Volkslied

Kirchliches Volkslied

So wie im 15. und 16. Jahrhundert der Kirchengesang der evangelischen Gemeinden die alten Kirchenlieder volksmäßig umgestaltete, so ist es auch ganz natürlich, dass er die Volksweise selbst mit aufnahm, indem er ihr das ursprünglich Weltliche abstreift. Wie das menschliche Empfinden durch die Nähe des Göttlichen gehalten und gebunden wird, so streift dem entsprechend die Kirche dem Volksliede seine reizvollem Elemente der Wirkung ab. Überall, wo also der Ursprung der Kirchenweise nicht aus dem alten Kultgesang nachzuweisen ist, oder wo wir sie nicht als eine neugeschaffene bezeichnen können, werden wir dieselbe unbedenklich als eine aus dem Volksgesang entlehnte Weise betrachten müssen. Namentlich dürfte dies ganz sicher für jene Melodien gelten, welche auf verschiedene Texte übertragen waren. Von einigen solchen Übertragungen gibt Martin Luther Kunde in "Die evangelische Mess, teutsch. Auch dabey das Handbüchleyn geistlicher Gesänge, als Psalmenlieder und Lobgesänge, so am Sonntag oder Feyertag im Ampt der Mess, dessgleichen vor und nach der Predigt in der christlichen Versammlung im neuen Spital zu Nürnberg gesungen werden." Er nennt in diesem Büchlein Volksliederweisen wie: "Wach auf, mein's Herzens Schöne", "Rosina, wo war dein Gestalt", "Es geht ein frischer Sommer daher", nach denen geistliche Lieder gesungen wurden.

Das, was der Volksgesang zunächst dem Kirchengesange im Choral schon zuführte, ist eine ungleich größere Mannigfaltigkeit des rhythmischen Baues der Strophe. Der Volksgesang hat nicht nur eine große Mannigfaltigkeit in den Metra der Zeilen, sondern auch in deren Zusammensetzung zu strophischen Versgefügen.

Nach Art der damaligen Empfindungsweise, die sich an gewissen Worten festhält, werden auch hier einzelne besonders hervorgehoben, so das erste Wort und als Reminiszenz an die Kirche die vorletzten Silben der bemerkenswerten Schlussreime. Insbesondere diese Stellen lassen auf das hohe Alter dieser Melodien schließen. In jener Zeit der Erfindung der Sequenzenmelodien bedarf das Volksempfinden noch der Melismatik; später beginnt sie immer mehr einer toneisern Gestaltung zu weichen.

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