Geschichte des Liedes

Das deutsche Volkslied

Verhältnisse des Lebens und der Zeit

Der Umkreis des Volksliedes beschränkt sich nicht aus Liebe und Naturleben, es umfasst alle Verhältnisse des Lebens und der Zeit. Jede Jahreszeit hat ihre besonderen Lieder. Ist der Sommer dahin, dann wird's lebendig in den Spinnstuben des Dorfes, und hinter den Türmen und Mauern der Städte sammelt sich wieder, was die Landstraße bevölkert hatte; Martinifest bringt die angehende Winterlust. Die Martinsgans wird mit Liedern begrüßt; denn "weil sie verraten han St. Martin, den heiligen Mann, so müssen sie mit ihrem Leben den Zehnten geben alle Jahr'. Bei süßem Most und kühlem Wein vertreibt man ihnen das Dadern sein." In den Familien, Herbergen und Klöstern singt man zu der Martinsgans bei Brezeln, Würsten und Flaschen mit iubilemus, cantemus, gaudeamus! - Man rückt an langen Abenden gesellig zusammen und singt Streit- und Wechsellieder, ob der Winter oder der Sommer besser sei. Da streiten sich im Liede sogar der Buchsbaum und der Felbiger um den Vorzug, und der letztere erhält ihn, weil er an einem Brünnlein wächst, an dem zwei so Verliebte trinken. Dann geht es an Rätsellieder, und einer erscheint wohl vermummt als der uralte fahrende Mann Meister Treugemund, der auf alle Fragen eine Antwort weiß. Hat man sich müde gefragt, so kommen Lügenlieder dran von gebratenen Tauben, die in der Luft fliegen, wie der Schiffer über den Berg fuhr, der Krebs den Hasen erlief, die Kuh sich auf den Turm setzte und Amboß und Mühlstein über den Rhein schwammen. Immer lustiger wird es jetzt, und endlich singt man jubelnd allen Unsinn, der sich reimen will. Aber in der Wirtsstube, in der Studentenburse geht es noch anders her, Da heißt's: "Wer hie mit mir will fröhlich sein, das Glas will ich ihm bringen; wer trinken will ein'n guten Wein, der muss auch mit mir singen; trink, mein liebes Brüderlein!" Und dann erschallen zahlreiche Weinlieder und Rundgesänge, und je fleißiger die Sitzung wird, desto eher kommen Trinkturniere und Zechmessen heran. Freilich muss mancher singen: "Wo soll ich mich hinkehren, ich dummes Brüderlein? Wie soll ich mich ernähren, mein Gut ist viel zu klein!" Aber bei ihm würde auch größeres Gut nicht haften; denn, singt er weiter: "Hätt' ich das Kaisertum, dazu den Zoll am Rhein, und wär' Venedig mein, so wär' es all verloren, es müßt' verschlemmet sein." Doch nicht allein für das wilde Gelage und den liederlichen Schlemmer, auch für die reine Freude an der schönen Gottesgabe des Rebensaftes gibt es Lieder. Und dann kommt Fastnacht heran mit Vermummungen, Schönbartspiel und bunter Schellenlust, und auch dafür ist allerlei fröhlicher Sang und Spaß vorhanden.

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