Geschichte des Liedes

Das weltliche Lied

Sololied des 17.-19. Jahrhundert

Die um 1600 einsetzende Stilwandlung führt in Italien zuerst zur Schaffung des Sololiedes mit Begleitung von Klavier oder Laute. In Deutschland bürgerte es sich erst allmählich ein, lange noch behaupteten sich Chorlieder (Madrigal, Villanelle, Kanzonette) auf ihrem Platz.

Als Hauptmeister des allerdings schon mit Generalbaß versehenen mehrstimmigen Liedes ist am Anfang des Jahrhunderts Johann Hermann Schein, der Freund von Heinrich Schütz zu nennen. 1586 in Grünhain (Erzgebirge) geboren, studierte er in Leipzig Musik und Jura und wurde schon 1617 als Nachfolger von Seth Calvisius an die Thomaskirche in Leipzig berufen. Von seinen Werken interessieren uns hier nur die weltlichen Lieder, namentlich die Sammlungen Musica boscareccia ("Waldliederlein" 1621), Diletti pastorali ("Hirtenlust" 1624), Continuomadrigale zu barocken Schäfertexten; es sind "musikalische Leckerbissen". In schlichten, 3-5 stimmigen Satz gehalten, können sie auch schon als Sololieder, mit Begleitung von Violinen oder Flöten und Cembalo, gesungen werden. Scheins letztes großes Werk, das Cantionalen (1627) nimmt in der Geschichte des mehrstimmigen evangelischen Chorals eine hohe Stellung ein. Der Meister starb schon 1630 im 45. Lebensjahr.

Der Begründer des deutschen Sololiedes, das auf Caccinis "Nuove musiche" zurückgeht, ist Heinrich Albert, der Neffe von Heinrich Schütz, der 1604 geboren, bei seinem Oheim und bei Schein studiert hat. 1630 wurde er Organist am Dom in Königsberg und hat diese Stellung bis zu seinem Tode (1651) innegehabt. In seinen 8 Bänden (1638-1650) zeigt er sich deutlich von dem Floentiner Rezitativstil beeinflußt. Neben durchkomponierten und Strophenliedern, die oft mit Imstrumentalritornellen versehen waren, stehen größere mehrstimmige Gesänge. Die Texte stammen von dem Königsberger Dichterkreis, dessen Haupt Alberts Intimus Simon Dach war. Von seinen volkstümlichen Liedchen haben sich viele bis in die Gegenwart gerettet wie beispielsweise: "Die Lust hat mich bezwungen", "Jetzund haben Wald und Feld", "Du vormals grüner Stock".

Das Liedschaffen in Sachsen wurde durch Andreas Hammerschmidt eröffnet. Seine "Weltlichen Oden oder Liebesgesänge" (3 Teile 1642, 1643, 1649) enthalten Duette, Terzette und Monodien ("Ich lieb an allen Ort und Enden"). Die Hauptrepräsentanten der sächsischen Liederkomposition sind Christian Dedekind und Adam Krieger. Dedekinds (1628 bis ca. 1694) Sammlung "Aelbianische Musenlust" erschien 1657, im selben Jahr, in dem Adam Krieger seine 50 "Neuen Arien" herausbrachte. Krieger, "der Schubert des 17. Jahrhunderts", ist der größte Meister des Barockliedes. 1634 geboren, wurde er Schüler von Samuel Scheidt in Halle und 1654 Organist in Leipzig. Gestorben ist er 1666 in Dresden. Seine "Arien", deren Texte er selbst verfast hat, haben durch ihren volkstümlichen Ton und ihre feine musikalische Arbeit viel zur Verbreitung des Sololiedes beitragen. Gesellige Lieder, wie sie in den damaligen collegia musica gepflegt wurden, Lieder zum Preise des Weines, vor allem aber tiefempfundene Liebeslieder bilden den Inhalt seiner Sammlung. Sein Abendlied "Nun sich der Tag geendet hat" wird noch heute in der Kirche gesungen. Der Einfluß des Kantatenstils macht sich in den Liedern Johann Kriegers und Jakob Krembergs geltend. Krembergs "Musikalische Gemütsergötzung" (Dresden 1689) leidet an einem Mangel sinnvoller Deklamation und läßt opernhafte Melismen, Ornamente, Koloarturen überwuchern. Als volkstümliches Lied wird heute gern noch das Lied "Grünet die Hoffnung" gesungen.

