Geschichte des Liedes

Das weltliche Lied

Das Volkslied

Minnegesang und Meistergesang konnten aber die musikalische Bedürfnisse einer so sangeslustigen Nation wie der deutschen nicht befriedigen. Es ist der Volksgesang, der, von der Kirche als heidnisch lang unterdrückt, jetzt mit elementarer Kraft wieder hervorbricht. Für das 14. Jahrhundert ist sein Wesen und Wirken allerdings nur aus literarischen Quellen zu erkennen, denn an aufgezeichneten Melodien fehlt es vollkommen. Die Limburger Chronik gibt aber für die Zeit von 1347-1380 einige Berichte unter anderem von Liedern, die die Geißelbrüder (Flagellanten) in den Zeiten der Pest und Hungersnot auf ihren Bußfahrten anstimmten und die schnell vom Volke aufgenommen wurden. Aus dem 15.Jahrhundert stammt das berühmte Locheimer Liederbuch (1452), eine Handschrift die als erste Quelle für das Volkslied zu betrachten ist. Die Lieder, die ihrer Entstehung nach bestimmt schon früher anzusetzen sind, sind zum Teil einstimmig, teilweise aber auch in einem mehrstimmigen Satz aufgezeichnet, der schon wesentlich geschmeidiger ist. Ihrem Inhalt nach sind es meist Liebeslieder voll schlichter, inniger Empfindung wie beispielsweise "Ich fahr dahin" und "All mein Gedanken, die ich hab".

Noch stärker spürt man den Einfluß der niederländischen Kunst in den Stücken der beiden nächsten erhaltenen Handschriften, dem Münchener und Berliner Liederbuch, die beide nach ihrem Aufbewahrungsort benannt sind.

Ein weiterer Fortschritt in der Entwicklung der Mehrstimmigkeit läßt sich bei dem Schaffen des Mönches Adam von Fulda erkennen, der von etwa 1440-1500 gelebt hat. Es sind 14 geistliche und 3 weltliche Stücke erhalten, deren Stil etwa in der Mitte zwischen der Dufay- und Okeghem-Periode steht. Nach ihm nimmt die Liedproduktion in Deutschland einen immer größeren Umfang an. Das aufkommende Buchdruckerwesen begünstigte diese glanzvolle Entwicklung. So entstehen fast Jahr für Jahr bis zur Mitte des 16. Jahrhunderts große gedruckte Sammelwerke, in denen die Tonsätze der besten deutschen Meister, teils Bearbeitung älterer Volkslieder, teils Neuschöpfungen volkstümlichen Inhalts, vereinig sind. Die wichtigsten Sammelwerke dieser Art sind:

  • 1512 Ehrhard (tm)glins Liederbuch
  • 1513 Peter Schöffels Liederbuch
  • um 1519 das Liederbuch des Arnt von Aich
  • 1534 Johann Otts "121 neue Lieder lustig zu singen und auf allerey Instrument dienstlich" (2. Teil 1544)
  • 1536 Heinrich Fincks "Schöne auserlesene Lieder"
  • 1539 Georg Forster (5 Teile - 1556)
  • 1545 Rhaws Bicinia (d.h. Zwiegesänge) u.a.

