Es saß ein klein wild Vögelein

Das Volkslied aus Siebenbürgen ist bereits seit 1516 belegt

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Musiknoten zum Lied - Es saß ein klein wild Vögelein

Es saß ein klein wild Vögelein
auf einem grünen Ästchen;
es sang die ganze Winternacht,
die Stimm tat laut erklingen.
Es sang die ganze Winternacht,
die Stimm tat laut erklingen.

O sing mir noch, o sing mir noch,
du kleines wildes Vöglein!
Ich will um deine Federchen
dir Gold und Seide winden.

Behalt dein Gold und deine Seid,
ich will dir nimmer singen;
ich bin ein klein wild Vögelein,
und niemand kann mich zwingen.

Geh du herauf aus diesem Tal,
der Reif wird dich auch drücken.
Drückt mich der Reif, der Reif so kalt,
Frau Sonn wird mich erquicken.

Das Volkslied Es saß ein klein wild Vögelein stammt aus einer Zeit von vor 1516, als das Leben von harter Arbeit geprägt war. Die meisten Menschen waren arm und lebten in bescheidenen Verhältnissen. Meist waren sie schon froh, wenn sie mit ihrer Arbeit ihre Familie ernähren konnten. Damals war der Traum vom Märchenprinzen, der eine junge Schönheit vom Lande auf sein Schloss führt und heiratet, für die jungen Mädchen nur ein Traum, alberner Tratsch während der Arbeit. Die Realität sah anders aus. Da kamen keine Brautwerber von adeligen Prinzen, sondern Bedienstete von reichen Gutsherren, die mittellose Bauerstöchter auf die Schlösser der Herrschaft holten. Dort wurden sie in Gold und Seide gekleidet, um den reichen Herrschaften zu Diensten zu sein, wobei »zu Diensten« alles einschloss, wonach es den Gutsherren gelüstete. Und dennoch waren die Mädchen und jungen Frauen froh, dass sie auf diese Weise einen kleinen Zipfel vom besseren Leben erhaschen konnten.

Im Lied Es saß ein klein wild Vögelein symbolisiert das Vögelein ein solches Mädchen, das in Armut lebt und das Angebot bekommt, für einen Gönner zu singen, der sie in Gold und Seide kleiden will. »Ich will um deine Federchen dir Gold und Seide winden« lautet sein Angebot.

Doch das kleine, wilde Vögelein geht auf dieses Angebot nicht ein. Es möchte lieber seine Freiheit behalten, die Ungebundenheit und die Gewissheit eigene Entscheidungen treffen zu können und zu singen, wann und wo es mag, denn die Natur bietet ihm alles, was das Vögelein braucht zum Leben und zum Glücklichsein.

Diese poetischen Zeilen, die auf den ersten Blick wie ein Allerweltgedicht anmuten, zeichnen ein Bild von Freiheit und Ungebundenheit, symbolisiert durch das kleine Vögelein, das sich nicht verleiten lässt, für Gold und Seide zu singen. Es widersteht den Verlockungen und stellt seine Freiheit und Unabhängigkeit über die materiellen Belohnungen.

Die Naturmetaphern, wie der Reif, der das Vögelchen vielleicht drückt, und die erwähnte Erlösung durch die Sonne, fügen dem Liedtext weitere Bilder hinzu, die Verlockungen oder Herausforderungen symbolisieren mögen. Gleichzeitig liefern sie aber auch die metaphorische Botschaft, dass Widrigkeiten überwunden werden können. Die Freiheit aber ist und bleibt ein elementares Gut. Ohne Freiheit oder auch Gesundheit ist alles Gut und Geld nichts wert. Und so hat sich vor 500 Jahren auch manches Mädchen einem Gutsherrn verweigert, indem es lieber die Armut in Freiheit wählte, anstatt als des Gutsherrn privates Spielzeug zu leben. So, wie das kleine Vögelein in unserem Lied.

Tom Borg, 14. Februar 2024

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