Das geistliche zur Hausandacht bestimmte Sololied des 17. Jahrhunderts fand einen hervorragenden Vertreter in Joh. Wolfgang Franck (geb. um 1641 in Nürnberg, Kapellmeister in Ansbach, später in Hamburg und London, gest. nach 1695). Seine Passions- und Reuegesänge, die er zu Texten des Hamburger Predigers Heinrich Elmenhorst geschrieben hat (1681, 1700), gehören zu den reifsten Stücken, die wir aus dieser Zeit besitzen. Sie fesseln ebenso durch ihre kühne, fortschrittliche Melodik und Harmonik, wie durch den tiefen Erlebnisgehalt ("Sei nur still", "Jesus neigt sein Haupt und stirbt").

Wir stehen vor einem überragenden Gipfel der deutschen Liedkunst, die in den nächsten 50 Jahren durch das Überwuchern der italienischer Oper fast ganz darniederliegt. Erst gegen Mitte des 18. Jahrhunderts ringt sich das deutsche Lied zur Selbstständigkeit durch. Zwar die ganz Großen, wie Joh. Seb. Bach, beschäftigten sich nur gelegentlich damit - wohl aber mit dem Kirchenlied -, dafür besitzen wir aus dieser Zeit zwei Sammlungen volkstümlicher Art, die zwar keinen hohen Stand der Dicht- und Tonkunst verraten, aber ein treffendes Abbild der Zeit geben. Es sind dies das "Ohrenvergnügende und Gemüthergötzende Tafelkonfekt" (1733) von Valentin Rathgeber und die "Singende Muse an der Pleiße" (1736 bis 1745) eines pseudonymen Sperontes alias Joh. Sigismund Scholze. Aus der ersteren wird heute wieder das Lied "Der hat hingeben" viel gesungen. Die "Singende Muse" besteht nur zu einem kleinen Teil aus Originalmelodien, der weitaus größte sind Parodien, d. h. Umdichtungen zu damals beliebten Gassenhauern und Neudichtungen auf Instrumentalstücke aller Art. Dass sich dabei viel Unstimmigkeiten und Gewaltsamkeiten einschlichen, ist bei diesem Verfahren nur natürlich. Trotz der Plattheit und Spießbürgerlichkeit der Texte fand die "Muse" eine ungeheure Verbreitung und hat noch auf Hiller eingewirkt. In Hamburg war vor allen Telemann ein Vorkämpfer für das deutsche Lied, ohne ihm allerdings einen höheren Schwung zu verleihen ("Sing-, Spiel- und Generalbaßübungen" 1733/34) und "24 Oden für alle Hälse" 1741). Den quantitativen und qualitativen Höhepunkt fand das Lied des 18. Jahrhundert in Berlin. Der Begründer dieser "Berliner Liederschule" war der Advokat Christ. Gottfr. Krause (1719-70), dem als komprositorische Mitarbeiter die Musiker am Hof Friedrichs des Großen (beide Graun, Ph. Em. Bach, Nichelmann, Agricola, Benda) zur Seite standen. Das Ziel war die Reinigung des Liedes von allen barocken Eigentünlichkeiten und seine Zurückführung auf schlichten volkstümlichen Ton. Der etwas nüchterne und hausbackene Charakter dieser Gesänge erfuhr erst dann eine Änderung, als vom Singspiel her und unter dem Einfluß der Literatur (Klopstocks Oden vertonte Gluck) neue Quellen erschlossen wurden. Ein ausgesprochenes Liedtalent erstand Berlin in dem Lüneburger Johann Abraham Peter Schulz (1747-1800), der mit seinen "Gesänge am Klavier" 1779 und "Liedern im Volkston" 1782-1790 der Begründer der zweiten "Berliner Liederschule" wurde. Von seinen frischen, ungesuchten Weisen erfreuen sich noch heute viele großer Beliebheit ("Warum sind der Tränen unterm Mond so viel", "Des Jahres letzte Stunde", "Der Mond ist aufgegangen", "Sagt, wo sind die Veilchen hin"). Um diese Zeit war es, wo das Interesse für das Volkslied wieder aufzuleben begann, nicht ohne jedoch in diesem rationalistischen Zeitalter bissig bekrittelt zu werden. Friedrich Nicolai wollte mit seinem "Feynen kleynen Almanach" (1777/78) eine Parodie darauf liefern, konnte aber nicht verhindern, dass mehrere der Weisen selbst echtes Volksgut wurden ("Ich hab die Nacht geträumt", "Jungfräulein soll ich mit euch geh"). Nach Schulz übernahm Reichardt die Führung der Berliner Liederschule. Seine Hauptbedeutung beruht auf seinen 116 Goetheliedern, die als wichtigste Vorstufe zu Schuberts Vertonnungen zu gelten haben. In ähnlicher Weise wirkte der Maurermeister und Duzfreund des Weimarer Heroen Karl Friedrich Zelter (1758-1832). Nach Fasches Tode (1800) übernahm er die Leitung der Singakademie in Berlin und begründete auch die erste Liedertafel. Goethe schätzte die Vertonnungen Zelters zu seinen Liedern besonders hoch. Von seinen zahlreichen Liedern haben sich die humorvollen besonders lange gehalten ("Es ist ein Schuß gefallen", "An Schlosser hot an Gsellen ghabt").

