Das »Lied der Deutschen«, dessen dritte Strophe heute die Nationshymne Deutschlands ist, hat eine wechselvolle und teils wenig rühmliche Geschichte hinter sich.
Der Literaturwissenschaftler Jost Hermand beispielsweise hielt es 1979 für unmöglich, die Intention des Lieds von seiner historische Rezeption zu trennen. »In Sieben Arten an Deutschland zu leiden« (Band 2141 der Athenäum Taschenbücher, Verlag Athenäum, 1979, S. 73) schrieb er:
"Dieses Gedicht hat nun einmal nicht nur eine Intention, sondern auch eine Rezeption. Und die ist eindeutig negativ. Schließlich hat man es seit 1914 so stark mit falschen Gehalten aufgeladen und angeheizt, daß seine Herkunft allmählich immer unwichtiger wurde."
Es genüge demnach nicht, das »Lied der Deutschen« einfach durch einen Hinweis auf seine demokratische Vergangenheit zu rechtfertigen.
Nun ist es nicht Aufgabe eines Lieder-Archivs, politische Diskussionen zu führen, noch soll hier mit fragwürdigen Texten provoziert werden. Wir beschränken uns deshalb an dieser Stelle auf eine allgemeine historische Notiz, die primär dem Dichter huldigt, und verweisen für weitergehende Informationen auf den Beitrag in der Wikipedia.
Rudolf von Gottschall schrieb 1895 in »Die Gartenlaube«, Heft 2, S. 30, unter dem Titel »Deutschland, Deutschland über alles.«:
Es ist, auch in der »Gartenlaube«, viel über das Lied geschrieben worden; man weiß, daß es am 26. August 1841 auf der Insel Helgoland gedichtet worden ist und daß es lange Jahrzehnte gebraucht hat, ehe es zu einem Volksliede geworden ist, daß es inzwischen eine Zeit gab, in welcher der Dichter der »Unpolitischen Lieder« mehr oder weniger zu den verschollenen Größen gehörte und nur noch in dem Register der Litteraturgeschichte geführt wurde. Doch ist es vielleicht nicht überflüssig, noch einmal auf das Lied zurückzukommen. Man hat nicht hinlänglich die Entstehungszeit jenes Gedichts ins Auge gefaßt, nicht genug hervorgehoben, daß gerade in jener Zeit der Dichter zu denen gehörte, welche von der damaligen preußischen Regierung aufs eifrigste verfolgt wurden und daß noch in demselben Jahre sein politisches Märtyrertum begann, soweit man von einem solchen in einer aufgeklärten Zeit sprechen kann, in welcher die Ketzer weder gefoltert noch verbrannt werden. Gewiß wird der alte Spruch, daß die Bücher und die Gedichte ihre Schicksale haben, gerade dadurch ins hellste Licht gesetzt, daß der Dichter eines Volksliedes, welches jetzt vom ganzen Volke und bei feierlichen Gelegenheiten von den loyalsten Teilnehmern mitgesungen wird, zur Zeit, als er das Lied verfaßte, zu den mißliebigsten Persönlichkeiten gehörte, die im Schwarzen Buch der politischen Polizei standen.
