Wenn ich ein Vöglein wär

Liebeslied aus dem 18. Jahrhundert

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Musiknoten zum Lied - Wenn ich ein Vöglein wär

Wenn ich ein Vöglein wär
und auch zwei Flügel hätt,
flög ich zu dir.
Weils aber nicht kann,
bleib ich all hier.

Bin ich gleich weit von dir,
bin ich doch im Traum bei dir
und red mit dir;
wenn ich erwachen tu,
bin ich allein.

Es vergeht kein' Stund in der Nacht,
da nicht mein Herz erwacht
und an dich denkt,
dass du mir viel tausendmal,
dein Herz geschenkt.

Das sehnsuchtsvolle Liebeslied Wenn ich ein Vöglein wär stammt aus der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Erstmals gedruckt wurde der Text 1778 in Herders Volkslieder und 1806 im »Wunderhorn«. Im Jahr 1987 entdeckte man im Freiburger Volksliederarchiv ein noch älteres Flugblatt mit dem Vermerk »im 1756sten Jahr gedruckt«, dessen erste Strophe mit der unseres Lieds übereinstimmt. Die Melodie komponierte Johann Friedrich Reichhardt (1752-1814). Erstmals gedruckt wurde sie 1800 als Teil des Singspiels »Liebe und Treue«.

Schon sehr früh fand das Lied berühmte Anhänger. So kommentierte Goethe das Lied mit »Einzig schön und wahr« und Heinrich Heine schwärmte »Aller Mondschein, die Hülle und Fülle, und die ganze Seele übergießend steht in dem Liede« (vgl. Mang (Liederquell, Dörfler Verlag, 2015, ISBN 978-3-89555-679-1, S. 352).

Auch wenn das Flugblatt von 1756 als ältester Beleg gilt, darf vermutet werden, dass die Ausgangsversion schon lange vor dieser Zeit entstanden ist und im Laufe der Zeit lediglich sprachlich angepasst und weiterentwickelt wurde. Einen ersten sprachlichen Höhepunkt erreichte der Text mit der von Herder 1778 in drei Strophen gedruckten und stark überarbeiteten Fassung, die noch heute gesungen wird.

Das romantisch sentimentale Thema des Lieds ist zeitlos: Das lyrische Ich des Liedes vermisst eine geliebte Person. Die Sehnsucht brennt so heiß, dass das lyrische Ich sofort zu dieser Person fliegen würde, wenn sie »ein Vöglein wär und auch zwei Flügel hätt«. Doch so bleibt nur die Sehnsucht, das Verlangen und der Traum, bei der geliebten Person zu sein. Im Traum können sie zusammen sein. Doch es ist nur ein Traum, der mit dem Erwachen zerplatzt. Und dennoch brennt die Sehnsucht jede Nacht und der Schmerz wird tief im Herzen gefühlt.

Dieses Gefühl der Sehnsucht haben wir wohl alle schon einmal empfunden, es ist uns oft nur zu schmerzlich bekannt, so dass wir die Sehnsucht und das Verzehren nach der geliebten Person sofort mitempfinden können. Der Text ergreift unser Herz und weckt unsere ureigenen Sehnsüchte. Wir können uns sofort in die von der sentimentalen Melodie untermalten Stimmung des Lieds hineinversetzen und verstehen, wie es ist, sich nach einem geliebten Menschen zu sehnen, aber ihm nicht nahe sein zu können.

Tom Borg, 8. März 2024

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