Die zahlreichen Lieder die in Lautenbüchern Aufnahme fanden, belegen, dass auch in Italien der Volksgesang in voller Blüte ge¬standen hat. Kein Land der Erde und wohl kaum eine andere Sprache der Welt dürften in ähnlicher Weise alle Bedingungen für eine rechte Gesangsentfaltung in dem Maße erfüllen, wie jene blühende Halbinsel und ihre klangvolle Sprache. Allein gerade diese Eigentümlichkeit der Sprache und des Landes wie der Leute sind vermutlich auch der Grund dafür, dass der Volksgesang keine weitere Bedeutung erlangen konnte. Mit dem weltlichen Gesang bricht in Italien die Gewalt des absoluten Tons, die rein sinnliche Wirkung des Klanges mit solcher Macht hervor, dass die eigent¬lich künstlerische Gestaltung allmählich verloren geht. Die ita¬lienischen Volkslieder zeigen selten jene innere mit Bewusstsein und Konsequenz erreichte Geschlossenheit der Form des deutschen Volksliedes. Die Bestrebungen der sogenannten cantori a liuti sind daher auch ohne eigentliche Bedeutung geblieben. Jene Lust am bloßen Gesange löst zunächst die großartige Würde des alten römischen Stiles auf in liebliche Anmut (die neapoli¬tanische Schule) und verliert sich dann in der mehr rohen Materie. Andrerseits bildet sie dann wiederum ganz naturgemäß jene Formen, welche von früh an schon auf Wirkung, auf Erregung der Massen gerichtet sind, die dramatischen Formen in ihren Anfängen heraus, und überliefert diese dann an Deutschland, damit sie hier erst die echt künstlerische Ausgestaltung erhalten.
Spanien, Norwegen und Schweden, Irland und Schottland, Russland, Polen und fast alle übrigen Länder Europas haben einen mehr oder minder reichen Vorrat von charakteristischen Volksliedern, allein sie können uns hier nicht weiter beschäftigen, weil sie wohl in einzelnen Meistern, nicht aber im Großen und Ganzen bedeutungsvoll, auch selbst nur für die Musik der einzelnen Länder geworden sind. Schweden, mit seinem außerordentlichen Reichtum von wunderbar poetischen Volksliedern, hat seine Musik ausschließlich nach deutschem Muster gebildet. In England hingegen blühten nur bis ins sechzehnte Jahrhundert Kontra¬punktisten, die in den Schulen des Kontinents gebildet waren, und mit dem 19. Jahrhundert schon werden ausschließlich fremde Elemente einheimisch.
Das französische wie das italienische Volkslied erlangten so entschieden Einfluss auf die nationale Gestaltung der Musik; die deutsche und zum Teil auch die belgische Volksweise wurden dagegen die mächtigsten Faktoren der ganzen neuen Musikweise, welche sich jetzt entwickelte.