Liebe von Lust;
bessere Tage
sammeln uns wieder,
heitere Lieder
stärken die Brust.

Leiden und Freuden,
jener verschwundnen,
sind die Verbundnen
fröhlich gedenk.
O des Geschickes
seltsamer Windung!
Alte Verbindung,
neues Geschenk!

Dankt es dem regen,
wogenden Glücke,
dankt dem Geschicke
männiglich Gut;
freut euch des Wechsels
heiterer Triebe,
offener Liebe,
heimlicher Glut!

Andere schauen
deckende Falten
über dem Alten
traurig und scheu;
aber uns leuchtet
freundliche Treue;
sehet, das Neue
findet uns neu.

So wie im Tanze
bald sich verschwindet,
wieder sich findet
liebendes Paar,
so durch des Lebens
wirrende Beugung
führe die Neigung
uns in das Jahr.

Zum neuen Jahr ist ein Gedicht von Johann Wolfgang von Goethe (1749-1832) aus dem Jahr 1802. Hier in der Vertonung von Johann Friedrich Reichardt (1752-1814) aus dem Jahr 1809 nach Ludwig Erks Deutscher Liederschatz, Band 3 Nr. 200.

»Zwischen dem Alten zwischen dem Neuen« ist der Moment des Jahreswechsels, am Abend des 31. Dezember um Mitternacht. Es ist eine Station im Leben für einen Jeden von uns: wir haben ein Jahr hinter uns gebracht, mal mit Freuden, mal mit Sorgen, doch das Jahr ist überstanden und ein neues steht bevor. Grund genug, einen Moment inne zu halten und abgelaufene Jahr Revue passieren zu lassen. Für Goethe ist dieser Moment ein Geschenk, mit seinen Worten: »hier uns zu freuen schenkt uns das Glück«.

Es ist aber auch ein Moment des Bilanzierens, des Fragens, wie denn das vergangene Jahr eigentlich war und wie das neue werden wird. Für Goethe, der Zeit seines Lebens auf der Sonnenseite stand und sich selten um etwas Sorgen machen musste, war es leicht, mit Zuversicht und Optimismus in die Zukunft zu schauen. Doch er spricht für uns alle, wenn er in der zweiten Strophe von »Stunden der Plage« schreibt und sich bewusst ist, dass für uns alle das Leben auf und ab geht. Dass wir in »Stunden der Plage« geprüft werden, denn sie »scheiden Treue von Leiden, Liebe von Lust«. Doch es kommen wieder bessere Tage. Für Goethe besteht daran kein Zweifel. So gedenkt er auch dem Kommen und Gehen von Zeit und Leben. Das Alte muss vergehen, damit das Neue entstehen und erblühen kann.

Goethe war sich bewusst, dass Licht und Schatten wie Glück und Leid zusammengehören. Das eine ist ohne das andere nicht möglich. Doch er schaut mit Zuversicht in die Zukunft, die mit dem neuen Jahr anbricht. Doch, um das Neue zu erleben, müssen wir das Alte loslassen. Wir müssen das Vertraute loslassen, damit wir den Schritt zum Neuen tun können. Diesen Schritt tun wir eigentlich jeden Tag. Doch zum Jahreswechsel ist es ein besonderer, weil symbolischer, Schritt vom Alten zum Neuen. Und so ist Goethes sechste Strophe nicht nur ein Wunsch, sondern auch ein Ausdruck seiner Überzeugung, dass sich im Leben alles fügt und alles findet, das zusammengehört. Und dass es so kommen möge, ist sein Toast auf das neue Jahr.

Tom Borg, 28. November 2023

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