Volksweise

Übergang vom Volkslied zum Kunstlied

Das Kunstlied, im Gegensatz zum Volkslied , ist der, mit Bewusstsein und nach bestimmten Gesetzen geordnete Erguss der Stimmung. Das Volkslied, als unmittelbarer Ausdruck dessen was das Herz bewegt, ist weder im Stoff, noch in der Weise seiner Darstellung wählerisch. Ihm ist es nur um den vollen und wahren Ausdruck gelegen. Was das Herz erfüllt, strömt aus im Gesange, und zwar Zug um Zug, ohne eine andere Anordnung, als die vom Instinkt vorgezeichnete, und wenn diese dennoch der von uns als künstlerische Notwendigkeit erkannten Ordnung des Tonmaterials vollständig entspricht, so ist das nicht beabsichtigt, sondern hat seinen Grund vielmehr nur darin, dass jene Anordnung des Tonmaterials natürlich und menschlich ansprechend, dass sie überhaupt die einzig mögliche ist. Dabei bleibt das Volkslied natürlich auf der Oberfläche des Empfindens haften, und es ist dies eine notwendige Bedingung seiner Existenz, denn so nur kann es als der Ausdruck einer Gesamtheit gelten.

Das Kunstlied versucht eine schärfere Sichtung ;des Stoffes; es zerlegt die Empfindung in die zarteren Bestandteile, rundet sie künstlerisch ab und schafft sich für ihre Darstellung eine freiere und durchdachtere Technik. Der Geist des Künstlers empfindet nichts anders, als der Geist des Volkes, aber er empfindet tiefer, geläutert und verklärt, und weil er sich durch energische Studien eingelebt hat in die geheimnisvolle Macht seines Darstellungsmaterials, so ist er im Stande, die Empfindung in ihren feinsten Verschlingungen zu verfolgen, die Stimmung auch in den, von dem Gemüt des Volkes unbeachteten, weil ungekannten Einzelzügen zum Ausdruck zu bringen. Wie das Künstlergemüt ein veredeltes reicheres Volksgemüt, so ist das Kunstlied ein veredeltes und darum reicheres Volkslied. In diesem Sinne nun werden die Volkslieder zunächst von den Kontrapunktisten verarbeitet.

Die Melodie vermag nur in ihren Umrissen die Stimmung zu zeichnen, erst wenn die Harmonie hinzutritt, wird die Darstellung vollendet. Wohl gibt es einzelne Melodien, in denen die Harmonie so bestimmt ausgeprägt ist, dass sie ganz deutlich aus ihr heraus uns entgegen klingt, wie in vielen Jäger-, Schiffer- und Hirtenliedern, und namentlich jene, denen unser modernes System zu Grunde liegt, mögen wohl auch immer mehrstimmig gesungen worden sein. Allein jene oben erwähnte künstlerische Erweiterung wurde doch immer erst von der Hand des Künstlers durch die kontrapunktische Bearbeitung beigefügt. Jene Kirchenkomponisten, welche Messen und Motetten über das Volkslied kontrapunktierten, dachten nicht an eine, im Sinne und Geiste dieser Melodien erfolgende Ausgestaltung derselben; diese waren ihnen nur mehr ein formelles Band, an welchem der Kontrapunkt des alten Systems sich entwickelte. Jetzt lauschten die Meister der Melodie selbst ihre Harmonien ab, um den ideellen Inhalt derselben auch harmonisch entsprechend dargestellt auszuprägen. Dem alten Kontrapunkt sind die Volksweisen nur Tonphrasen, jetzt werden sie Keim und Wurzel eines sich vollständig aus ihnen entwickelten Kunstganzen.

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