Die Nachwirkungen der Berliner Liederschule lassen sich bis weit ins 19. Jahrhundert hinein verfolgen, etwa bei einem Schüler Zelters, Felix Mendelsohn-Bartholdy (1809-1847), der in der Mehrzahl seiner Lieder durchaus im 18. Jahrhundert wurzelt ("Es ist bestimmt in Gottes Rat", "Leise zieht durch mein Gemüt", "Auf Flügeln des Gesanges", "Suleika", "Frühlingslied"). Zu den schönen, geschmackvoll deklamierten Weisen hat die Begleitung lediglich die Aufghabe, Takt und Harmonie zu unterstützen, natürlich schon viel feiner und zarter als bei seinem Lehrer, dessen knorrige Natur zu des Schülers schwärmerischer Seele den denkbar größten Gegensatz bildet. Übrigens ist Mendelsohn in einigen wenigen Liedern auch schon von Schuberts Art beeinflußt ("Neue Liebe", "Hexe"). Auch Friedrich Silcher (1789-1860) muß in diesen Zusammenhange schon erwähnt werden, er hat das volkstümliche Lied durch manchen Beitrag vermehrt ("Ännchen von Tharau", "Morgen muß ich fort von hier", "Ich weiß nicht, was soll es bedeuten", "Zu Straßburg auf der Schanz").

Neben dem volkstümlichen Lied des 18. Jahrhunderts, das auch in den Singspielen Johann Adam Hillers und Christian Gottlob Neefes die Grundlage bildet und sich von dort her schnell verbreitet hat, macht sich auch ein Bestreben geltend, welches das Lied kunstvoller und breiter zu gestalten versucht. Es sind dies die sogenannten Oden, wie wir sie zum Beispiel von Christoph Willbald Gluck, dem großen Reformer der Oper, besitzen. Die norddeutsche, etwas nüchterne Richtung, überragt an Phantasie, Klang und Melodie der Württemberger Joh. Rud. Zumsteeg (1760-1802), der Gründer der "Schwäbischen Liederschule", dessen balladenartige Lieder auf Schubert und Loewe stark eingewirkt haben.

Die Beiträge der Wiener Klassiker Haydn, Mozart und Beethoven sind nicht so bedeutend, wie man annehmen könnte. Den Grund für diese Erscheinung wird man in der Ausbildung der Instrumentalmusik suchen müssen, der sie alle Kräfte widmen mußten. Das Lied konnte für sie nur eine Nebenbeschäftigung sein. Das erklärt, warum Haydn und Mozart so wenig die Gedichte der zeitgenössischen großen Literatur verwendet haben, sondern sich an recht unbedeutende Poesien hielten. Haydn (1732-1809) gibt sich als Liedsänger humorvoll und geistreich, arbeitet aber mehr instrumental. Viele sind vergessen, doch die Melodie zu "Gott erhalte Franz den Kaiser" (1797) mit dem neuen Text von Hoffmann von Fallersleben "Deutschland über alles" (1841) als Nationalhymne hat allen Stürmen trotzend seinen festen Platz im Herzen des deutschen Volkes behalten.

