Volksweise

Vom Volkslied zum Kunstlied

Was den Menschen an Freud und Leid, Lust und Unlust erfüllte und sein Gemüt stimmte, drängte nach Ausdruck und wurde durch die formende Phantasie zum Gebilde in Tönen. Dieser Drang nach Ausdruck erschloss die erste und tiefste Quelle der Musik. In gleichem Sinne äußert sich Friedrich Vischer , wenn er in seiner Aesthetik sagt: "Das Gefühl ist Urheber der Musik; es kann mit seiner Art von Sprache sagen, was durch kein anderes Organ hinreichend gesagt werden kann. Kein Bild, kein Wort kann dies Eigenste und Innerste des Herzens aussprechen, wie die Musik; ihre Innigkeit ist unvergleichlich, ist unersetzlich." Und ferner: "Was das Gefühl, sein innerstes Leben, sei, erfahren wir nur durch diejenige Kunstform, die es sich selbst durch die Bildungskraft der Phantasie, in der Musik gibt: nur sie belehrt uns über das Gefühl." Damit definiert sich das Wesen der Inhaltsmusik, die Ausdruck des Seelenlebens in ästhetisch geformter Tonsprache ist.

Aber nicht alle Musik ist lauter Gefühlsgehalt; die Phantasie kann auch ohne die Mitwirkung des Gefühls schaffen, indem sie mit dem musikalischen Material, das in der Harmonie und in den aus ihr zu gewinnenden melodischen und sonstigen Formen ein geist- und kunstreich kombiniertes oder auch nur sinnlich ergötzendes Tonspiel ausführt.

Jene erstere inhaltsvolle Musik kann sich jedoch mit dem sinnlichen Tonspiel verbinden, ja innig durchdringen, indem dieses beispielsweise die eigentlichen wesenhaften oder "gedanklichen" Motive um¬spielt und so denselben eine schmückende Umgebung verleiht. An dieser Stelle entsteht das künstlerische Lied, das dem Begriff "Kunstlied" mehr gerecht wird. Was der durch die Schule der musikalischen Bildung und folglich durch die Reflexion gegangene Geist des Musikers schafft, ist Kunst-Musik, im Gegensatz zu der aus dem "naiven" Geiste des singenden und spielenden Volks entspringenden Volksmusik.

Doch wie bei der menschlichen Sprache gibt es auch beim Lied keine exakte Grenze zwischen Volks- und Kunstlied. Auch wenn ein Kind seine Muttersprache ohne Sprachlehre nur vom Hören sprechen lernen kann, so ist es doch später eine andere, höhere Sprache, die es nach dem Gange durch die bildende Grammatik und praktische Übung gewinnt. Aber diese "gebildete" Sprache wird ihm mit der Zeit eine ebenso natürliche, wie früher die naiv hingesprochene; die gebildete Sprache ist ihm dann wieder Natur geworden , eine zweite, weil durch den Geist wiedergeborene höhere Natursprache. So ist es auch mit der Natur- und Kunst-Musik. Der schaffende Künstler ist ein solcher erst dann , wenn er seine Musik aus einer höheren "Natur" herausspricht, die aus einer neu gewonnenen Naivität hervorgehen muss, welche die auf dem Wege des denkenden Arbeitens gewonnene Bildung zur Voraussetzung hat.

War's beim Volksmenschen nur das musikalisch-kindliche von Nichts wissende Gefühl, das seine Melodien unmittelbar aus der Stimmung heraus sang, so fügt sich's beim Musiker, dass er seine Musik zugleich denkt und fühlt; im Sinne der geforderten "neuen Natur" aber soll in der Wirkung seiner Musik die Gedankenarbeit nicht bemerkbar werden: die Reflexion der Form soll überwunden und das Kunstwerk als ein organisches, der geistigen Eingebung entsprossenes ideales Natur werk erscheinen.

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