Geschichte des Liedes

Das deutsche Volkslied

Entstehung des Volksliedes

Mit wie großem Anteil man die geistige Bewegung und das Wirken der bedeutendsten Männer der deutschen Reformationszeit verfolgen mag, immer wird darauf zurückzukommen sein, dass die Poesie darin keine - höchstens eine nebensächliche - Rolle spielte und von der Wucht der Tagesforderungen erdrückt wurde. Der Meistergesang stellte sich mit seinem beschränkten Gesichtskreis auf ein Sondergebiet, der poetischen Entwicklung unzugänglich; eins aber hatte er mit der allgemeinen Richtung gemein, den didaktischen Zweck. Die ganze Literatur, wie vielfach immer um die Bildung des Volkes bemüht, lag unter dem prosaischen Joche der Lehrhaftigkeit. Sie sprach zum Verstande, ließ aber das Gemüt leer ausgehen; sie regte das freie Denken an, gab aber der Phantasie keine Nahrung.

Und dennoch tut sich eine Oase der Dichtung auf, wo die unverfälschte Natur heimisch ist und das innerste Leben der Menschenbrust sich in ganzer Ursprünglichkeit aufschließt. Es ist eins der schönsten und fruchtbarsten Gebiete der deutschen Poesie, das des Volksliedes. Hatte schon in der Blütezeit des 13. Jahrhunderts der Volksgesang in den Nibelungen selbst den glänzendsten Erzeugnissen der höfischen Kunst den Rang abgelaufen, so tritt jetzt nach Jahrhunderten in anderem Sinne und in anderer Form der gleiche Fall ein. Die unverwüstliche Kraft des Volkes zeigt sich von neuem erstarkt, das Selbstbewusstsein eigenen Lebens findet im Liede einen Ausdruck für die gereifte Empfindung.

Es war nicht ein besonderer Stand, dessen Wesen sich im Volkslied aussprach. Anzunehmen ist, dass alle Stände sich daran beteiligten, wenngleich es in den tieferen Schichten der Gesellschaft sich vorwiegend reich entfaltete. Wer auch immer ein Lied zuerst gesungen haben mochte, es ward zum Volksliede, wenn es den Ton rein menschlicher, allgemein verständlicher Empfindung traf. Der Name des Dichters wurde kaum genannt oder vergessen, sein Lied aber, wenn es auch nur einen ergriff, ward weitergetragen, um bald von Tausenden gesungen und durch ganz Deutschland verbreitet zu werden.

Für eine schnelle Verbreitung war der Wandertrieb der frühen Zeit ungewöhnlich günstig, ja noch förderlicher, als es durch den Bücherdruck möglich gewesen wäre; der Verkehr auf der freien Landstraße führte zu raschem Austausch von Liedern, die dann durch mündliche Überlieferung umso lebendiger ansprachen, als sie, vom Ausdruck lebendiger Empfindung beseelt, mitgeteilt wurden. Die Landstraße war ein Schauplatz, wo alle Stände sich kreuzten, ungleich reicher an buntem Wechsel, anregenden Beziehungen und Bedürfnis des Anschlusses als heutzutage, wo die beschleunigenden Verkehrsmittel und die Ausgleichung der Bildungs- und Lebensformen Anziehung und Anregung so gut wie aufgehoben und das Reiseleben verarmt haben. Man reiste nicht, um nur anzukommen, sondern man war gründlich unterwegs, mit aller Lust, aber auch mit aller Not und Gefahr, deren gemeinsames Überstehen die Menschen enger zueinander führte. Auf der Landstraße spiegelte sich das Leben der Zeit, und ihre Hauptgestalten wurden zu den immer wiederkehrenden Lieblingsfiguren des Volksliedes. Da liegt am breiten Heerweg das Wirtshaus, wo alle sich zusammenfinden. Hier kehrt der Kaufmann ein, froh, wenn er seine Habe vor den Schnapphähnen, die vom Sattel leben, glücklich geborgen hat; der Fuhrmann, der daheim ist auf der Straße und beim langsamen Schritt seiner Saumrosse Zeit hat, zu plaudern und Bekanntschaft zu machen. Hier kehren frische Reitersjungen ein; rohe Landsknechte schauen lüstern auf den gefüllten Säckel der Gäste; der Jäger kommt dazu, der Handwerksbursch, der Student und fahrende Schüler. Der Mönch lauscht verstohlen den Erzählungen und Liedern der andern, rückt näher und nimmt ein Glas; denn er ist auch ein Mensch. Der Wirt, eine der wichtigsten Figuren, der vergnügt und dienstfertig ist, solange die Batzen im Sacke seiner Gäste klingen; die schmucke, gutmütige Wirtin, die schon manchem durchgeholfen hat, und ihr Töchterlein, das den jungen Gesellen die Herzen stiehlt.

In diesem Kreise entsteht das Volkslied, wird es gesungen, und jeder zieht reicher fort, als er gekommen. So hört man dasselbe Lied im Süden wie im Norden, wohl etwas verändert, erweitert oder verkürzt, aber im wesentlichen dasselbe. Nicht als ob gar nicht nach dem Verfasser gefragt worden wäre. In der Schlußstrophe heißt es wohl: Und wer hat denn das Lied gemacht? Aber nur selten wird ein Name genannt, gewöhnlich ist die Antwort: Ein freier Knab', ein freier Reiter, ein feiner Student, oder zween Kammerjungen, zween Landsknecht, ein alter und ein junger u. s. w. Zuweilen wird die Stunde und Umgebung verewigt, in der das Lied entstand, so zum Beispiel: "Das haben getan zween Hauer zu Freiburg in der Stadt, sie haben so wohl gesungen bei Met und kühlem Wein, darbei da ist gesessen der Wirtin Töchterlein". Oder der Dichter gibt auch wohl ohne seinen Namen eine Notiz aus seinem Leben: "Der uns dies neue Liedlein sang, er hat's gar wohl gesungen, er ist dreimal in Frankreich geweft, ist allzeit wiederkommen". Nicht selten lässt er auch seine eigene innerste Beteiligung am Schlüsse durchklingen: "Der uns dies neue Lied erstmals sang, er hat's gar wohl gesungen, er hat's den Mägdlein auf der Lauten gespielt, die Saiten sind ihm zersprungen".

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