Ortsbestimmungen, wo ein Lied entstand, kommen häufig vor, Namen aber erst in späterer Zeit und vorwiegend bei Zunft- und Handwerksliedern oder Volksballaden, die irgend einen Helden, eine Tat preisen. Das echte Volkslied kennt und braucht keinen Namen, es macht's nicht einer, sondern mehrere, und hat es einer gemacht, so tun viele andere hinzu, und es wird Gemeingut. Frische Gesellen wandern zusammen oder sitzen beim Wein, da überkommt es den einen, zu singen; es ist ein neuer Ton. Sein Nachbar greift ihn auf, fügt eine zweite Strophe hinzu; angeregt und von der Melodie getragen, findet der nächste die dritte, und sofort singen sie, glücklich ihres Fundes, das Lied im Chor.
Eine solche, dem leisesten Anstoß folgende Schaffensfähigkeit war aber nur möglich bei einem Geschlecht von Menschen, das kräftig und gesund, noch unbeirrt von den schwebenden Kulturfragen, zum vollen Gefühl seines Daseins erwachte. Es war gleichsam ein elektrischer Strom poetischer Anregung, der durch das Volk ging und die innere Kraft bei jeder Berührung in vollen Funken hervorspringen ließ. Ein solcher Zustand ist auf eine starke Sinnlichkeit gegründet, das kräftige Leben wollte kräftigen Genuss, daher musste die Anschauung, die Bildersprache, jeder Ausdruck im Volksliede sinnlich werden.
Sprungweise, rasch, oft unvermittelt, der plötzlichen Anregung folgend, setzen sich die Teile eines Liedes zusammen wie Kristalle, die plötzlich aneinanderschießen. Wenig Rücksicht wird auf die Form genommen. Wie wäre bei der Entstehungsart dieser Lieder die Muße zu einer sorgfältigen Ausführung dagewesen! Der Hauptton liegt stets auf der Empfindung, für die das bezeichnende Wort mit überraschender Wirkung gefunden wird. Und mit dem Worte die Melodie. Mochte doch die Form in ihren Teilen unvermittelt sein, die Melodie, ohne welche das Volkslied nicht zu denken ist, verband und vermittelte den springenden Gang der Darstellung. Es gibt keine innigere Verschmelzung von Wort und Weise als im Volksliede, und diese ist eben nur aus dem gemeinsamen Ursprünge zu erklären. Das Volkslied will gesungen sein, und die es entstehen sahen, dachten nicht daran, es aufzuschreiben. Auf dem Papier, gelesen und ohne Melodie, entbehrt es der Hälfte seines Wesens wie eine Blume, die man mit farblosem Griffel nachgezeichnet hat.
Wie die Empfindung im Volksliede plötzlich und unerwartet hervorbricht, so auch wird die Örtlichkeit mit einem Schlage hingeworfen: ein Wirtshaus, eine Linde im Tal, eine verborgene Mühle, so dass man die Handlung zugleich mit einem landschaftlichen Hintergrund erblickt. Das unbefangene Naturleben brauchte nicht nach dem Bilde zu suchen, es nahm seine Anschauungen aus der Wirklichkeit und ließ sie auf dem Strome des Gefühls widerspiegeln. Und die Wirklichkeit, das eigene Erlebnis, das Leben mit seinen Freuden und Leiden ist es, was, verklärt von der Innigkeit des Gemütes, durch das Volkslied geht. Ohne Vorbereitung versetzt es sich mit sinnlicher Anschaulichkeit mitten in die Lage, geht rasch auf die entsprechende über und weiß, halb andeutend und verschleiernd, eine Stimmung hervorzurufen, die unwiderstehlich fesselt. Das Menschliche, Ursprüngliche, Natürliche und Naturgemäße ist überall; auch das Poetische, und so gehört das Volkslied bei der treffenden Wahrheit seines Ausdruckes zu dem Schönsten und Bewunderungswürdigsten, was deutsche Dichtung hervorgebracht hat.