Singe, wem Gesang gegeben

Singe, wem Gesang gegeben ist ein Gedicht von Ludwig Uhland

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Musiknoten zum Lied - Singe, wem Gesang gegeben

Singe, wem Gesang gegeben,
in dem deutschen Dichterwald!
Das ist Freude, das ist Leben,
wenn's von allen Zweigen schallt.
Nicht an wenig stolze Namen
ist die Liederkunst gebannt:
ausgestreuet ist der Samen
über alles deutsche Land.

Deines vollen Herzens Triebe,
gib sie keck im Klange frei!
Säuselnd wandle deine Liebe,
donnernd uns dein Zorn vorbei!
Singst du nicht dein ganzes Leben,
sing' doch in der Jugend Drang!
Nur im Blütenmond erheben
Nachtigallen ihren Sang.

Kann man's nicht in Bücher binden,
was die Stunden dir verleihn,
Gieb ein fliegend Blatt den Winden!
Muntre Jugend hascht es ein.
Fahret wohl, geheime Kunden
Nekromantik, Alchymie.
Formel hält uns nicht gebunden
Unsre Kunst heißt Poesie.

Heilig achten wir die Geister,
aber Namen sind uns Dunst,
würdig ehren wir die Meister,
aber frei ist uns die Kunst.
Nicht in kalten Marmorsteinen,
nicht in Tempeln dumpf und tot:
In den frischen Eichenhainen
webt und rauscht der deutsche Gott.

Die längst sprichwörtlich gewordene Redewendung »Singe, wem Gesang gegeben« hat mit Musik und Singen herzlich wenig gemein. Was nun aber kein Grund ist, es nicht doch bei Darbietungen aller Art hervorzukramen um damit talentfreie Stümper höflich abzukanzeln oder umgekehrt, um zurückhaltende Zeitgenossen zu motivieren, ihr Können zu zeigen. Beides trifft aber nicht die Intention des Schöpfers dieser Zeile.

Ludwig Uhland, schwäbischer Dichter der Romantik, formulierte diese Worte als Anfangszeile seines Gedichts »Freie Kunst«, welches er unter dem 24. Mai 1812 in sein Tagebuch aufnahm. Eine Veröffentlichung erfolgte später in der Zeitschrift »Deutscher Dichterwald«.

Uhland, ein Kind der literarischen Romantik und dem politischen Nationalismus, hatte ganz anderes im Sinn als Musik. Die damalige Zeit war geprägt von einer Stimmung des Umbruchs und der Erneuerung. Denn der Beginn des 19. Jahrhunderts war die Zeit der Nachwirkungen der Französischen Revolution und der Auflösung des »Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation«. Gleichzeitig herrschte eine breite Aufbruchsstimmung, denn die Industrialisierung nahm Fahrt auf und die verkrusteten Gesellschaftsstrukturen begannen, sich zu wandeln.

Mit seinem Gedicht wendet sich Uhland an den »deutschen Dichterwald«, wie es im zweiten Vers heißt. Es geht nicht um Musik, sondern um Poesie. Früher war es üblicher Sprachbrauch etwas zu besingen, wenn man mit poetischen Worten etwas lobte, liebte oder bewunderte. Uhland will sie erwecken, all die unbekannten, überhörten Poeten. Sie sollen sich bemerkbar machen und eine neue Poesie schaffen. Uhland war der Meinung: »Nicht an wenig stolze Namen ist die Liederkunst gebannt«. Gemeint sind vermutlich Goethe und Schiller deren Leistung Uhland nicht in Frage stellt, sondern als Vorbild begreift (»ausgestreuet ist der Samen über alles deutsche Land«).

Die Formulierung »alles deutsche Land« kann man politisch auffassen, denn Deutschland war damals in Hunderte Fürstentümer zerstückelt. Nur die Kultur einte »alles deutsche Land«. Und darum beschwört Uhland den Drang der Jugend: »Unsre Kunst heißt Poesie«, sie kann ein Volk einen. Darum: Singe, wem Gesang gegeben!

Tom Borg, 22. November 2023

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