In all diesen Sammlungen ist das Volkslied nicht mehr in seiner schlichten einstimmigen Form, sondern in kunstvoller mehrstimmiger Bearbeitung erhalten. Wir müssen erst den Träger der Melodie, den Tenor oder Cantus firmus, aus seiner kontrapunktischen Hülle herauslösen, um die ursprüngliche Weise, die oft schon Jahrhunderte alt ist, zu gewinnen; denn nur selten wurde vor dem 15. und 16. Jahrhundert ein Lied aufgezeichnet, Wort und Weise wanderten von Mund zu Mund weiter, wurden dabei oft entstellt, "zersungen", wie man diesen Vorgang auch bezeichnet, aber bewahren doch stets jenen wunderbaren Wohllaut, jene Frische, Innigkeit und plastische Anschaulichkeit, die uns heute noch entzücken. Das Wort "Volkslied" wurde erst von Herder eingeführt. Früher nannte man es einfach "Lied", "ein neu Lied", "Graßliedlein", "Reuterlied" usw. Es gegen das Kunstlied abzugrenzen, erübrigt sich in einer Zeit, die den schroffen Gegensatz der Stände und Bildungsschichten nicht kannte. Wissen wir doch, dass sich alle Mitglieder des Volksganzen an dem Liede beteiligten, kein Beruf war davon ausgenommen, der Bürger, Bauer und Handwerker sang es, wie der wandernde Bursch, der Landsknecht und Reiter, ja die Ratsherren, adlige Männer und Frauen, selbst Fürsten nahmen sich nicht davon aus. Für alle war das Volkslied ein Bedürfnis, überall war Verständnis und Liebe vorhanden. Die Frage nach der Entstehung dieser Lieder ist dabei von untergeordnetem Wert. Herder glaubte in echt romantischem Überschwang an eine geheimnisvolle Urzeugung der Volksgesamtheit. Wenn die heutige Wissenschaft nüchterner urteilt und den Grundsatz aufgestellt hat, dass jedes Kunstwerk, sei es auch noch so bescheiden und anspruchlos, einen einzelnen, ganz bestimmten Menschen zum Verfasser voraussetzt, so wird doch daneben dem Anteil des Volkes, der Aneignung und Anpassung des Kulturgutes, besondere Aufmerksamkeit geschenkt. Gerade in diesem Prozeß spiegelt sich der Charakter des Volkes deutlich wider: nur dasjenige, was seinem Fühlen und Denken adäquat ist, nimmt es auf, modelt es hier und da nach seinem Gefallen um und kümmert sich nicht im geringsten um ein Urheberrecht. Das Dunkle, Rätselhafte und Sprunghafte der Volksdichtung, das wir häufig entdecken, erklärt sich nur daher, dass die geschilderten Vorgänge so allgemein bekannt und geläufig waren, dass es zu ihrem Verständnis oft nur eines andeutenden Wortes bedurfte. Mannigfaltig wie die Gelegenheit des öffentlichen und geselligen Singen sind auch die Stoffe des Volksliedes. Alles, was das Menschenherz bewegt, findet in ihm seinen Ausdruck, von den großen geschichtlichen Ereignissen bis zu den kleinsten Dingen des täglichen Lebens herab. Demgemäß finden wir historische Lieder, Rätsel- und Wettstreitlieder, Balladen, Zechlieder, Gesänge der Landsknechte, Schreiber, Bauern, Bergknappen, Jäger und Fischer. Das Hauptthema aber ist die Liebe, die in immer neuen Tönen besungen wird. Wort und Weise gehören beim Volkslied zusammen. Der Dichter ist zugleich der erste Sänger, sei es nun, dass er eine neue Melodie erfindet oder seine Worte nur einer anderen beliebten Weise anpaßt. Sie sind nicht zum stillen Augenlesen bestimmt, sondern wollen gesungen, in vielen Fällen sogar dramatisch aufgeführt werden. Das unterscheidet die Volkslieder so vollkommen von unser Buchlyrik. Die aktive Mittätigkeit des Einzelnen ist immer Voraussetzung. Es entsteht dann ein primitives Gesamtkunstwerk, in dem sich Musik, Tanz, Dichtung und szenische Handlung vereinigen.