Von Wolfgang Amadeus Mozart (1756-1791) besitzen wir 36 Lieder, die in ihrer kristallklaren Melodie unübertroffen sind. Will man aber Mozart in seinem tiefsten Wesen erkennen, so muß man zu den liedmäßigen Gesängen seiner Opern greifen. Wie sehr übrigens die Schönheit eines Liedes auch von seinem Text abhängt, läßt Mozarts bestes Lied "Das Veilchen" (1785) erkennen, das einen wirklichen Poeten zum Dichter hat (Goethe). In ganz ähnlicher Weise hat auch der Romantiker Carl Maria von Weber sein Bestes in den Opern gegeben, wo er neue, eigenartige und kühne Wege geht, während seine wenigen Klavierlieder dem 18. Jahrhundert verpflichtet sind.

Auch Beethoven ist in der Geschichte des Liedes nicht bahnbrechend gewesen, wiewohl er deutlich das Bestreben zeigt, subjektive Kunst zu geben. Nur bei den eigentlichen Strophenliedern ist er ganz auf der Höhe seines Genies, also namentlich bei den Goetheliedern (Mignon), später von Liszt und Hugo Wolf komponiert. Auch in den berühmten Klärchenliedern aus Egmont, in (Trocknet nicht) u.a. hält er sich an überlieferte Formen. Von größeren Gesängen erhebt sich namentlich die "Adelaide", die mit einfachen Mitteln überzeugendsten Ausdruck hervorbringt, sowie der stimmungsvolle Zyklus "An die ferne Geliebte" auf höchste Höhe. Doch legt hier die strenge Strophenform dem Ausdruck oft Fesseln an.

Um das Lied aus allen Hemmungen zu befreien und ihm volle Freiheit zu geben, bedurfte eines Musikers, der nicht nur seine ganze schöpferische Kraft dafür einsetzte, sondern der auch mit klarem Kunstverstand an seine Aufgabe heranging. Es ist die bahnbrechende Tat Franz Schuberts (1797-1828), dass er, der beides vereinigte, das Lied mit der Poesie zu einer neuen Einheit verbunden hat. Dazu aber war es nötig, dass "das Instrument nicht bloß dürftig in Harmonien begleitet, sondern dass es den lokalen und szenischen Teil der Gedichte selbstständig schildert. Was Wagner später mit dem Orchester für das musikalische Drama erstrebt, das hat Schubert vierzig Jahre früher für das musikalische Lied mit dem Klavier erreicht" (Kertzschmar). Schubert ist der Schöpfer des modernen Liedes, in dem sich die ganze Fülle seines Talentes geoffenbart hat. Von den 603 Liedern sind rund 80 auf Texte von Goethe verfaßt, an denen zwar der Dichter selbst wenig Gefallen fand (er zog Zelter und Reichardt vor), die aber doch in der innigen Vereinigung von Poesie und Musik eine unübertreffliche Gipfelleistung bedeuten. Die Worte, die Wilhelm Müller von Goethe gesagt hat: "Das deutsche Lied fand in ihm seine höchste und feinste Veredelung; durch ihn, den echten deutschen Natursänger, trat das alte Volkslied, geläutert und verklärt durch die Kunst, wieder in das Leben ein", lassen sich in vollstem Umfang auch auf Schubert übertragen. Der Born seiner Melodien versagte nie; selbst da, wo es eine mittelmäßige Dichtung zu vertonen galt, wird sie durch die Musik auf eine höhere Stufe gehoben. Mit sicherstem Instinkt findet er seine Formen, von dem schlichtesten Strophenlied über durchkomponierte Lieder bis zu groß angelegten Gesangszenen beherrscht er alle Ausdrucksmittel. Neben Goethe hat er auch Dichter geringerer Bedeutung, wie Hölty, Matthison u.a. berücksichtigt, besonders tief regten ihn die Dichtungen Wilhelm Müllers an, dem die Texte zu seinen berühmten Zyklen "Die schöne Müllerin" (1823) und "Die Winterreise" (1827) verdankt. In ganz einzigarter Weise versteht es Schubert, die geheimsten Regungen der Natur und des empfindenden Menschenherzen zu belauschen und in Tönen darzustellen. Schubert schuf mit fast unglaublicher Leichtigkeit und Schnelligkeit. Mitten in dem Lärm eines Gasthauses schrieb er manchmal auf einem Stück Papier seine Einfälle nieder. Nie wieder ist die Verschmelzung höchster Kunst und schlichtester Volkstümlichkeit im Liede erreicht worden. Alle späteren Liedkomponisten, die von Schubert ausgehen, haben immer nur eine Seite seines Schaffens weiterentwickelt.

