Geschichte des Liedes

Das weltliche Lied

Minnegesang und Meistergesang

Trotz des allmächtigen Einflusses der Kirche, die im ersten Jahrtausend die Musik vollkommen beherrschte, sind vereinzelte Zeugnisse weltlicher Liedkunst erhalten geblieben, deren Entzifferung aber durch die Neumenschrift unmöglich ist. Bei anderen Weisen wie in der berühmten Sammlung der Carmina burana fehlt sogar die Neumierung. Wenn wir uns aber daran erinnern, dass in dieser Zeit nur die gelehrten Mönche der Notenschrift kundig waren, so kann das nicht verwundern. Eine große Sammlung von weltlichen Volksliedern, die auf Geheiß Karl des Großen zusammengetragen worden waren, wurde schon von seinem Nachfolger Ludwig dem Frommen vernichtet.

Einen großen Aufschwung nahm die weltliche Liedkunst seit dem 11. Jahrhundert im südlichen Frankreich. Die gewaltige Bewegung der Kreuzzüge, auf denen die Ritter neue ungeahnte Eindrücke empfingen, hatte auch auf dem Gebiet der Kunst einen Umschwung zur Folge. Adlige Herren, die im fernen Orient romantische Abenteuer bestanden, sind es, die, in ihre Heimat zurückgekehrt, eine neue Lied- und Dichtkunst verbreiten, die als Troubadourgesang die Volksmusik der Jongleure allmählich zurückdrängt. Ein neues Kulturideal beseelt die Menschheit, die Sitten verfeinern sich, der Frauendienst, aus dem Marienkultus hervorgehend, ist die höchste Aufgabe des Ritters, der in immer neuen Liedern die Schönheit seiner Herrin preist. In der Provenee, der alten provinca romana, die von jeher in Sprache und Lebensform führend war, fiel diese neue Bewegung auf fruchtbaren Boden. Von hier verbreitete sie sich über ganz Frankreich, nach Spanien und England und griff auch bald nach Deutschland über. Rund 200 Jahre, von 1100-1300 hat diese Kunst bestanden. Die Blütezeit fällt in die Jahre 1140-1240. Der Name Troubadour, in Nordfrankreich Trouvere, stammt von trobar, trouver finden, erfinden. Die Gesänge der Troubadours und Trouvers sind in vielen Handschriften erhalten, in denen zumeist die römische oder gotische Choralnote zur Anwendung kommt.

Eine ähnliche, wenn auch nicht gleiche Erscheinung wie die Troubadours in Frankreich bildet die der Minnesänger in Deutschland. Unter gleichen Verhältnissen entstanden, hat die Poesie der Minnesänger doch von Frankreich erst die entscheidende Anregung empfangen. Vom Rhein her hat sich die neue Kunst rasch über ganz Deutschland, bis nach Rügen hinauf, verbreitet. Die Blütezeit beginnt mit dem Ende des 12. Jahrhunderts und reicht bis zum Beginn des 14. Jahrhunderts. Pflegestätten des Minnegesangs waren die kaiserlichen und fürstlichen Höfe von denen die Wartburg, der Sitz des Landgrafen Hermann von Thüringen, durch den Sängerkampf berühmt geworden ist (Wagners Tannhäuser). Die Dichtungen der Minnesinger übertreffen die der Troubadours durch den tiefen Gefühlsinhalt und den individuellen Ausdruck. Die Melodien dagegen stehen in ihrer stärkeren Anlehnung an den gregorianischen Choral hinter der liedmäßigen Form der Franzosen etwas zurück, doch treffen manche auch einen gesunden volkstümlichen Ton. Leider ist die musikalische Überlieferung ziemlich gering, die berühmte Heidelberger sog. Manessische Handschrift, die Werke von 140 Dichtern enthält, ist ohne jede Weise. Dafür entschädigen die Jenaer, Kolmarer und Donaueschinger Handschriften, die, zwar in späterer Zeit erst verfaßt, doch eine Reihe von echten, in Choralnoten aufgezeichneten Minneliedern bergen. Die Lesung erfolgt am glücklichsten nach dem Hebigkeitsprinzip, nach dem das Schwergewicht auf der Hebung liegt und Senkungen von beliebiger Anzahl dazwischen treten können.

Aus der ältesten Periode des Minnegesanges sind uns einige Proben der Spruchdichtung Spervogels bekannt. Walther von der Vogelweide, der größte Dichter dieser Zeit, ist inzwischen mit einigen in Münstser gefundenen Fragmenten auch als Sänger von Kraft und Ausdruck bekannt geworden. Über Wolfram von Eschenbach, den Verfasser des Parcivalepos, und Gottfried von Straßburg, den Dichter von "Tristan und Isolde", sind wir musikalisch nur sehr wenig unterrichtet. Besser ist die Überlieferung bei einem jüngeren Zeitgenossen Walthers, Neidhardt von Reuentahl (gestorben ca.1245). Seine Tanzlieder schlagen einen frischen, herzhaften Ton an. Von den höfichen Minnesängern wurde er wegen seiner bäurischen dörfischen Weisen und seiner bissigen Satire teils verachtet, teils gefürchtet.

