Volksweise

Unbändiger Volksgesang

Obwohl die Kirche im frühen Mittelalter die gesamte Musikpflege an sich gerissen und in strenge dogmatische Formen gebracht hatte, ließ sich die natürliche, rein menschliche Sangeslust der Menge dadurch nicht unterdrücken. Lebte doch schon von alters her im Volke das Bedürfnis, seinen Gefühlen im Gesänge Luft zu machen, und das Heidentum hatte ihm hierzu stets Gelegenheit geboten. Alle heidnischen Feste waren von Gesang" begleitet, der allerdings vorwiegend einem wüsten Geheul geglichen haben mag. Indem die christliche Kirche dem Volksgesang ebenfalls eine wichtige Rolle im Gottesdienste einräumte und ihn durch ihre veredelnde Macht auf eine höhere Stufe hob, gewann sie immer mehr Anhänger.

Der sangliche Wohlklang der frühesten geistlichen Kirchenlieder übte einen mächtigen Zauber auf die bekehrten Heiden aus und trug nicht wenig dazu bei, ihnen die neue Religion lieb zu machen. Daneben erhielten sich aber auch noch die altheidnischen Gebräuche und Gesänge im Volke aufrecht, und die Kirche begann mit der Zeit gegen diese "lästerlichen" Gewohnheiten zu eifern. Schon im 6. und 7. Jahrhundert wurde das Singen und Tanzen bei kirchlichen Festen verboten, und das ganze Mittelalter hindurch führte die Kirche einen Vernichtungskampf gegen das weltliche Lied. So verordnete der Abt Priminius: "Das Tanzen und Springen, die schändlichen und üppigen Lieder sollt ihr fliehen, wie die Pfeile des Teufels, weder an den Kirchen noch in den Häusern, noch auf den Straßen und Kreuzwegen, oder sonst wo sollt ihr sie üben, denn das ist ein Rest heidnischer Sitte."

Das Volk ließ sich aber durch diese strengen Vorschriften nicht beirren, im Gegenteil, es sang unbehindert weiter, sang die in der Kirche gelernten Lieder auch daheim bei allen möglichen Gelegenheiten und gestaltete sie mit der Zeit auf seine Weise zu Volksliedern um. Den Formen des Kirchenliedes und später jenen des Minneliedes bildete das Volk seine eigenen Melodien nach, dieselben jedoch mit naiver Lebenslust und warmem Empfinden erfüllend. Anderseits schöpfte die kirchliche Musik aus dieser Quelle ursprünglichster und frischester Melodik immer wieder neues Leben, wenn sie in Gelehrsamkeit und Formenwesen zu ersticken drohte. Das ganze Mittelalter hindurch stehen Volks- und Kirchengesang in innigster Wechselbeziehung zueinander, Kirchenmelodien wurden zu Volksgesängen und umgekehrt.

Der Volksgesang ist der individuellste und spontanste Ausdruck des Gefühls, er kennt keine Gesetze der Melodiebildung und Rhythmik, und doch lehnt er sich unbewusst an die herrschenden Formen an.

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