Die Zeit, in welcher das Volkslied entstand, ist die junge Blütenzeit des Hoffmannschen Ruhms gewesen. Eben waren die zwei Teile seiner »Unpolitischen Lieder« bei Hoffmann und Campe in Hamburg erschienen und von dem Publikum und der Presse aufs günstigste aufgenommen worden; es war ja die Zeit der politischen Bewegung nach der Thronbesteigung des Königs Friedrich Wilhelm IV., und neben Herweghs schwungvollen Gedichten »eines Lebendigen« schlugen auch diese leichtgeflügelten Lieder Hoffmanns zündend ein. Mit seinen früheren harmlosen Minneliedern hatte der Dichter kein Publikum anzuziehen vermocht. Nun hatte er in Hoffmann und Campe einen Verlag gefunden, der ihm persönliche Besprechungen in Hamburg wünschenswert machte, und wenn er auch im alten Campe nicht »aller Verleger Blüte« fand wie Heinrich Heine, sondern hinter das Lob des Verlegers allerlei Fragezeichen machte, so zog es ihn doch nach Hamburg zu dem patriarchalischen Alten mit dem lachenden Vollmondgesicht, der ein Rebell war gegenüber den Regierungen und ein Diplomat gegenüber den Schriftstellern. Von Hamburg aus besuchte Hoffmann zu seiner Erholung die Insel Helgoland, wo er vom 21. August ab mit einigen Hannoverschen Freunden ein fröhliches Leben führte, wobei es an Zechgelagen und politischen Trinksprüchen nicht fehlte. Als diese am 23. August heimgekehrt waren, blieb er einsam auf der Insel zurück. Er schreibt im dritten Bande von »Mein Leben«: »Das Wetter war schön, schöner noch die Erinnerung an diese lieben Leute aus dem Lande Hadeln in ihrem schlichten treuherzigen Wesen, die mir so herzliche Teilnahme bewiesen hatten. Den ersten Augenblick schien mir Helgoland wie ausgestorben, ich fühlte mich sehr verwaist. Und doch that mir bald die Einsamkeit recht wohl: ich freute mich, daß ich nach den unruhigen Tagen wieder einmal auch mir gehören durfte. Wenn ich dann so wandelte einsam auf der Klippe, nichts als Meer und Himmel um mich sah, da ward mir so eigen zu Mute; ich mußte dichten, wenn ich es auch nicht gewollt hätte. So entstand am 26. August das Lied 'Deutschland, Deutschland über alles'.« Am 29. August kam Campe mit dem Stuttgarter Buchhändler Paul Neff und brachte das erste fertige Exemplar des zweiten Teils der „Unpolitischen Lieder“. Hoffmann erzählt weiter: »Am 29. August spaziere ich mit Campe am Strande. 'Ich habe ein Lied gemacht, das kostet aber 4 Louisdor.' Wir gehen in das Erholungszimmer. Ich lese ihm 'Deutschland, Deutschland über alles' und noch ehe ich damit zu Ende bin, legt er mir die 4 Louisdor auf meine Brieftasche. Neff steht dabei, verwundert über seinen großen Kollegen. Wir beratschlagen, in welcher Art das Lied am besten zu veröffentlichen. Campe schmunzelt: 'Wenn es einschlägt, so kann es ein ‚Rheinlied‘ werden. Erhalten Sie drei Becher, muß mir einer zukommen.' Ich schreibe es unter den Tönen der jämmerlichsten Tanzmusik ab, Campe steckt es ein und wir scheiden. Am 4. September bringt mir Campe das Lied der Deutschen mit der Haydnschen Melodie in Noten.« Campe, einer der kundigsten Thebaner des deutschen Buchhandels, hatte die rechte Witterung gehabt – ein Volkslied wie das Beckersche Rheinlied! Nur dauerte es etwas länger, ehe es ein allgemeingesungenes deutsches Volkslied geworden war.
In demselben Jahre, in welchem auf dem Meereseiland der Nordsee das jetzt so volkstümlich gewordene Lied entstand, welches Campe anfangs in einer Extraausgabe veröffentlichte, wurde die Untersuchung gegen Professor Hoffmann wegen der „Unpolitischen Lieder“ eingeleitet; sie endete mit der Amtsentsetzung des Dichter-Professors ohne Pension, die ihm noch im Dezember des Jahres 1842 verkündigt wurde. Und nun begannen die Wanderjahre des abgesetzten Professors, der durch die deutschen Lande zog, überall zahlreiche Freunde und Verehrer fand und als umherziehender Minnesänger seine Lieder in Privatkreisen und auch an Wirtshaustafeln vortrug.
