Volksweise

Kraft der Empfindung

Das Volkslied in Europa verdankt seine Entstehung durchaus der Kirche; unter dem Einfluss des Geistes der Kirche erblühte eine ganz neue Tonkunst. Dennoch kannten alle Völker, die davon beeinflusst wurden, schon lange vorher eine eigene Volksmusik. Diese hatte jedoch nicht den Grad der Vollkommenheit erreicht. Vielmehr imponierte der Ton in seiner rohen Naturgewalt.

Die Kirche erkannte jedoch früh die Kraft des Gesangs und machte sich diese zueigen, indem geistliche Musik geschaffen und in die Gottesdienste integriert wurde. Im Namen und zum Lobe der Kirche entstanden immer neuere und immer kunstvollere Gesänge, die eine neue, bis dahin nicht gekannte Form der Tonkunst entwickelten.

Erst lange nachdem das Christentum feste Wurzeln gefasst hatte, gelangte beispielsweise das deutsche Volk zu einem selbständigen Volksgesange und einer ihm entsprechenden Volksmusik. Unter der Einwirkung und nach Anleitung des gregorianischen Gesanges entwickelte sich außerhalb der Kirche und mehr aus dem ursprünglichen Volksgesange heraus ein profaner Gesang.

Zwar versuchte die Kirche, den Entwicklung Einhalt zu gebieten, doch die Bewegung ließ sich nicht mehr hemmen, und als endlich der lang vorbereitete große geistige Kampf mit der römischen Hierarchie, den das sechzehnte Jahrhundert so siegreich zu Ende führte, zu offenem Ausbruch kam, da brach auch als eine der bedeutendsten Streitmächte das deutsche Lied in tausend Stimmen und Zungen hervor. Nicht mehr die Meister oder "vahrende Leut", sondern jeder Stand hatte nun sein Lied , das begeistert austönte, was in ihm lebt, was er empfindet.

An diesem großen Kampfe für die heiligsten Interessen der Menschheit ist jeder Einzelne gleich stark beteiligt, und jeder wird zur Einkehr in sein Inneres gedrängt; es beginnt das Subjekt sich herauszukehren, und das Volkslied, das früher vorherrschend episch war, wird jetzt vorherrschend lyrisch. Was der Einzelne empfindet, strömt aus im Moment des Entstehens. Die Wonnen des Maien, der Liebe Lust und Leid oder die Freuden des Weins finden unmittelbaren Ausdruck im Volksliede. Es entstehen neben den Liebesliedern Trink- und Tanzlieder, Wander- und Kinderlieder zahlreiche Reiter-, Studenten- und Jägerlieder.

Die meisten dieser Lieder wurden von ganzen Gesellschaften verfasst; und wurde ein Lied auch von einem gesungen, "der auch dabei gewesen", so war es doch längst vom Volke empfangen, und dies wartete gewißermaßen nur auf den Ausdruck, und blitzschnell verbreitete es sich dann von Dorf zu Dorf, von Stadt zu Stadt, von einer Region zur andern.

Diesen glänzenden Erfolg aber verdankt das Volkslied nur der geschlossenen knappen Form. Doch woher kommt diese? Die Antwort ist leicht gefunden. Das Volk überlässt sich ohne alle Reflexion seinem Gefühlsdrang, und die ursprüngliche Kraft seiner Empfindung beherrscht die Darstellung so vollständig, dass sie unbewusst genau den einzelnen Strömungen des Gemüts folgt, und überall da sich hebt oder senkt, wo die Wellen und Wogen des Gemüts sich heben oder senken. Jeder einzelne Ton des Volksliedes ist unmittelbares Ergebnis innerer Bewegung, und der gesamte Gang der Melodie bezeichnet ganz genau den Verlauf der Stimmung, der es seine Entstehung verdankt. Und das ist's, was der Melodie des Volksliedes die ungeheure Bedeutung gibt.

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