Wir versaufen unser Oma ihr klein Häuschen

Das mündlich überlieferte Lied Wir versaufen unser Oma ihr klein Häuschen erfreute sich großer Beliebtheit bis weit ins vorige Jahrhundert hinein. Noch in den 1960er gehörte die Melodie zu den Standard Party-Songs und war im Repertoire der Tanzmusiker.

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Musiknoten zum Lied - Wir versaufen unser Oma ihr klein Häuschen

Wir versaufen unser Oma ihr klein Häuschen,
ihr klein Häuschen, ihr klein Häuschen,
wir versaufen unser 0ma ihr klein Häuschen
und die erste und die zweite Hypothek.

Unsre Oma fährt im Hühnerstall Motorrad,
Ohne Bremse, ohne Lampe, ohne Licht.

Warum soll sie nicht, wenn sie nichts andres vorhat,
Denn im Hühnerstall bemerkt man sie ja nicht.

Und da kann ich mich so schrecklich drüber argem,
Weil Erich mit dem Charlie nicht gut kann.

Denn das kostet schließlich alles unsre Steuern.
Die wir zahlen in das bodenlose Fass.

Es heißt: Jede Zeit hat ihre Lieder. Als der Hamburger Schauspieler und Sänger Robert Steidl 1922 sein Lied Wir versaufen unser Oma ihr klein Häuschen veröffentlichte, traf dieses den Nerv der Zeit wie kein zweites. Wir versaufen unser Oma ihr klein Häuschen war nicht einfach nur ein Gassenhauer, sondern in Musik gegossener Galgenhumor im Spiegel der Zeit. So sah es auch Kurt Tucholsky, der 1922 das Lied als Peter Panter in der Weltbühne besprach und ironisch fragte: »Ist dies ein Volkslied –? Es ist seine reinste Form. So singt das Volk. Hier spricht die Seele deines Volkes. Hier ist es ganz.«

Um diese Worte zu verstehen, muss man sich die damalige Zeit vergegenwärtigen. Es war das Jahr 1922. In Deutschland herrschte eine Inflation, die ein Jahr später ihren Höhepunkt erreichen sollte und erst mit der Einführung der Reichsmark durch Reichskanzler Gustav Stresemann im November 1923 ihr Ende fand. Davor lagen vier Jahre rasanter Geldentwertung, die tiefe Spuren in Leben und Psyche der Menschen hinterlassen hatten. Millionen von Menschen waren in die Armut abgestürzt, hatten alles verloren – und nicht selten auch die Selbstachtung. Frauen, die ihre Familien ernähren mussten und nichts mehr zu verkaufen hatten, verkauften schließlich ihren Körper. Wer noch etwas hatte, spielte auf der Straße oder in Spielklubs. Aktien waren schon längst nichts mehr wert und viele hatten all ihr Hab und Gut verloren. Im Spätsommer 1923, kostete ein Ei 320 Milliarden Mark.

Schon im Spätsommer 1922 wurde Geld nicht mehr gezählt, sondern gewogen. Es war eine Zeit, in der Sparen sinnlos wurde, denn am nächsten Tag war Geld weniger wert als einen Tag vorher. Sparen wurde sinnlos bzw. regelrecht dumm. Denn wenn Geld stündlich weniger wert ist, muss man es halt schneller ausgeben um noch möglichst viel dafür zu bekommen. Insofern hätte man ein Häuschen nicht versaufen sollen, denn Omas Häuschen war ein Sachwert, kein inflationäres Geld. Doch, von irgendetwas musste man ja leben. Und wenn es schon nichts mehr zum Leben gibt und auch keine Besserung in Sicht ist, dann kann man ja wenigstens den Augenblick genießen; und sei es auch nur, indem man sich betrinkt – mit dem Geld von Omas klein Häuschen.

Insofern war das Stimmungslied Wir versaufen unser Oma ihr klein Häuschen die Hymne der Inflationszeit. Dieses Stimmungslied traf den Nerv jener trostlosen Zeit wie kein anderes. Auch nach dem Krieg sang man es wieder, sei's nun im Übermut oder im Rausch der Wirtschaftswunderjahre. Heutzutage ist es nur noch eines von vielen Trinkliedern, die zu fortgeschrittener Stunde immer wieder mal angestimmt werden. Aber, vergessen ist es nicht.

