Es braucht kaum bemerkt zu werden, dass unter der Menge von Wiegenliedern des Volks neben manchem hübschen Reim auch vieles sinnlose Kindergedahle auftritt, in welchem statt eines vernünftigen Sinnes nur das Behagen am Silbenklang und Reimspiel sich kundgibt. Kein Wunder, dass dergleichen Reimerei sonst nicht aufgeschrieben ward und wir daher aus alter Zeit keine Denkmale davon haben.
Die erste Spur eines deutschen Wiegenliedes aus höfischen Kreisen findet sich bei Gottfried Risen:
Wigen, wagen, gigen, gagen,
Wenne wil ez tagen?
Minne, minne, trute minne,
Swic, ich wil dich wagen (wiegen).
Einer der ältesten überlieferten volkstümlichen Wiegengesäng ist in einem Quodlibet zu Anfang des 16. Jahrhunderts: "Schlaf, Kindlein, schlaf."
Bei den alten Griechen hießen die Wiegenliedchen Baukalemata und es gab sicherlich ihrer viele, wenn auch kein volksmäßiges erhalten blieb. Aber ein prächtiges Beispiel hat uns der um 300 vor Christo lebende Dichter Theokrit in seinem 24. Idyll aufbewahrt. Alkmene wiegt auf dem Schilde ihres Mannes den zehn Monate alten Herkules und seinen Halbbruder Iphikles ein und singt dabei die Worte, welche nach Voß' Übersetzung lauten:
"Schlaft mir, Kinderchen,süß, O schlaft den erquickenden Schlummer,
Trauteste, schlaft, o Seelchen, ihr Zwillinge keck voll Lebens,
Liegt in seliger Ruh und erreicht in Ruhe das Frühlicht, "
Die Kinderwiege erwähnt zuerst Plutarch (Fragmenta in Hesiod. 45).
Die erste Abbildung einer deutschen Wiege findet sich, wie Rochholz behauptet, in der Heidelberger Handschrift des Sachsenspiegels, die um das Jahr 1230 gezeichnet ist. Eine Nachbildung davon liefert Scheible in seiner Sammelschrift "das Kloster" (Bb. 6, Fig. 201). Wir sehen da das Wickelkind bis auf den Kopf in ein Kissen eingeschnürt, während auf einem Holzgestelle, dessen Unterteile (Kufen) zum Hin- und Herbewegen abgerundet und das Ganze völlig nach Art unserer Wiegen beschaffen ist. Wie wenig hat doch die Zeit an solchen einfachen Dingen geändert, die, wenn Bedürfnis geboten, bald in zweckentsprechender, bequemster Form hergestellt waren!
Eine zweite Abbildung einer Wiege finden wir in den Kupfern von Scheibles Buche Fig. 270. Sie gehört zu den Bildern der Handschrift des deutschen Gedichts "Der Ritter von Staufenberg" und stammt aus dem Jahre 1430. Hier zeigt die Wiegenwand bereits Schnürlöcher, und kreuzweise geschnürte Binden, die oben übers Bettchen gehen, schützen das Kind vor dem Herausfallen. Die Abbildung einer Kinderstube in Petrarchä Trostspiegel Bl. 61b - gedruckt ist das Buch zu Frankfurt a/M. 1572, die Abbildungen gehören aber dem Jahre 1520 an. Hinter einem großen Ehebette mit Oberbau (Himmelbett) sitzt im Winkel ein Bube auf einem hölzernen Nachtstühlchen. An ihm vorbei schiebt ein nacktes Kind im Gehkorbe oder Gängelwagen, der unten aus vier Rädern läuft und dessen trichterförmiges Gesflecht dem Kinde bis unter die Achsel reicht. Im Vordergrunde essen zwei Kinder mit kurzgeschnitzten Löffelchen Brei aus einem Pfännlein, das auf einem hölzernen Gestell steht. Ein Knabe auf dem Steckenpferd springt um die verhängte Wiege herum. An ihr sitzt die älteste Tochter mit der Kunkel in der Hand und tritt dabei das Schaukelbrett an der Wiege. Ob sie dazu singt, lässt die Abbildung nur erraten. Sonst aber bleibt's bis heute beim alten Brauch, den Fischart 1577 so hübsch reimt:
Wo Honig ist, da sammeln sich die Fliegen,
Wo Kinder sind, da fingt man um die Wiegen.