Müde bin ich, geh' zur Ruh'

Luise Hensel schrieb 1837 den Text Müde bin ich, geh zur Ruh' auf eine schlichte Melodie.

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Musiknoten zum Lied - Müde bin ich, geh' zur Ruh'

Müde bin ich, geh' zur Ruh',
Schließe beide Augen zu:
Vater, laß die Augen dein
Über meinem Bette sein!

Hab’ ich unrecht heut’ gethan,
Sieh’ es, lieber Gott, nicht an!
Deine Gnad’ und Jesu Blut
Macht ja allen Schaden gut.

Fern von mir sei Haß und Neid,
In mir Lieb’ und Gütigkeit.
Laß mich Deine Größe schaun,
Nur auf Dich, o Gott, vertraun.

Alle, die mir sind verwandt,
Gott, laß ruhn in deiner Hand,
Alle Menschen, groß und klein,
Sollen dir befohlen sein.

Hilf den Armen in der Not,
Sei auch gnädig uns im Tod.
Schenk uns Frieden, bann den Krieg.
Dir gehört der letzte Sieg.

Kranken Herzen sende Ruh’,
Nasse Augen schließe zu!
Laß den Mond am Himmel stehn
Und die stille Welt besehn!

In »Lieder von Luise Hensel« herausgegeben von Schlüter, Paderborn 1869; 10. Aufl. 1900, sind lediglich die Strophen 1, 2 , 4 und 6 angegeben (vgl. S.30f. Die wenig bekannten Strophen 3 und 6 stammen aus Theophil Rothenberg (Hrsg.): »Freude über Freude. Ein Liederbuch für die christliche Familie«, Berlin, 1971.

»Nachtgebet« mit der Anfangszeile Müde bin ich, geh' zur Ruh' dichtete Luise Hensel 1816 im Alter von 18 Jahren. Es wurde ihr bekanntestes Werk. Oder um mit Barbara Stambolis zu sprechen: "Eigentlich müßte es sogar heißen, das Gedicht ist bekannt, nicht die Autorin." (vgl. Stambolis, Barbara. 1999. Luise Hensel (1798-1876): Frauenleben in historischen Umbruchszeiten. Paderborner Beiträge zur Geschichte: Nr. 8. Paderborn. SH-Verlag) . Denn während Kinder bis in die heutige Zeit das Gedicht als Abendgebet sprechen, ist die Dichterin in weiten Kreisen längst in Vergessenheit geraten. Dabei war sie wohl eine imposante Frau.

Geboren 1798 als Tochter einer Pfarrfamilie in der Nähe von Berlin, wuchs Luise Hensel in Armut und den Wirren der Napoleonischen Kriege und der Revolutionsjahre auf. 1809 starb der Vater und die Familie zog nach Berlin. Dank des künstlerischen Erfolgs ihres Bruders Wilhelm als Zeichner hatten Luise und ihre Familie aber ein Auskommen. Später führte Wilhelm, der Fanny Mendelssohn heiratete, seine Schwester in den Salon der Familie Stägemann ein. Dort lernte sie unter anderem Wilhelm Müller und Clemens Brentano kennen, deren Werben sie jedoch ablehnte. Luise Hensel entschied sich für ein Leben mit Gott. 1818 konvertierte sie zum katholischen Glauben und legte 1820 ein Gelübde der Ehelosigkeit ab. In der Folgezeit arbeitete sie als Gesellschafterin, Erzieherin und Hauslehrerin - und lebte davon mehr schlecht als recht. Doch das hielt sie nicht von ihrer karitativen Arbeit ab. 1825 gründete sie mit zwei Freundinnen das Bürgerspital in Koblenz, in den Folgejahren als Lehrerin und Erzieherin.

Die dichterisch produktivsten Jahre ihres Lebens blieben ihre Jugendjahre. Die meisten ihrer Werke entstanden zwischen 1815 und 1820. Dennoch reichte diese Zeit aus, um die Anerkennung als eine bedeutende religiöse Dichterin zu erlangen. Doch am bekanntesten war und blieb ihr Gedicht »Müde bin ich, geh zur Ruh'«. Das Archiv deutscheslied.com listet über 70 Fundstellen in Liedersammlungen und Schulliederbüchern auf, darunter Bearbeitungen von so namhaften Komponisten wie Johann Abraham Peter Schulz, August Härtel und Friedrich Silcher.

Doch Müde bin ich, geh zur Ruh' brauchte keine Melodie zur Verbreitung. Vielmehr war es das Geschick, ihre innige und sehnsüchtige Frömmigkeit, den tiefen Glauben und das kindliche Gottvertrauen in ein volkstümlich-populäres Kindergebet zu fassen, dessen Sprache so einfach gehalten ist, dass auch kleinste Kinder sich die Worte merken können.

