So reich und bedeutsam der Minnesang, der in Nordfrankreich und in der Provence zuerst größere Selbständigkeit gewann, für die Dichtkunst wurde, so wenig Einfluss konnte er auf die Entwickelung der Vokalmusik erlangen. Dort in Frankreich fanden wir ihn nicht ohne ganz entschiedene Einwirkung auf den Gang der Kunstentwickelung. Wir fanden einzelne mehrstimmige Chansons der Troubadours, in denen das sogenannte Diskantisieren viel gesetzmäßiger geübt wurde, als wahrscheinlich innerhalb der Kirche. Dass nun die deutsche neu aufblühende Lyrik der Minnesinger in Bezug auf Vers, Reim und strophisches Gebäude von der romanischen beeinflusst ward, ist längst erwiesen. Eine Vergleichung der wenigen erhaltenen Melodien indes zeigt die deutschen als durchaus selbständiges Produkt deutscher Sangeslust; denn auch die Weise des Kirchengesanges, als dessen Umbildung sie erscheinen, hat sich der deutsche Geist bereits in unablässiger Arbeit angeeignet, so dass sie als sein eigenstes Produkt gelten müssen.
Die Melodien der Lieder der älteren Minnesinger schienen uns als eine Mischgattung jener mehr volksmäßigen, aus den Sprachakzenten gebildeten älteren und der neuen, mehr rein musikalischen gregorianischen Kirchengesangsweise gewesen zu sein. Die Dichtung musste sich im Beginn dieser Periode entschieden dem Volksmäßigen anschließen, wie die Gedichte des zwölften Jahrhunderts von dem Kürenberger, Meinloh von Sevelingen, Dietmar von Aist und andere beweisen, die in Wort und Weise eine viel innigere Verschmelzung zeigen, als die späteren Lieder, die unter dem entschiedenen Einfluss der romanischen Lyrik am Ende des zwölften Jahrhunderts entstanden und bei Heinrich von Veldecke, Friedrich von Hausen, Heinrich von Morungen schon eine Mannigfaltigkeit der Form zeigen, welcher die musikalische Darstellung nicht mehr zu folgen vermag. Die große Innigkeit und Gemütstiefe der ritterlichen Sänger konnte in der Melodie kaum eine Steigerung finden, und für das formell Kunstreiche der neuen Liederpoesie fehlten dem Gesang eigentlich die Darstellungsmittel noch gänzlich. Der Minnesang bedurfte ihrer wohl auch noch nicht. Jene Gemütsfülle, welche im Wort nicht vollständig zur Erscheinung kommt und die rechtes Objekt für musikalische Darstellung ist, war bei den Minnesingern wohl noch wenig vorhanden. Die ganze Empfindung kommt in den klangvollen, feinsinnig abgestuften Akzenten und dem wunderbar mannigfaltigen und fest geschlossenen Versbau so vollständig zum Ausdruck, dass der Melodie wenig Raum bleibt für ihre eigene Darstellung, und dass wir selbst mit unseren reichen musikalischen Mitteln kaum im Stande sein würden , den Ausdruck der Lieder eines Heinrich von Morungen zu steigern.
Diese kunstvolle Behandlung der Liedform, welche im dreizehnten Jahrhundert eine gesetzmäßige wird, wie aus der streng durchgeführten Dreiteiligkeit der Strophe hervorgeht, erfolgt zwar nach dem musikalischen Prinzip des Reims und der Akzentuation; aber um beide auch spezifisch-musikalisch darzustellen, mussten eben jene andern beiden Mächte musikalischer Darstellung, die Harmonie und der selbständige musikalische Rhythmus, sich bedeutsamer herausbilden, und. beide waren dem Minnesang wohl vollständig unbekannt.