Die volksliedhafte Melodie des Lieds Das alte Jahr verflossen ist ist schon sehr alt. Sie erschien zuerst zu einer Bearbeitung des 22. Psalms des bayerischen Jesuiten Albert Curtz (1600-1671) im Jahr 1669 in dessen »Harpffen Davids« mit dem Textanfang »Gott ist mein Hirt der machen wird, dass mir soll nichts gebrechen«. Über die Jahre wurde sie mit verschiedenen Texten kombiniert bis sie 1847 im von Heinrich Bone (1813-1893) herausgegebenen Gesangbuch »Cantate« mit einem von ihm verfassten Text kombiniert veröffentlicht wurde. In dieser Text- und Melodie-Kombination wurde Das alte Jahr verflossen ist bekannt, auch wenn der Text später auch mit einer Melodie kombiniert wurde, die mit dem Weihnachtslied Es kam die gnadenvolle Nacht bekannt wurde.
Bis heute ist Das alte Jahr verflossen ist ein beliebtes Lied, das zum Jahreswechsel dem »Herr Jesus Christ« dankt für das vergangene Jahr, das »verflossen ist«. Wir danken für das, was wir erleben durften, denn wir wissen, dass unsere Zeit auf Erden begrenzt ist. Doch wir hoffen auf die Ewigkeit, die da noch komme wird, so wie es in der ersten Strophe gesungen wird.
Doch Heinrich Bone geht noch weiter. Er dankt nicht nur, sondern er bittet um Gottes Schutz, seine Gnade und Hilfe. »Vertilge, was vom Bösen war, des Guten Frucht mach offenbar«. Und er bitte darum, dass die Seelen der Verstorbenen des abgelaufenen Jahres ihren Weg zu Jesus finden.
Allerdings ist der Text der zweiten Strophe über die Jahre stellenweise kontrovers diskutiert worden, was zu einer Runderneuerung führte. Der Paderborner Germanist Friedrich Kienecker ersetzte »Vertilge, was vom Bösen war« durch »Vergib, was Böses wir getan« und tauschte »die abgeschiednen Seelen all – nimm auf in Deiner Selgen Zahl!« durch »die du zu dir gerufen hast, befrei von aller Sündenlast.«
Zeit hat einen einzigen Herrscher
Ab der dritten Strophe wendet sich Bone der Zukunft zu und schaut auf das Jahr, das gerade anbricht. Er bittet Jesus Christ um Rat und Stärke für das neue Jahr. Aber das lyrische Ich bittet nicht nur für sich selbst, sondern auch für »Land und Leut« und »unser liebes Vaterland«. Das ist ungewöhnlich für ein geistliches Lied, denn Kirchenlieder, bitten üblicherweise für Menschen und Seelen, aber nicht für das Vaterland als politische Vereinigung. Doch Bone scheint dies ganz bewusst aufgegriffen zu haben, denn er fährt fort und bittet für die Völker um Frieden und Wohl auf Erden, und auch die Kirche möge geschützt sein. Auch die Strophen vier und fünf sind daher, zumindest für ein Kirchenlied, ungewöhnlich politisch und vaterländisch formuliert, bevor die beiden abschließenden Strophen sich wieder Jesus direkt zuwenden.
In der sechsten und vorletzten Strophe wird um das Seelenheil für das neue anbrechende Jahr gebeten, auf dass ein jeder ein gottesfürchtiges Leben ohne »Seelennot und Leibsgefahr« im neu anfangenden Jahr führen möge. Die abschließende Strophe widmet sich ganz dem Gotteslob an die »heiligste Dreifaltigkeit«.
Der Schlussvers »von nun an bis in Ewigkeit!« lenkt den Blick von unserer persönlichen Lebenszeit auf die Ewigkeit Gottes. Denn das Jahr, das gerade vergangen ist, ist genauso kurz wie das, welches neu angebrochen ist. Ein Jahr ist eine kurze Zeit, wie Bone in der ersten Strophe schreibt. Denn wir Menschen, so Papst Franziskus in einer Ansprache, »können die Beherrscher des Augenblicks werden. Aber die Zeit hat einen einzigen Herrscher: Jesus Christus.«
Das ist Grund genug, Gott bzw. Jesus Christus zu danken. Denn der ist der Herr der Zeit. Und die Vergänglichkeit unserer Zeit wird uns selten so deutlich bewusst wie in dem Moment, wo wieder einmal ein Jahr vergangen ist. Sei es nun anlässlich eines Geburtstags oder beim Jahreswechsel.
Tom Borg, 14. November 2023