Durch den dreißigjährigen Krieg wird das Volkslied, das im 16. Jahrhundert einen gewaltigen Höhepunkte erreichte, fast vernichtet. Besonders verhängnisvoll war es, dass sich infolge der allgemeinen kulturellen Entwicklung die Gebildeten von ihm ganz abwandten. Gestorben aber war es nicht; in den niederen Kreisen wurde es weiter geliebt und geschätzt. Hier suchte es später Herder und, von ihm angeregt, der junge Goethe auf, der "aus den Kehlen der ältesten Mütterchen" manches Lied aufzeichnete, das er seinem Freunde für die Sammlung "Stimmen der Völker" überließ. Armin und Brentano gaben dann im Anfang des 19. Jahrhunderts ihre klassische Sammlung "Des Knaben Wunderhorn" heraus, ihnen folgt Uhland mit seinem Werk "Alte hoch- und niederdeutsche Volkslieder" (beide ohne Weisen). Damals begannen auch die jüngeren Musiker sich mit dem Volkslied zu beschäftigen. André, Hiller, Neefe, Reichardt, Schulz, Zumsteeg und Zelter schufen ihre volkstümlichen Weisen im engen Anschluß an das Volksgut. Auch die Instrumentalmusik nahm diese Anregung auf, Haydn, Mozart, Beethoven, Weber und Schubert schufen in diesem Geiste, der ihren Werken die beispiellose Schwungkraft und Frische verlieh. Immer wieder, bis in unsere Tage hinein, wurde die schlichte Liedweise zum Quell der Erfindung und befruchtete die Phantasie des schöpferischen Menschen. Hatte sich das Interesse der Romantik noch vorwiegend der textlichen Seite des Volksliedes zugewandt, so begann man seit der Mitte des 19. Jahrhunderts auch die Weisen zu sammeln. Voraus ging Friedrich Silcher mit seiner Sammlung "Deutsche Volkslieder" (1827-1840), ihm folgten Ludwig Erk, "Deutscher Liederhort" (1856), fortgesetzt und vermehrt von F. M. Böhme (1893/94; über 2000 Weisen), ferner F. M. Böhme, "Altdeutsches Liederbuch" (1877), R. von Liliencron, "Deutsches Leben im Volkslied um 1530" usw. Die Regierungen der Länder unterstützten diese Arbeit mit aller Kraft. Volksliederkommissionen wurden eingesetzt, in Österreich unter Leitung von Pommer, in Deutschland unter Leitung von Rochus von Liliencron. 1906 erschien auf Anregung des ehemaligen Kaisers das Volksliederbuch für gemischten Chor, dem 1915 das Volksliederbuch für Männerchor, von Max Friedländer herausgegeben, folgte.

An der Spitze der deutschen Liedmeister steht Heinrich Isaac. Seit 1495 wirkte er am Hofe des Kaisers Maximiliam I., des großen Schutzherrn der Musik. Isaacs deutsche Liedsätze, die größtenteils auf eigner Erfindung beruhen, gehören zu den schönsten dieser Periode. Ergreifend, sehnsuchtsvoll, auch anmutig und schalkhaft, weiß er stets den rechten Ton zu treffen und hat befruchtend auf das weitere Liedschaffen eingewirkt. Hinter Isaac an Bedeutung steht kaum zurück der um 1445 geborene deutsche Heinrich Finck, der zwischen 1480-1506 in Krakau und Warschau in polnischen Diensten stand, von 1510-19 in Stuttgart, sodann bis 1524 in Salzburg wirkte und 1527 in Wien starb. Seine schon erwähnte Sammlung erschien erst nach seinem Tode (1536). Sie erhält keine Volksliedertöne, sondern eigene Kunstweisen wie "Ach herzigs Herz" und "Der Ludel und der Hensel". Zu den besten Liedtalenten gehört auch Paul Hofhaimer (1459-1537), der, wie Isaac, lange am Hofe Kaiser Maximilians als Organist wirkte, 1515 geadelt wurde und eine Reihe bedeutender Schüler ausbildete.

Das künstlerische Erbe Isaacs trat nach dessen Tod (1517) Ludwig Senfl an. Geboren um 1490 in Zürich, kam er schon als Knabe in die kaiserliche Kapelle, wo ihn Isaac unterrichtete. Als der Kaiser 1519 starb, ging Senfl nach München, wo er bis zu seinem Tode, der zwischen 1540 und 1556 erfolgt sein muß, gelebt hat. Luther schätzte nächst Josquin Senfl sehr hoch ein. Seine Lieder, die in den Sammelwerken Otts erschienen, bekunden einen tiefgründigen kontrapunktischen Sinn und eine reiche Phantasie ("Entlaubet ist der Wald" u.a.).

Den genannten Tonsetzern reihen sich noch eine große Anzahl weiterer bedeutender Meister an, von denen wenigstens noch einige Namen genannt sein mögen: Thomas Stolzer (+1526), Stephan Mahn, Siyt Dietrich (+1548), Benedict Ducis (+1544), Arnold v. Bruck (+ ca. 1546), Matthias Greitter (+1552), Lorenz Lemlin, Georg Forster (der Herausgeber des Sammelwerkes), Caspar Othmair (+1553).

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