Schuberts, des melodiefrohen österreichischen Sängers, norddeutscher Gegenpol ist Carl Gottfried Loewe (geb. 1796 in Löbejun bei Halle, Musikdirektor in Stettin, gest. 1869 in Kiel), der eigentliche musikalische Schöpfer der Ballade, jener episch-dramatischen Dichtungsart, die, durch Herder angeregt, von Bürger, Goethe, Schiller und Uhlland gerade damals eifrigst gepflegt wurde. Dem im Charakter der Ballade liegenden schroffen Übergängen der Situationen und Stimmungen geht der Komponist mit einfachsten Einfühlungsvermögen nach, wobei er aus einem prägnanten Hauptgedanken immer neue Abwandlungsmöglichkeiten gewinnt und dadurch eine musikalische Einheit erziehlt. Am stärksten und eindringlichsten ist seine Tonsprache, wo sie das Geisterhafte und Schaurige darzustellen unternimmt ("Edward", "Herr Oluf", "Erlkönig). Wie Schubert benutzt er das Klavier zum Ausmalen und Weiterspinnen seiner Gedanken und vielfach hat das Instrument sogar die Hauptaufgabe, während die Singstimme nur frei dazu deklamiert ("Tom der Reimer", "Der Nöck"). Neben seinen von ungeheurer dramatischer Kraft erfüllten Balladenschöpfungen wie beispielsweise "Archibald Douglas" stehen die mit echtem Humor geschriebenen Gesänge, wie "Fridericus rex" und "Prinz Eugen", in dem das bekannte Volkslied genial verwendet wird, die innigen gefühlsschwegenden Lieder wie "Die Uhr" und "Die Mutter an der Wiege" und die neckischen Spuckgeschichten "Kleiner Haushalt", "Heinzelmännchen" und das "Hochzeitslied". Mit diesen Werken, die seine etwas opernhaften Oratorien an Bedeutung weit hinter sich lassen, hat Loewe dem deutschen Volk einen Schatz feinster, erlesener Kunst hinterlassen, der von bleibendem Wert ist.

Zu Schubert und Loewe tritt als Ergänzung mit Robert Schumann (1810-1856) eine ganz anders geartete Persönlichkeit, der unter den Musikern mit Recht den Ehrennamen eines "Poeten" trägt. Neben dem frischen und naiv schaffenden Schubert ist Schumann, der seine Gedichte viel sorgfältiger auswählt und selbst zu Zyklen zusammenstellt, der weichere und zartere, oft allerdings auch süßlichere. Bei ihm wird das Instrument noch liebevoller behandelt, seine Vor-, Zwischen- und Nachspiele atmen starke musikalische Empfindung und geben dem Gesang einen fein abgetönten Hintergrund. Heine, Eichendorff, Kerner, Mörike und Chamisso sind seine Lieblingsdichter, deren Eigenart er jeweils voll gerecht wird. Schwärmerische Stoffe liegen ihm vielleicht am besten, aber er findet auch frische, kecke und humorvolle Töne, nur im Monumentalen, Balladenmäßigen hat er weniger Glück. Schumann ist eine echt romantische Natur, der die beiden Hauptrichtungen seines Wesens selbst als "Florestan" und "Eusebius" symbolisiert hat; jener der stürmische und leidenschaftliche, dieser der sinnige und träumerische.