Kinder können den tieferen Sinn des Gebets noch nicht verstehen. Und dennoch hat ein Nachtgebet auch auf sie eine positive Wirkung. Denn nach einem turbulenten Tag ist es gar nicht so einfach, zur Ruhe zu kommen. Auch wenn es da heißt: »Müde bin ich, geh zur Ruh« - diese Ruhe muss erst einmal einkehren. Bei einem Kind wie auch bei uns Erwachsene.

Die Hektik des Tages treibt uns voran - und lässt uns abends schwer zur Ruhe kommen. Denn körperliche Ruhe bedeutet auch geistige Ruhe: das Abschütteln von Stress und Ängsten aller Art. Nicht umsonst war "zur Ruhe gehen" früher ein Synonym für "Schlafen legen". Man möchte ruhen, sich ausruhen. Dazu kann auch ein kurzes Gebet beitragen. Denn »Müde bin ich, geh' zur Ruh' « - es ist die Zeit dem Körper etwas Ruhe zu gönnen, zu schlafen.

Doch mit dem Schließen der Augen kommt nicht automatisch der Schlaf. Zu viele Ereignisse des Tages wollen Revue passieren, rütteln uns auf und machen uns gar Angst für den kommenden Tag. Hinzu kommen die inneren Urängste, die uns stets mit einem Auge wach bleiben lassen, bereit, bei einer Gefahr aufzuspringen. Doch mit Gottvertrauen bittet Luise Hensel: »Vater, laß die Augen dein, / Über meinem Bette sein!«. Wenn er über uns wacht, dann können wir Menschenkinder ruhig schlafen.

Auch begangene Fehltritte legt der Betende hoffnungsvoll in Gottes Hand. »Hab’ ich unrecht heut’ gethan, / Sieh’ es, lieber Gott, nicht an!«. Doch es ist mehr als die Hoffnung auf Vergebung. Die nachfolgenden Zeilen spiegeln Luise Hensels tiefen Glauben wider; sie ist sich sicher, dass »Deine Gnad’ und Jesu Blut / Macht ja allen Schaden gut«. Und mit dieser Gewissheit ist sie der ersehnten Ruhe einen deutlichen Schritt näher.

Das später ausgeprägte karitative Wirken Hensels zeigt sich auch in der vierten Strophe. Sie erbittet Gottes Schutz auch für ihren Familienkreis und gar für »Alle Menschen, groß und klein«. Sie sollen Gott befohlen sein.

Auch die "kranken Herzen" schließt sie in ihr Gebet mit ein, denkt an die unglücklichen Menschen und bittet Gott: "Nasse Augen schließe zu!" Denn wen Sorgen, Leid und Unglück plagen, der findet des Abends besonders schwer Ruhe.

Luise Hensels Zuversicht und Gottvertrauen spiegelt sich auch in den letzten 2 Versen ihres Gedichts wider. »Laß den Mond am Himmel stehn / Und die stille Welt besehn!« Hensel ist überzeugt davon, dass für alle Menschen die ersehnte Ruhe einkehren kann, wenn sie denn nur den lieben Gott alles richten lassen.

Darin liegt auch die Kraft des Gebets: der Glaube daran, dass es einen Gott gibt, der die Bitten erhört. Die Zuversicht, dass alles Unrecht des Tages vergeben wird und Gott über den Schlaf wacht und kein böser Geist die Ruhe stört. Mit dieser religiösen Gewissheit können wir uns beruhigen, sorgenlos in den Schlaf finden. Denn was soll schon passieren, wenn wir uns in Gottes Hände begeben? Wer diesen Glauben besitzt, für den wird Luise Hensels Gedicht »Müde bin ich, geh' zur Ruh'« zu einem Segensspender. Nicht zuletzt deshalb wurde das Gedicht über Generationen kleinen Kindern beigebracht. Es förderte die Gläubigkeit und brachte zugleich Ruhe in die kleinen Seelen - auf dass sie friedlich und sorgenfrei schlafen können.

Religiöser Zusatz

Die Strophen 3 und 5, die in »Lieder von Luise Hensel« nicht abgedruckt sind, sind nicht nur wenig bekannt, sie schlagen auch einen leicht anderen Ton an. Während die übrigen Strophen eher kindlich klingen und mit frommen aber lebensnahen Wünschen verbunden sind, wirken die beiden eingefügten Strophen eher abstrakt. Sie klingen - insbesondere Strophe 3 - eher nach einem kirchlichen Ritual.›Fern von mir sei Haß und Neid‹, das klingt so gar nicht nach einem Nachtgebet eines 18-jährigen Mädchens, sondern mehr nach dem Gebet eines Pfarrers von der Kanzel. Ob die Verse tatsächlich von Luise Hensel stammen, sei dahingestellt. Stimmiger ist Müde bin ich, geh' zur Ruh' in seiner Eigenschaft als »Nachtgebet«, so wie auch der von Luise Hensel gewählte Titel lautet, ohne diese beiden Strophen.

Claudia Nicolai, 19. November 2016

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