Während des 13. Jahrhunderts beginnt allmählich der Verfall des Minnesanges, der sich immer mehr von den ritterlichen Idealen der edlen Minne und der mâze entfernt. Die Gestalt des Sängers Tannhäuser, dessen Dichtung "Der Venusberg" vom Papste Urban IV verdammt wurde, zeigt diesen Übergang deutlich, doch sind auch aus dieser Zeit noch frische Weisen überliefert, z.B. von dem Mönch Hermann von Salzburg und Heinrich von Lauffenberg. Die Mondsee-Wiener Liederhandschrift enthält eine Reihe von Weisen des Mönches, die ihn als einen der erfreulichsten Liedersänger dieser Zeit erkennen lassen ("Mein traut Gesell", "Ich han in einem garten gesehen", "traut allerliebstes frewlein zart"). Neben diesen einstimmigen, mit instrumentalen Vor- und Zwischenspielen versehenen Liedern, finden sich auch einige mehrstimmige Sätze, die allerdings sehr primitiv sind. Heinrich Lauffenberg ist ebenso wie Hermann von Salzburg als Verdeutscher lateinischer Hymnen hervorgetreten.

Als der letzte Minnesänger gilt der Tiroler Ritter Oswald von Wolkenstein (1377-1445), ebenfalls als Hymnendichter und Komponist von mehrstimmigen Sätzen, die schon eine feiner entwickelte Technik aufweisen, hervorgetreten. Eine Abenteurernatur, als Reitknecht, Koch und Ruderknecht in Byzanz, Persien, Afrika, Rußland, Flandern und Spanien anzutreffen, wurde er später jahrelang in Haft gehalten. Er starb auf seiner heimatlichen Burg in Tirol. In seinen einstimmigen Liedern frisch und volkstümlich, ist er in seinen mehrstimmigen Stücken, in Diskantmanier gehalten, noch recht schwerfällig. Die mit "Fuge" bezeichneten Sätze sind nicht im heutigen Sinne zu verstehen, sondern bedeuten nur strenge Imitation (Kanon, deutsch auch "Rädel" genannt).

Inzwischen ist die einst höfische Kunst der Minnesänger immer mehr in die bürgerlichen Kreise hinabgesunken, wo sie als Meistergesang eine eifrige, künstlerisch allerdings weniger gehaltvolle Pflege findet. Die in den Zünften zusammengeschlossenen Handwerker, aber auch Bürger, ja Professoren und Doktoren sind die Träger dieser Kunst, deren Gesetze in der sogenannten "Tabulatur" festgelegt wurden. Jeder Verstoß gegen die Vorschriften wurde von dem "Merker" aufgezeichnet und bestraft. Jede Zunft besaß ihren eigenen Bestand an Weisen ("Tönen"). Jeder, der in eine Meistersingerschule eintrat, hieß "Schüler"; konnte er 5 Töne absingen, wurde er "Singer"; gelang es ihm, zu einem gegebenen Ton einen neuen Text zu verfassen, so erhielt er den Namen "Dichter"; "Meister" wurde er genannt, wenn er auch einen neuen Ton erfand. Jeder Ton erhielt seine eigene Bezeichnung, die sich mal auf den Namen der Erfinders, mal auf den Text bezog, in vielen Fällen uns aber ganz unverständlich ist, z.B. der "lange Ton" Heinrich Müglins, der "rote Ton", die "blaue Kornblumweis", die "kurze Affenweis".

Das Meisterlied (auch bar genannt) bestand aus zwei Strophen oder Stollen und dem Abgesang. Die Stoffe sind meist der Bibel, aber auch der alten Geschichte entlehnt. Die Musik zeigt starke Abhängigkeit vom Gregoranischen Choral; die einstimmige Weise ist mehr pfalmodierend als melodisch und wird an den Schlüssen durch allerlei Verzierungen, oft recht geschmacklose Koloraturen aufgeputzt.

Die Versammlungen der Meistersinger fanden meist Sonntagnachmittag in der Kirche statt. Die Meistersinger führten ihre Herkunft gern - schon 1260 bei Gründung der ersten Schule in Mainz - auf den adeligen Minnesang zurück. Ihre Blütezeit fällt in die Jahre 1450-1600. Schulen wurden in Augsburg, Worms, Straßburg, Nürnberg, Ulm, Regensburg, Frankfurt a. Main, Breslau, Görlitz, Prag, München, Basel u.a. errichtet. Der bedeutendste Meistersinger ist Hans Sachs (1494-1576), der Nürnberger "Schumacher und Poet dazu". Von seinen erhaltenen Melodien ist besonders die Silbenweise (1513) durch ihren Anklang an Philipp Nicolais Choral "Wacht auf, ruft uns die Stimme" (1599) bemerkenswert. Von anderen Meistersingern seien noch Behaim, Marner und Regenbogen erwähnt. Der Meistergesang, der sich bis zum Anfang des 19. Jahrhunderts erhalten hat, findet in dem damals aufkommenden Männerchorwesen eine Art Fortsetzung. Hat er auch die Entwicklung der Musik nicht wesentlich gefördert, weil er durch seinen Formalismus die freie künstlerische Phantasie in Fesseln legte, so ist er doch wegen seiner kulturhistorischen Bedeutung nicht gering zu schätzen. Wagner hat in seiner Oper "Die Meistersinger von Nürnberg" ein lebendiges Bild von dieser Zeit entworfen und das rechte Wort zur Beurteilung gefunden:

Verachtet mir die Meister nicht
und ehrt mir ihre Kunst!
Daß unsre Meister sie gepflegt
grad recht nach ihrer Art,
nach ihrem Sinn treu gehegt,
das hat sie echt bewahrt.
Blieb sie nicht adlig wie zur Zeit
wo Höf` und Fürsten sie geweiht,
im Drang der schlimmen Jahr'
blieb sie doch deutsch und wahr...
Was wollt ihr von den Meistern mehr?

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