Die Romantik, die das Lied mit einem Schlag wieder zu ungeahnter Bedeutung gebracht hatte, weckte neben den großen auch eine ganze Reihe kleinerer Liedtalente, von denen namentlch Robert Franz (1815-1892) zu erwähnen ist. An Bach und Händel geschulte Kontrapunktik verbindet er mit einer Melodie, die sich eng an das deutsche Volkslied anschließt. Heine, Geibel, Lenau und Eichendorff sind seine Hauptdichter, deren Texte er mit feinster Einfühlungskraft vertont, wobei er gerade in den kleinsten Formen am glücklichsten ist. Auch Peter Cornelius (1824-1874) und Adolf Jensen (1837-1879), ein Schumannianer reinster Prägung, haben als Liedkomponisten Hervorragendes geleistet.

Bahnbrechend für die Geschichte des Liedes im 19. Jahrhundert aber sind nur noch zwei Männer geworden, zwei gänzlich verschiedene Naturen, die aber doch dem gleichen Ziele, der Schaffung des modernen Liedes zustreben: Johannes Brahms und Hugo Wolf. Von ihnen ist Brahms (1833-1897), der gebürtige Hamburger, der strengere und herbere. Seine Kunst, der er in zäher, nie rastender Arbeit die herrlichsten Früchte abgerungen hat, wurzelt in einem tiefen idealen Glauben an die Ausdruckskraft der Musik, die seine menschlich vornehme und reine Gesinnung wiederspiegelt. Ist auch der Grundzug seines Wesens eine dünstere, knorrige norddeutsche Stimmung, so stehen ihm doch auch Töne von erquickendem Wohllaut, ja von sprudelnder Lebenslust zur Verfügung. Was aber seine Kunst zu so einzigartiger Bedeutung erhebt, ist ihre meisterhafte Faktur, die in gerader Linie an die Polyphonie von Schütz bis Bach anknüpft unter gleichzeitiger Verwendung des Beethoven- und Schumannstils. Trotzdem hat man nicht die Empfindung, dass Brahms nur nach rückwärts schaut. Im Gegenteil: er ist eine so neuartige Erscheinung, dass von ihm stärkste lebendige Wirkung ausgeht. Doch nicht nur eine Fülle der herrlichsten Melodien entströmte diesen grüblerischen-versonnen Meister. Fast noch mehr fesselt seine Harmonik, die sich im Zeitalter einer sich immer feiner und differenzierter verästelnder Chromatik an die kernige Diatonik hält (z.B. unter Anlehnung an Kirchentonartliches) und diese durch planmäßige Verwendung von Nebenharmonien außerordentlich bereichert. Nicht zuletzt ist auch seine Rhythmik von stärkster persönlicher Ausprägung (Synkopen, rhythmische Verschiebungen usw.). Spricht Spitta bei Brahms von "durch eine edle Verschämtheit verschleierten Wärme des Gefühls", so läßt sich auch ein Wort Hebbels auf ihn anwenden: "Nicht sein Herz entblößen, ist die Keuschheit des Mannes." Selten ist, dass uns Brahms sein ganzes Herz enthüllt, er meidet leidenschaftliche Ausbrüche, sondern träumt still versonnen in sich hinein. Dass auch kräftig und urgesund pulsierendes Leben aus seinen Tönen spricht, zeigt das berühmte Lied "Der Schmied". Die Krone seines Liedschaffens aber bilden die "Vier ernsten Gesänge", jene wundervollen Lieder nach selbst zusammengestellten Bibeltexten, die den Schmerz über das verrinnende Leben so ergreifend zum Ausdruck bringen.

