Joachim August Zarnack (1777–1827) war Lehrer und Direktor des Potsdamer Militärwaisenhauses. 1820 veröffentlichte er seine Sammlung »Deutsche Volkslieder mit Volksweisen für Volksschulen«. Für diese schrieb er ein Lied mit dem Titel O Tannenbaum auf eine altbekannte Weise.
Die Melodie übernahm Zarnack von dem Lied Es lebe hoch der Zimmermannsgeselle, welches durch das seit 1799 mehrfach aufgelegten »Mildheimisches Liederbuch von 518 lustigen und ernsthaften Gesängen über alle Dinge in der Welt und alle Umstände des menschlichen Lebens, die man besingen kann«, des Volksaufklärers Rudolph Zacharias Becker (1752–1822) eine gewisse Bekanntheit erlangt hatte.
Mit Weihnachten hatte Zarnacks O Tannenbaum jedoch nichts im Sinne. Vielmehr griff das Lied auf ältere mundartliche Fragmente zurück sowie Clemens von Brentanos Übersetzung ins Hochdeutsche:
O Tannebaum, o Tannebaum!
Du bist ein edles Reis!
Du grünest in dem Winter,
Als wie zur Sommerszeit!
Zarnack machte daraus die Verse der ersten Strophe, die den immergrünen Baum als Symbol der Beständigung nutzte, der treue Baum, der immer blühlt.
In den weiteren Strophen seines Gedichts besang er die Unbeständigkeit und Untreue eines Mädchens in poetisch bildhafter Sprache, deren Bilder im Kontrast zur ersten Strophe stehen.
O Mägdelein, o Mägdelein,
Wie falsch ist dein Gemüte!
Des Mädeleins falsches und flatterhaftes Wesen beschreiben die beiden Folgestrophen durch weitere der Natur entlehnte Bilder: "Die Nachtigall […] sie bleibt so lang der Sommer lacht". Doch dem Sänger war das Glück offenbar nicht allzu hold. Sein Mädchen schwor ihm die »Treu in meinem Glück«, doch nun ist er arm - und das Mädelein weg.
Auch der »Bach im Thal« muss als Vergleich herhalten. »Er strömt allein, wenn Regen fließt«. Hört es auf zu regnen, so versiegt auch der Bach. Die Liebe des Mädchens floss nur so lange, wie der Säger ihr ein angenehmes Leben bieten konnte. Kaum war er arm, war es mit der Liebe vorbei.
Zarnack verdeutlich mit diesen bunten Bildern sehr schön seine Gedanken, die damit auch Schulkindern verständlich werden. Es mag zur Verbreitung des Liedes beigetragen haben. Tatsächlich wurde Zarnacks Lied von der enttäuschten Liebe auch dann noch gesungen, als längt Ernst Anschütz - ebenfalls Lehrer - die Naturbilder des Liebesleids entfernte und durch zwei geistliche Verse ersetzte.
Beide O Tannenbaum Versionen könnten textlich kaum unterschiedlicher sein, trotz der gemeinsamen ersten Strophe.
In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts setzte sich dann aber schließlich doch die besinnlich religiöse Fassung von Ernst Anschütz durch. Nicht zuletzt weil im bürgerlichen Milieu die Tanne immer weniger als Sinnbild der Treue sondern mehr als Weihnachtsbaum gesehen wurde. Dabei verknüpft jedoch auch Anschütz die Treue der Tanne mit der Treue und Verlässlichkeit Gottes, was insbesondere die dritte Strophe hervorhebt:
O Tannenbaum, o Tannenbaum,
dein Kleid will mir was lehren:
die Hoffnung und Beständigkeit
giebt Trost und Kraft zu jeder Zeit!
Tom Borg, 10. Dezember 2016