Ingeborg Weber-Kellermann (Das Buch der Weihnachtslieder, Schott, ISBN 3-7957-8213-9, 8. Auflage, 1994, S. 81) bezeichnet dieses aus dem Münsterischen Gesangbuch von 1677 stammende Lied als »optimistisches Hirtenlied, das einen Anklang an Stille Nacht, heilige Nacht suggeriert.« In der heute gebräuchlichen Form werden meist nur die Strophen 1-3 und 6 gesungen.
Der Text dieses häufig gesungenen katholischen Kirchenlieds orientiert sich an der in der Bibel überlieferten Weihnachtsgeschichte, wo die Hirten aufgefordert werden, nach Bethlehem zu gehen und dort das himmlische Kind zu begrüßen. In O selige Nacht! erscheint ein »Bote der Freude« einem Hirten, der stellvertretend für alle Menschen angesprochen wird und die Worte vernimmt: »Ihr waret verloren, heut’ ist euch geboren der Heiland, der allen das Leben verspricht«.
Somit ist das Lied O selige Nacht! symbolisch gesehen ein Ausdruck der Freude und des Jubels über die Geburt Jesu Christi, der uns alle ansprechen und ermutigen soll, symbolisch, im Geiste, den Weg nach Bethlehem zu gehen, so wie ihn einst die Hirten gingen. Wir sollen das Kind in der Krippe annehmen und damit den christlichen Glauben, der uns das ewige Leben verspricht.
Dieser geistlichen Hinwendung des Textes mag es geschuldet sein, dass O selige Nacht! nicht die Verbreitung anderer populärer Weihnachtslieder erreichte. Für das Singen im Familienkreis ist der Liedtext schlicht zu geistlich und vor allem Kindern nur sehr schwer nahezubringen. Im Vergleich zu anderen populären Liedern fehlt O selige Nacht! der Schwung, der auch jenseits der christlichen Botschaft begeistern kann. Dies spiegelt sich auch in den Videos auf YouTube, wo Chorgesänge und Instrumentalarrangements vorherschen. Aufnahmen von bekannten Solokünstlern aus Pop und Schlager sucht man vergeblich.
Tom Borg, 8. Oktober 2023