Der Vollender des von Schubert und Schumann ausgehenden Liedes ist Hugo Wolf (1860-1903) geworden, ein gottbegnadeter Sänger, der seine ganze Kraft auf ein Gebiet legte. Wolfs Eigenart beruht darin, dass er nicht einzelne Gedichte, sondern ganze Zyklen vertonte, die jeweils meisterhaft einheitlich im Stil und in der Grundstimmung zusammengefast sind. Er begann 1888 mit seinen 53 Liedern nach Eduard Mörike, die er in beispiellos kurzer Zeit zu Papier brachte und damit einem unserer feinsten Lyriker ein bleibendes Denkmal setzte. Nächstdem ging er an die Vertonung Eichendorffs, dessen Romantik er wiederum mit ganz anderen Farben nachzuzeichen verstand. Goethe rief im Winter 1888/89 seine Schaffenslust vom neuem auf, in dreieinhalb Monaten lagen 51 Gedichte vertont vor (besonders genial die Wilhelm-Meister-Lieder). Das folgende Jahr brachte die Gesänge aus dem "Spanischen Liederbuch" nach Geibel, in denen das nationale Kolorit (Bolero-Rhythmen, Mandolinengezirp, Kastagnettenklappen) höchst reizvoll wiedergegeben ist. Endlich 1891-92 das "Italienische Liederbuch" nach P. Heyse, wohl das köstlichste Vermächnis dieses Liedergenius. Diese Textauswahl ist charakteristisch für Wolf, der mit einer Intensität der poetisch-musikalischen Wahrheit gestalten will, die er selbst grausam und unerbittlich nennt. In diesem Streben nach Wahrheit des Ausdrucks steht er Wagner nahe, dessen Errungenschaften: schärfere Deklamation, volle Ausnutzung der Chromatik und Enharmonik in Melodie und Modulation, rhythmische Verschiebungen aller Art, in allen seinen Liedern zu finden sind; und doch knüpft er wieder an Schumann an, mit dem er die sensible Empfindlichkeit für den Duft eines Gedichtes und für Eichendorffsche Waldesromantik gemeinsam hat. Gerade seine Einseitigkeit und Begrenztheit (er schrieb außer Liedern nur wenige Orchesterwerke und dramatische Versuche) ist seine Stärke gewesen, mit erstaunlicher Eindringlichkeit hat er seinen Stoff behandelt in einer neuen Sprache, die oft nicht leicht verständlich ist, da sie nur selten die Gesangsmelodie frei ausströmen läßt, sondern ein Tonbild gibt, in dem das begleitende Klavier über die Singstimme dominiert. In einem Jahrzehnt war seine Kraft aufgezehrt, 1897 brach bei ihm der Verfolgungswahnsinn aus, und nach einem wie bei Schumann mißglückten Selbstmordversuch mußte man ihn in einer Anstalt überweisen, wo er nach unendlichen Leiden 1903 vom Tode erlöst wurde.

Wolf ist die letzte große markante Persönlichkeit auf dem Gebiet des Liedes. Was neben und nach ihm geschaffen worden ist, darf wohl zum Teil auf hohe Beachtung Anspruch erheben, ohne zu einer so umfassenden Bedeutung zu gelangen. Wolfs Nachfolger entwickeln meist nur eine Seite der Liedkunst weiter, spezialisieren also, ohne letzte Lösungen zu geben. Dies gilt auch von dem geachtetsten Liedkomponisten der Gegenwart, von Richard Strauß (geb. 1864), der ein großer Stimmungsmaler ist ("Ach Lieb, ich muß scheiden", "Da meines Herzens Krönelein"), oft aber auch sehr stark nur auf äußeren Effekt ausgeht. Besondere Physiognomie zeigen auch die Lieder Max Regers (1873-1916). Sie sind wegen ihrer teilweise überladenen polyphon-instrumentalen Gestaltung oft nicht recht gesangsmäßig, überraschen aber doch durch die Tiefe ihrer Ausdeutung und ihre eigenartige Tonsprache. Am bekanntesten sind seine volkstümlich gemütvollen "Schlichten Weisen". Auch Hans Pfitzner (geb. 1869) der Schöpfer der "Palestrina"-Oper hat mit seinen echt romantischen Eichendorff-Vertonungen musikalische Kleinodien geschaffen.

Neben diesen Höhepunkten muß man auch viele Niederungen durchwandern, wenn man das moderne Lied erforschen will. Es fehlt nicht etwa nur an schöpferischer Kraft, es mangelt noch mehr an klarer Erkenntnis und Sicherheit des Standpunktes. Das Lied darf nicht zum Experimentieren benutzt werden, wie es leider oft geschehen ist. Als Ausdruck einer umfassenden Volksgemeinschaft muß es in dieser verwurzelt sein. Ganz deutlich ist zu erkennen, wie in der Gegenwart versucht wird, wieder dort anzuknüpfen, von wo das Kunstlied seinen Ausgang genommen hat, bei dem alten, kernigen Volkslied. Vielleicht führt dieser Weg zu einer Wiedergeburt des Liedes überhaupt, die wir nicht nur im Interesse der Musik, sondern auch zum Segen unseres ganzen kulturellen Lebens von Herzen wünschen müssen.

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