Tom Borg, 11. Mai 2023

Ein deutsches Volkslied. Kurt Tucholsky zu Wir versaufen unser Oma ihr klein Häuschen

In deutschen Landen ist augenblicklich ein Lied im Schwange, das den vollendetsten Ausdruck der Volksseele enthält, den man sich denken kann – ja, mehr: das so recht zeigt, in welcher Zeit wir leben, wie diese Zeit beschaffen ist, und wie wir uns zu ihr zu stellen haben. Während der leichtfertige Welsche sein Liedchen vor sich hinträllert, steht es uns an, mit sorgsamer, deutscher Gründlichkeit dieses neue Volkslied zu untersuchen und ihm textkritisch beizukommen. Die Worte, die wir philologisch zu durchleuchten haben, lauten:

Wir versaufen unser Oma sein klein Häuschen –
sein klein Häuschen – sein klein Häuschen –
und die erste und die zweite Hypothek!

Bevor wir uns an die Untersuchung machen, sei zunächst gesagt, daß das kindliche Wort ›Oma‹ so viel bedeutet wie ›Omama‹, und dieses wieder heißt ›Großmutter‹. Das Lied will also besagen: „Wir, die Sänger, sind fest entschlossen, das Hab und Gut unsrer verehrten Großmutter, insbesondere ihre Immobilien, zu Gelde zu machen und die so gewonnene Summe in spirituösen Getränken anzulegen.“ Wie dies –? Das kleine Lied enthält klipp und klar die augenblickliche volkswirtschaftliche Lage: Wir leben von der Substanz. So, wie der Rentner nicht mehr von seinen Zinsen existieren kann, sondern gezwungen ist, sein Kapital anzugreifen – so auch hier. Man beachte, mit welcher Feinheit die beiden Generationen einander gegenübergestellt sind: die alte Generation der Großmutter, die noch ein Häuschen hat, erworben von den emsig verdienten Spargroschen – und die zweite und dritte Generation, die das Familienvermögen keck angreifen und den sauern Schweiß der Voreltern durch die Gurgel jagen! Mit welch minutiöser Sorgfalt ist die kleine Idylle ausgetuscht; diese eine Andeutung genügt – und wir sehen das behaglich kleinbürgerliche Leben der Großmama vor uns: freundlich sitzt die gute alte Frau im Abendsonnenschein auf ihrem Bänkchen vor ihrem Häuschen und gedenkt all ihrer jungen Enkelkinder, die froh ihre Knie umspielen . . .

Das ist lange her, Großmutter sank ins Grab, und die grölende Korona der Enkel lohnt es ihr mit diesem Gesang: „Wir versaufen unser Oma ihr klein Häuschen . . . “ Ist dies ein Volkslied –? Es ist seine reinste Form. Man darf freilich nicht an früher denken. Früher sang wohl der Wanderbursch sein fröhlich Liedchen von den grünen Linden und den blauäugigen Mägdelein – weil das sein Herz bewegte. Nun, auch dieses Lied singt von dem, was unser Herz bewegt: von den Hypotheken. Hatte früher Walther von der Vogelweide sein „Tandaradei“ durch die Lüfte tönen lassen und den Handel den Pfeffersäcken überlassen, so ist es heute an den Kaufleuten, „Tandaradei!“ zu blasen, und die Liederdichter befassen sich mit den Hypotheken. Wenn auch freilich in naiver Weise. Denn es ist dem Liedersänger entgangen, daß die Hypothek selbst ja eine Schuld ist, die man unmöglich vertrinken kann – meint er doch wahrscheinlich die für die eingetragene Hypothek als Darlehn gegebene Summe, die der Schuldner in leichtfertiger Weise verbraucht. So singt das Volk. Hier spricht die Seele deines Volkes. Hier ist es ganz. Es soll uns nicht wunder nehmen, wenn nächstens in einem schlichten Volkslied das Wort ›Teuerungszulage‹ oder ›Weihnachtsgratifikation‹ vorkommt – denn dies allein ist heute echte, unverlogene Lyrik.

Dichter umspannen die Welt in brüderlicher Liebe, Poeten sehen Gott in jedem Grashälmchen – das ehrliche Volk aber gibt seinen Gefühlen unverhohlen Ausdruck. Noch lebt es von den Gütern der Alten. Langsam trägt es Sommerüberzieher, Sofas, Überzeugungen und Religionen auf – neue schafft es zur Zeit nicht an. Was dann geschieht, wenn die alle dahin sind, darüber sagt das Lied nichts. Vorläufig sind sie noch da – und so lange sie noch da sind, lebt das Volk von der Substanz.

Und versauft der Oma sein klein Häuschen.

Peter Panter

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