Gegen Ende des Jahres 1843 machte ich selbst die persönliche Bekanntschaft Hoffmanns; wir beide waren eingeladen beim Grafen Eduard von Reichenbach und trafen uns in Waltdorf, dem bei Neiße gelegenen Gute des Grafen. Das nur kleine Schloß machte doch mit seinem säulengetragenen Porticus einen vornehmen Eindruck; es enthielt im Erdgeschoß schöne Salons, stattliche Räume, die sich für Vorlesungen und Vorträge vor größeren Kreisen eigneten. Und bisweilen war aus Neiße eine zahlreiche geladene Gesellschaft anwesend. Der Graf, noch in jüngeren Mannesjahren, war ein Feuerkopf, voll Begeisterung für die Ideen politischer Freiheit, die damals in allen begabteren Köpfen gährten. »Reichenbach,« erzählt Hoffmann selbst, »war eine stattliche Gestalt, mit treuherzigem vertrauengewinnendem Blick, äußerlich meist ruhig und ernst, aber innerlich voll warmer Liebe, die zur Leidenschaft werden konnte für alles, was er wollte zur Erstrebung einer besseren Gestaltung des Vaterlandes. Rücksichtslos und ohne Furcht sprach er jedem gegenüber seine Meinung aus und seine Gesinnung bewährte er durch die That.« Was aber Hoffmann selbst betrifft, so entsprach er ganz dem Bilde, das ich mir nach den Schilderungen in den Zeitungen von seiner Persönlichkeit gemacht hatte: eine hohe, kräftige, männlich schöne Gestalt, ein freundliches, lachendes, frisches, gesundes Gesicht, mit geistreichem Ausdruck und einem satirischen Zug um den Mund, ein treues deutsches Auge voll Feuer und Leben, blondes, etwas langes Haar und ebensolchen Bart. Seine Sprache hatte einen niederdeutschen Anklang, sein ganzes Wesen war einfach, ungezwungen und treuherzig. Im schlichten Rock, einfacher wenig zierlicher Weste, das Halstuch leicht um den Hals geschlungen und den Kragen des Hemdes breit darüber herabhängend, eine prunklose runde Mütze als Kopfbedeckung und einen gewichtigen Stock in der Hand, so sah ich ihn auch oft an meiner Seite über die Felder und durch die Wäldchen von Waltdorf dahinschreiten und oft erfreuten wir uns an der winterlichen Landschaft, der die bläulichen Sudeten in der Ferne als Hintergrund dienten. Damals sammelte Hoffmann Volksweisen für seine Kinderlieder; ein Rektor aus Neiße hatte zu den von der Gräfin Reichenbach gesammelten Liedern viele Melodien aufgezeichnet. Das wurde dann mit der Dorfjugend durchprobiert. Ueberhaupt war Hoffmann ein großer Kinderfreund und ich höre ihn noch seine Liederchen intonieren. Wenn die Kleinen richtig nachsangen, freute er sich von Herzen über die bescheidene Kunstleistung.
Wenn wir abends bei der Punschbowle saßen, da begann der abgesetzte Professor mit einer Stimme, die das Melodische und namentlich die kleinen in Musik gesetzten Pointen glücklich hervorhob, eins oder das andere seiner verbotenen Lieder, auch die antirussischen und deutschpatriotischen zu singen, und unter ihnen befand sich auch das Helgoländer Lied »Deutschland, Deutschland über alles«. Wer hätte damals geglaubt, daß, was der höchst mißliebige, geächtete Gelehrte im engen Kreise sang, einmal ein von Hunderttausenden gesungenes deutsches Volkslied werden würde! Im Laufe der Jahre ist das Lied sehr oft aufgetaucht; Hoffmann sang es nach der Haydnschen Melodie; nachher ist es noch sehr oft komponiert worden – wir erwähnen von den Komponisten Franz Abt, Conradin Kreutzer, Franz Lachner, B. Neßler, Ed. Müller, Heinrich Große – aber wer vermag genau die Zeit zu bestimmen, wo es zum allgemeinen nationalen Liede wurde? Es geht mit dem Ruhm der Dichter und ihrer Werke ähnlich wie mit der Liebe nach Halms poetischem Wort – er kommt und er ist da! Das Lied »Deutschland, Deutschland über alles« liefert dafür einen schlagenden Beweis.
Rudolf von Gottschall, 1895